Mein Vorsatz fürs neue Jahr und den zweiten Lockdown: Alle Schubert-Lieder hören und ein Ranking erstellen. (Ich bin noch nicht durch, aber ich habe etwas Ähnliches schon mit allen Scarlatti-Sonaten gemacht.)Da meine Höreindrücke oft sehr subjektiv – um nicht zu sagen: schlichtweg falsch – sind, habe ich mir vorgenommen, mir auch darüber hinaus einen besseren Überblick zu verschaffen über das Oeuvre, das um die 700 Lieder umfasst, je nachdem, ob man bestimmte Teile und Fragmente mitzählt.Es gibt wahrscheinlich niemanden, der diese Lieder besser kennt als Graham Johnson. Er wurde 1950 in Simbabwe (damals noch Südrhodesien) geboren, zog als Teenager nach London und studierte Klavier an der Royal Academy of Music. Im Alter von 35 Jahren begann er mit der Gesamteinspielung aller Lieder, die Schubert je komponiert hat. Das Projekt, in dem er das Who‘s who der Liedsänger:innen begleitete, organisierte er selbst. 1987 erschien die erste CD; 2005 die letzte. 2014 brachte Johnson einen Begleitband heraus, mit musikhistorischen Hintergründen, Übersetzungen und Analysen. Und er ist noch nicht fertig mit Schubert. Im Dezember durfte ich, ein Gesamtwerk-Amateur, am Telefon mit dem Profi sprechen.

VAN: Haben Sie sich Ihre Schubertlieder-Gesamteinspielung eigentlich nochmal angehört nach der Aufnahme?
Graham Johnson: Nein, habe ich nicht. Jede Einspielung ist nur eine Momentaufnahme von dir mit diesem Lied. Keine Interpretation ist in irgendeiner Form endgültig. Ich beschäftige mich mein Leben lang mit Schubert-Liedern. Die Aufnahme zeigt nur eine Phase – eine, die zufällig festgehalten wurde.
Ich wünschte, ich könnte so eine Gesamtaufnahme heute nochmal machen. Ich hätte ziemlich viele neue Ideen. Man lernt einfach immer dazu in der Auseinandersetzung mit diesen Liedern. Das ist wahrscheinlich ein bisschen wie bei dem Regisseur, der mit 25 Jahren King Lear macht und dann noch einmal mit 50. Der hält ja auch nicht unbedingt an seiner Lesart von vor 25 Jahren fest.
Was genau würden Sie anders machen bei Ihrer heutigen Gesamteinspielung?
Obwohl das natürlich abhängig ist von den Sänger:innen, mit denen ich zusammenarbeiten könnte: Ich würde versuchen, mehr Lieder in den Originaltonarten zu spielen. Bei den Schubert-Liedern ist das immer so eine Sache, weil die meisten in einer höheren Tonlage verfasst sind, aber oft von Baritons gesungen werden. Und wenn die Lieder nie transponiert worden wären, hätte auch Fischer-Dieskau seine Gesamteinspielung nicht machen können.
In meinen Part würde einfließen, was ich mittlerweile gelernt habe über Schuberts Art, in seinen Partituren Hinweise für die Ausführung zu geben. Das durchdringe ich mehr und mehr. Man wird immer vertrauter mit der Zeichensprache eines Komponisten. Wie er das Tempo notiert. Den Unterschied zwischen alla breve und zwei Schlägen im Takt oder vier; den Unterschied zwischen geschwind und schnell und mässig langsam und ziemlich langsam, all diese sehr genauen Tempoangaben von Schubert.
Wahrscheinlich wäre es bei mir so ähnlich wie bei einem Dirigenten, der eine Brahms-Symphonie beim ersten Mal ziemlich stürmisch angeht und ihr dann einige Jahre später mehr Raum gibt, die Partitur mehr mit philosophischem Blick liest, eher reflektiert als mit Enthusiasmus und jugendlichem Elan.
Als ich den ersten Teil der Lieder eingespielt habe mit Dame Janet Baker, war ich allerdings nicht für die Wahl der Tempi verantwortlich. [lacht]
In früheren Interviews haben Sie erwähnt, dass junge Musiker:innen bestimmte Erfahrungen gemacht haben müssen, bevor sie überhaupt anfangen können, Schubert zu verstehen. Welche Erfahrungen meinten Sie da? Mal unglücklich verliebt gewesen zu sein gehört wahrscheinlich dazu.
Feinheiten und Tiefe in der Performance entstehen durch das, was wir sind und erleben. Es ist aber ein Trugschluss, dass man bestimmte Texte über unglückliche Liebe besser interpretieren kann, weil man selbst mal unglücklich verliebt war. Als Schauspieler:in muss man ja auch die Fähigkeit haben, darzustellen, was immer die Rolle von einem verlangt. Ich glaube, dass man, wenn man sowas durchgestanden und diesen Schmerz erlebt hat, als Person vielleicht mehr Tiefe hat, aber ich glaube nicht, dass talentierte Sänger irgendwas signifikant besser singen, nur weil es ihre Innenleben spiegelt oder sie etwas Ähnliches schon erlebt haben.
Es kommt einfach darauf an, wie gut man als Sänger ist, wie gut man das passaggio und mezza voce-Passagen im Griff hat, wie gut die deutsche Aussprache ist und eine ganze Palette anderer Fähigkeiten und Fertigkeiten hat, die nichts damit zu tun haben, ob man mal unglücklich verliebt war oder sich ähnlich gefühlt hat wie der Protagonist in einem Liederzyklus.
In der Musikwissenschaft wird Schuberts sexuelle Orientierung noch immer diskutiert. Seine Lieder wirken da wie eine gute Quellensammlung, mit ziemlich vielen Hinweisen zu dem Thema.
Als Maynard Solomon in seinem Artikel ›Franz Schubert and the Peacocks of Benvenuto Cellini‹ die Vermutung äußerte, dass Schubert schwul war, rief das ein ziemlich höhnisches und aggressives Echo hervor, besonders von Rita Steblin, die sich nach eigener Aussage dafür einsetzte, dass Schubert von der ›Verleumdung‹, homosexuell zu sein, reingewaschen werde.
Solomon hat aber nur ausgesprochen, was viele schon seit Jahren gesagt haben. In den 1970ern habe ich mich zum Beispiel mal mit Walter Legge, dem Ehemann von Elisabeth Schwarzkopf, unterhalten, der in den 1930ern in Wien zum Leben Hugo Wolfs geforscht hat. Er hat damals auch mit einigen Bekannten Wolfs, die noch gelebt haben, gesprochen. Er erzählte mir, dass diese Überzeugung, dass Schubert schwul war, schon seit Jahren existierte. Das war so eine Sache, über die nie öffentlich gesprochen wurde, und die man geleugnet hat, wenn sie jemand aufgeschrieben hat, aber dieses Gerücht ging um unter Leuten, die es wiederum in den 1880ern oder 1890ern gehört hatten.
Schubert hat etwas Besonderes: Die Leute lieben ihn auf eine ganz bestimmte Art. Sie würden nicht so sein wollen wie Beethoven oder Mozart, weil diese Ikonen so weit über uns stehen, aber sie fühlen sich wohl mit diesem Bild von Schubert als jemandem, der ihnen ähnelt, der es sich gerne gemütlich gemacht und einen getrunken hat, vielleicht etwas übergewichtig war, der gerne in die Kneipe gegangen ist. Und das geht über die sexuelle Orientierung hinaus, man fühlt sich ihm nah und legt ihn sich zurecht, manche sehen Schubert zum Beispiel als rigorosen Antiklerikalen in Opposition zur katholischen Kirche, und manche Gläubigen haben Schubert als extrem religiös im Kopf.
Ich denke, man kann schon sagen, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass Schubert schwul war, aber man kann es eben nicht beweisen. Wenn wir über die sexuelle Orientierung einer Person sprechen, dann sprechen wir eigentlich darüber, mit wem sie ins Bett geht. Und wir haben eben überhaupt keine Informationen zu Schuberts Sexleben, abgesehen von seiner Geschlechtskrankheit.
Der wichtigste Hinweis für seine Homosexualität ist das völlige Fehlen von jedem gegenteiligen Beweis – also von Liebesbriefen an Frauen. Am leidenschaftlichsten hat er sich gegenüber dem gutaussehenden, charmanten und sehr charismatischen Franz von Schober geäußert. Ich würde sagen, dass kein anderer Brief überliefert ist, der so viel Zärtlichkeit und Leidenschaft transportiert wie die Schreiben von Schubert an Schober.
Denken Sie, dass es eine Rolle spielt, ob Schubert schwul war?
Ich denke nicht, es sei denn, man ist sehr an ihm interessiert. Was wäre mit der Kunstform der Künstler:innenbiographie, wenn wir nicht neugierig wären auf das Leben dieser Leute?
Aber ich denke, dass das, was an Schubert so großartig ist, sein gottgleicher Sinn für schöpferische Unabhängigkeit, mehr beinhaltet als bloßes sexuelle Getrieben-Sein. Das gilt für alle großen Künstler:innen, es sei denn, sie verdienen ihr Geld mit romantischer Prosa oder Pornografie, oder mit Sexualität als raison d’être. Wenn man größere Brötchen backt, mehr anstrebt – Sinfonien, Sonaten oder Liederzyklen – dann spielt das keine Rolle.
Mir ist es sowieso egal, weil ich Schubert so oder so kein bisschen weniger lieben würde. Aber ich glaube, dass Menschen, die wir verehren, uns immer auch neugierig machen. Warum würden wir uns sonst so bemühen, Beethovens unsterbliche Geliebte zu finden?
Schuberts Wien war ein Polizeistaat und Metternichs Gendarmen lasen regelmäßig die privaten Korrespondenzen der Leute; da ist es klar, dass bestimmte Aspekte darin ausgespart werden, dass die Leute sehr vorsichtig mit dem waren, was sie in ihre Briefe schrieben. Man gab sich die größte Mühe, vor den Behörden zu verbergen, dass man ein gewöhnliches, sexuelles, grenzüberschreitendes Wesen ist, weil man nicht wollte, dass private Angelegenheiten Gegenstand polizeilicher Ermittlungen wurden oder man erpresst oder überwacht wird. Bei der Lektüre mancher Schubert-Dokumente scheint es, als ob damals alle in einer goldenen Blase lebten, in der niemand sexuell aktiv oder polyamor oder ehebrecherisch oder homosexuell oder sonst etwas war. Man liest die Dokumente und es ist eine Art heile Welt, in der jede:r von der Sünde der Sexualität verschont blieb.
Das Business hat sich seit Ihrer Gesamteinspielung sehr verändert. Meinen Sie, man kann 2021 noch ein Label finden, das eine Aufnahme aller Schubert-Lieder rausbringen würde?
Das ist schwer zu sagen. Heute will niemand Gesamteinspielungen, alle wollen einzelne Tracks. Bis vor drei Jahren war es nicht möglich, irgendwo nur einen einzigen Track zu suchen und diesen dann zu kaufen. Das war das Gute an Schallplatten und CDs: Man hat automatisch viele Tracks gekauft, weil einem zwei gefallen haben, und dann festgestellt, dass drei andere sogar noch besser sind. Das ist auch der ganze Sinn hinter dem Kuratieren von Programmen und dem Verkauf ganzer Programme statt einzelner Tracks.
Bei den à la carte Tracks bleibt man immer beim gleichen. Man weiß, was man mag, und kauft das, aber diese Entdeckungen, die einen in eine andere Richtung lenken, fehlen. Ich denke, aktuell wird die Plattenindustrie nicht viel mit einer Gesamteinspielung aller Lieder eines Komponisten anfangen können.
Diese großen ‘78er – die eine Tonne gewogen haben – wurden durch die Schallplatte ersetzt. Die 78er-Fans fühlten sich durch das Erscheinen der Schallplatte bedroht, und die Schallplattenfans durch die CD, und jetzt fühlen sich die CD-Fans wie ich von der Tatsache bedroht, dass es nur noch rein digitale Tracks und eine ungewisse Zukunft gibt. Wenn man kein Vertrauen in die Bedeutung des Repertoires hat und die Rolle, die Schubert-Lieder für die westliche Zivilisation immer spielen werden, wenn man nicht darauf vertraut, dass die Musik überleben und gehört werden wird, einfach weil sie so gut ist – also wenn ich darauf nicht vertrauen würde, müsste ich sagen: Ich habe mein Leben verschwendet. ¶