Ein Bild. 
Musik. 
Eine Assoziation. 


Foto ©ALMA(ESONAOJ_NRAO)

Straßenschlucht: ein verregneter Morgen in New York. Ein Jogger bahnt sich den Weg durch eine mit ihren Aufgaben, Geschäften, Sorgen, Wegen stark beschäftige Menschheit. Dauernd muss man anderen ausweichen, die Reflexe werden gefordert, bis sich der Eingang zum Park öffnet. Trotzdem keine Hektik, sondern Heiterkeit und unter der Kapuze ein eigenartiges Gefühl von Durchblutung und Geborgenheit, gesteigerte Präsenz bei gleichzeitiger Versunkenheit. Der Jogger bin ich natürlich selber; beim Laufen oder anderer Bewegung ist die richtige Musik von entscheidender Bedeutung. Wenn sie stimmt, wie zum Beispiel hier, ist die Belohnung groß: ein Flow, größer als Sport, besser als Hören im Sessel.

 

Holger Noltze ist Journalist, Fernsehmoderator und Professor für Musik
und Medien/Musikjournalismus an der TU Dortmund.

Foto AirPano.com

 

Gerade mal zwei Minuten, nicht mehr. Gerade mal zwei Minuten, in denen gekichert, gelacht, getrauert, geliebt, gesehnt wird. Sekundenweise eine neue Stimmung, eine andere Geschichte, die sich trippelnd, schreitend, galoppierend erzählt. Flüchtige aufeinander folgende Momente, an denen man so geschwind entlang hören kann, wie sie auch wieder verklungen sind.

Es ist wie die flinke Bekanntschaft, der hurtige Blick in ein fremdes Gesicht, wo am Ende vielleicht nur der bald wieder verblassende Eindruck einer gewitzten oder melancholischen oder patenten Person bleibt. Oder eben doch das Gefühl, in vielleicht gerade mal zwei Minuten nicht nur einen vorübergehenden Moment, sondern die Ahnung eines Lebens – mit seiner Euphorie, seinen Tiefschlägen, Enttäuschungen, Wünschen, Spielereien – erhascht zu haben.

 

Katharina Adler ist Schriftstellerin und Mitbegründerin der
Adler & Söhne Literaturproduktion in Berlin.

Ich bin vier oder fünf Jahre alt. Die Landschaft zieht an mir vorüber. Ich sitze auf der Rückbank im Auto. Meine Mutter fährt mich zum Geigenunterricht. Im Autoradio läuft wieder meine Lieblings-Kassette. Eine Geschichte über Johann Sebastian Bach. Immer wieder muss ich sie hören, denn da ist dieses Lied, ziemlich am Anfang der Kassette, dessen Text ich nicht verstehe, es scheint irgendetwas mit »Sterben« zu sein. Sterben – was kann das sein? Aber die schöne Melodie und die schöne Frauenstimme lassen mich nicht los. Das Stück ist viel zu kurz. Zurückspulen. Die Musik klingt traurig, aber sie macht mich nicht traurig. Zurückspulen. Kann ich das auch? Musik? Mit der Geige? Zurückspulen.

 

Mirijam Contzen ist Geigerin

Mit György Ligetis Lux Aeterna kann man eine unglaubliche Erfahrung machen: Für zehn Minuten verlässt man diese Welt und schwebt. Das Mitte der 1960er Jahre für 16 Chorstimmen komponierte Stück ist mit seiner schwerelosen, fast transzendenten Wirkung mit nichts vergleichbar. Nicht umsonst benutzte Stanley Kubrick diese Musik 1968 für seinen legendären Film 2001 – A Space Odyssee, nachdem er mehrere schon fertig gestellte Filmkompositionen verworfen hatte. Die zunächst unautorisierte Verwendung von Lux Aeterna und anderen Ligeti-Stücken führte zwar zu einem ausführlichen Rechtsstreit, machte die Musik aber auch einem weltweiten Publikum bekannt. Heute zählt das Chorstück zu den absoluten Klassikern der Moderne, die man unbedingt mal gehört haben sollte. Am besten spät in der Nacht zu Hause: Licht aus, Anlage an, bequeme Hörhaltung einnehmen, Augen schließen und auf »play« drücken. Ein Traum. Als Referenz empfehle ich die Einspielung der Capella Amsterdam unter der Leitung von Daniel Reuss, erschienen bei harmonia mundi france (HMC 901985). Macht deutlich mehr Spaß als die Versionen auf youtube!

Das Bild ist eine erst mehrere Wochen alte Abbildung von der Entstehung eines neuen Universums, die das »Atacama Large Millimeter/submillimeter Array (ALMA)«, ein Verbund von Radioteleskopen in der chilenischen Atacamawüste, erfasst hat.

 

Folkert Uhde ist einer der Gründer und künstlerischen Leiter des Radialsytem V in Berlin und Intendant des Festivals »ION – Internationales Musikfestival Nürnberg«. Er entwickelt eine Veranstaltungsreihe bei den »Montforter Zwischentönen« für die Jahre 2015-2017.



Die Kammersymphonie No. 1 E-Dur op. 9 von Schönberg ist für mich eines der bedeutsamsten Stücke der Musikgeschichte. Wenn ich es dirigiere, bewege ich mich in einem Wald aus uralten Bäumen und das Licht, der Wind und die Wesen zeigen mir eine Landschaft so, wie ich sie noch gar nicht kenne: Als erstes erscheinen die Wurzeln; aus den Blumen werden Tiere, die von einem anderen Planeten zu kommen scheinen. Die Wurzeln sind wie menschliche Hände, die die Luft streicheln. 

Dieses Werk ist wie eine moderne Architektur, die die klassischen Elemente spiegelt, sie in sich integriert, um diese in die Zukunft zu projizieren. Diese Wahrnehmung der Vergangenheit existiert nur in Verbindung mit deren Projektion in die Zukunft. Die Zeit der Romantik löst sich in dem Expressionismus und versucht dadurch neue Wege der Form zu finden. Diese Wege sind von einer mächtigen Empfindsamkeit diktiert. Schönbergs Musik lässt meine Gewohnheiten zusammenbrechen. Ich fühle mich nur wohl, wenn ich mich nicht wohl fühle.

 

Antonello Manacorda ist Chefdirigent und Künstlerischer Leiter der Kammerakademie
Potsdam und Chefdirigent des niederländischen Het Gelders Orkest.