Argentinien

In einem Interview vom letzten Jahr sagte uns der argentinische Komponist Oscar Edelstein, dass gerade in seinem Land eine Art Berlusconi-fikation der öffentlichen Sphäre stattfindet. Daher sollte die Regierung mit der äußerst bizarren Musik vom heimischen Komponisten Mauricio Kagel konfrontiert werden. Jedes Land sollte Platz für seine skurrilen Experimentierer*innen schaffen. (Jeffrey Arlo Brown)

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Australien

Noch weit stärker als die EU schottet sich Australien gegen geflüchtete Menschen ab. Die Asylsuchenden werden auf hoher See abgefangen und in Lagern auf Inseln in Papua-Neuguinea und auf Nauru interniert – unter menschenunwürdigen Bedingungen, die Amnesty International sogar als Folter einstuft. Über 1.900 der sogenannten »Boat-People« verklagten 2014 die australische Regierung. In einem Vergleich vor drei Wochen endete der Rechtsstreit: Die Geflüchteten erhalten umgerechnet insgesamt etwa 47 Millionen Euro Entschädigung. In seinem Streichquartett Eclipse (2003) verarbeitet der australische Komponist Brett Dean die Rettung von mehreren hundert auf dem Indischen Ozean in Seenot geratenen Geflüchteten durch den norwegischen Frachter Tampa im Jahr 2001. Australien weigerte sich auch hier, die Asylsuchenden aufzunehmen. Leider gibt es online keine Aufnahme von Eclipse – als Platzhalter an dieser Stelle darum Deans Streichquintett Epitaphs (2010), eine Hommage an fünf Freund*innen und Kolleg*innen des Komponisten. (Merle Krafeld)

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Brasilien

Brasiliens Präsident Michel Temer steckt zu Hause so tief im Schlamassel, dass er seine Teilnahme am G20 Treffen zunächst abgesagt hatte. Nun ist er doch dabei, und mischt im Wettstreit um den Preis des misogynsten, korruptesten, homophobsten Staatsgast im Saal gleich ganz vorne mit. Frauen, die seien sehr wichtig für die Wirtschaft, meinte er neulich in einer Rede zum Weltfrauentag. Wer sonst würde sich zum Beispiel besser mit den Preisen im Supermarkt auskennen? Die Musikkultur hat Temer bereits zu Umdichtungen von Händels Messias und Orffs Carmina Burana inspiriert. Wir setzen ihm zur Horizonterweiterung ein Stück von Jocy de Oliveira aufs Programm, der Pionierin elekotrakustischer Musik in Brasilien. In ihrer Oper Inori – À Prostituta Sagrada beschäftigt sie sich mit antiken Mythen matriarchaler Gesellschaften. (Hartmut Welscher)

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VR China

Etwas geschummelt, zugegebenermaßen, denn Simon Steen-Andersen kommt nicht aus China, sondern Dänemark. Chinas Präsident Xi Jinping ist Fan von internationalen Riesenprojekten wie der »Neuen Seidenstraße«, einem Handelsnetzwerk zwischen Asien und Europa – vor allem, wenn er sie anstößt und federführend leitet. Die Ouvertures for guzheng, sampler and orchestra könnten Xi Jinping zumindest theoretisch gefallen: Ein bisschen Internationalität (ein dänischer Komponist, der unter anderem in Argentinien studiert hat, ein chinesischer Solist mit traditionellem chinesischem Instrument, ein französisches Orchester), ein bisschen Großprojekt (das Orchestre Philharmonique de Radio France besteht immerhin aus über 100 Musiker*innen), ein bisschen Technologisierung. Wahrscheinlich mag er’s aber trotzdem nicht. Zu wenig heroisch, zu wenig nationalistisch. Gut so. (Merle Krafeld)

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Deutschland

Ganz ehrlich, wenn hier irgendetwas Gutes passieren soll, dann wird Beethovens Neunte nicht ausreichen. Alle Verheißungen von Einigkeit der Völker, menschlicher Größe und Fortschritt haben nichts gebracht und pusten die Egos aller Anwesenden und ihrer Helfer nur weiter auf. Diese Art von Erhabenheit ist ein Betrug. Der Mensch vollbringt nichts Großes, der Mensch ist nah am Tod, eigentlich schon tot – aber nicht im Sinne des Niederganges, des Verfalls, sondern als Erkenntnis, dass wir das Geheimnis des Lebens nur erfassen können, wenn wir loslassen – alles: den Blick in die Zukunft, den Blick in die Vergangenheit, die kleinen und großen Eitelkeiten. Bach, wir brauchen Bach: Komm’ süßer Tod. (Tobias Ruderer)

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Europäische Union

28 Mitgliedsstaaten, 24 Amtssprachen und keiner versteht so richtig, was eigentlich passiert. Als musikalisches Äquivalent dazu: Das Kyrie aus Ligetis Requiem. Eine große fünfstimmige Fuge, wobei das Fugenthema selbst ein vierstimmiger Kanon ist – macht insgesamt 20 Stimmen. Das ist Mikropolyphonie, der unglaublich viele Regeln zugrunde liegen, die beim ersten Hinhören oder auch In-die-Noten-schauen niemand kapiert. Nichts Heroisches, nichts Einheit-Beschwörendes, trotzdem oder gerade deswegen kriege ich beim Hören Gänsehaut. Einer Gemeinschaft, die sich gerne als im technischen Bereich innovationsstark präsentiert, schadet außerdem sicherlich nicht der Verweis auf Kubricks 2001, in dem das Kyrie als Filmmusik verwendet wurde. Genauso wenig wie ein Nachdenken über die Tode, die die EU zum Beispiel auf dem Mittelmeer mit zu verantworten hat (immerhin ist das Requiem eine Messe für die Verstorbenen). Und nicht zuletzt kann die EU in allen Belangen eines gebrauchen: Erbarmen. Kyrie eleison! (Merle Krafeld)

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Frankreich

»Ich habe einen großen Respekt vor Rossini«, sagte Emmanuel Macron in einem viel zitierten Interview für die französische Seite Classique News. Dürfen wir alternativ ein Stück vorschlagen, das gleichzeitig patriotischer und raffinierter ist – Debussys Pelléas et Mélisande? (Jeffrey Arlo Brown)

Großbritannien

Matthew Truscott, Konzertmeister des Mahler Chamber Orchestra, empfahl uns einst dieses Lied als Soundtrack zum Brexit, aber auch für das G20-Konzert passt es vorzüglich: »Mein erster Gedanke war: Es muss Purcell sein – Schöpfer einer der großartigsten Musiken, die unserer kleinen Insel je entstammt ist. Seine Musik bleibt unverkennbar in seinem Stil, während sie gleichzeitig die vielen europäischen Einflüsse aufsaugt und feiert, die bereits im späten 17. Jahrhundert das musikalische Leben Londons bereicherten: Französischer Tanz, italienischer Kontrapunkt und böhmische Virtuosität, auf ihrer ganz eigene Art »clog’d with somewhat of an English vein« (etwa: von einer englischen Ader eingefärbt), wie es der Zeitgenosse Roger North beschrieb.

Ok, also welches Stück? Dieses wundervolle Curtain Tune ist dunkel, aufwühlend, und so in etwa fühle ich mich auch über diese fehlgeleitete und schändlich verdrehte Unternehmung. Der Bass in der Grundlage bringt den Zuhörer dazu, sich der Unvermeidlichkeit der Zeit zu stellen und auch das Thema des Werkes ist irgendwie passend: Timon, ein Bürger Athens, Geburtsstätte der westlichen Zivilisation und Wiege der Demokratie, ist ein einsamer Menschenfeind, der irgendwie damit ringt, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Er schafft es nicht. Ich hoffe, wir schaffen es.«

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Indonesien

Der Musikethnologe Mantle Hood zeigt in seinem Buch The Evolution of Javanese Gamelan, wie die westliche Pädagogik der staatlichen Konservatorien in Indonesien die Gamelan-Musik im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert und vor allem durch die Betonung des Auswendiglernens nachhaltig in die Kunst der Improvisation eingegriffen hat. Auch so ein G20-Gipfel ist ein Hochamt des strikten Protokolls, der tighten Abläufe, der durchgeplanten Agenda, der auswendig gelernten Rituale. Wäre es vielleicht eine gute Idee, ein improvisatorisches Element unterzumischen, das das Einander Zuhören, Aufeinander Eingehen, Zueinander Finden herausfordert? Also, Idee: Das javanesische Stabpuppenspiel-Ensemble leitet nach seinem Auftritt in der Elbphilharmonie ein spontanes Impro-Musiktheater an, in dem sich jeder der versammelten Staatsgäste mit einem/r von zu Hause mitgebrachten Instrument oder einer Puppe seiner Wahl einbringt. (Hartmut Welscher)

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Italien

Die Politik der Zukunft sollte sich ein Beispiel am Arbeiten Luigi Nonos nehmen: sich Mühe geben, so viele verschiedene Menschen aus der Bevölkerung wie möglich zu erreichen, ein offenes Herz für Wunden und Not zu haben, ohne sich in Distanzierung, Resignation oder Versprechen zu flüchten. Nono erkannte schon in den späten 1950er Jahren, dass der Kapitalismus nicht das Ende von Faschismus und Repression sein kann, viele der G20-Gäste versuchen, diese Tatsache noch notdürftig zu verdecken. Wobei, vielleicht ist es Zeit, selber aktiv zu werden: für Power to the People – dafür, dass die Gemeinschaft der Menschen das Zepter und die eigenen Geschicke in die Hand nimmt – behutsam, würdig, vorsichtig, aber bestimmt, keinen Fußbreit den Betrügern. Nonos Werke haben bisweilen auf den ersten Blick einen etwas pädagogischen Unterton, gerade wenn die Programmatik revolutionär ist. Hier gibt es nicht einmal einen Hauch davon: Prometeo, Musik für die weise Revolution. (Tobias Ruderer)

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Indien

Diese Musik kann nur schlecht als feste Komposition gespielt werden, deswegen müsste Lalitha Sivakumar, eine der bekanntesten Vertreterinnen der südindischen Schule der klassischen indischen Musik (Karnatische Musik) eingeladen werden. Man kann sich der subtilen Dramaturgie, den dynamischen melodischen Bewegungen nicht entziehen und fühlt sich beim und nach dem Hören trotzdem seltsam frei. Dass eine Studie gezeigt hat, dass Kinder, die Karnatische Musik hörten, in der Folge über ein besseres Hörvermögen und einen größeren ›Arbeitsspeicher‹ beim Sprechen verfügen, könnte dem ein oder anderen Teilnehmer zugute kommen. (Tobias Ruderer)

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Japan

Es gibt die Theorie, dass alles menschengemachte Unheil nur daher rührt, dass der sich selbst bewusste Mensch nicht in der Lage ist, mit der eigenen Endlichkeit fertig zu werden und das Verdrängte sich in allerlei üble Aktion ausagiert. Der Umkehrschluss bringt Ōno Kazuo auf die Bühne der Elbphilharmonie, den Begründer des Butoh-Tanzes, 2010 im Alter von 103 Jahren gestorben. In seinen Bewegungen spiegelt sich die Freiheit des Körpers wider, der aus der Bewusstheit der zyklischen Natur von Leben und Tod unendliche Freiheit gewonnen hat. »Auch wenn ich mich von meinem Fleisch und meinen Knochen verabschiedet habe, möchte ich weiter als Gespenst tanzen«, schrieb er in einem seiner Workshop-Bücher. Nun tritt er auf. Möge die Weisheit seines Angesichts sich über die versammelte Staatengemeinde ergießen. (Hartmut Welscher)

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Kanada

Wenn Justin Trudeau das Klischee des äußerst angenehmen, höflichen Kanadiers widerspiegelt, dann steht der Komponist Claude Vivier für eine eckigere und sympathischere Seite des Landes – auch wenn er deutlich weniger schön als Trudeau war. Zipangu für Streichorchester packt vom ersten Moment die Aufmerksamkeit der Versammelten. (Jeffrey Arlo Brown)

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Republik Korea

Seit Mai ist Moon Jae-in südkoreanischer Präsident, nach der Amtsenthebung der reaktionären Autokratentochter Park Geun-hye. Mit dem sanften Menschenrechtsanwalt aus Pusan verbinden viele die Hoffnung auf politischen Wandel, eine offenere Gesellschaft, Demilitarisierung, ein Anknüpfen an die Sonnenscheinpolitik seiner liberalen Vorgänger Roh Moo-hyun und Kim Dae-jung. Als Inspiration und Reflektion passt keine Musik besser dazu als die von Yun I-sang, der dieses Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. In dessen Biographie hat sich die koreanische Tragödie des 20. Jahrhunderts eingeschrieben: kolonisiert, ausgebeutet, misshandelt, für Stellvertreterkriege und Interessenkonflikte missbraucht. Yun ist heute vielleicht der einzige Künstler, der sowohl im Norden wie im Süden des Landes gespielt, aufgeführt, geehrt wird. Auf das Programm setzen wir sein Stück Teile dich Nacht nach drei Gedichten von Nelly Sachs, und laden für die Aufführung das Isang-Yun-Ensemble aus Pjöngjang ein. (Hartmut Welscher)

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Mexiko

Der amerikanische Komponist Conlon Nancarrow hat im spanischen Bürgerkrieg in der Abraham Lincoln Brigade gekämpft; als er nach Hause kam, erlosch die Gültigkeit seines Reisepasses. Aus Protest zog er nach Mexiko City, wo er in der Folgezeit mit die krasseste Musik des 20. Jahrhunderts schrieb. Es ist eine Erinnerung, dass die Fluchten zwischen Mexiko und den USA nicht nur in eine Richtung gingen und dass Länder viel verlieren, wenn sie ihre Künstler nicht zu schätzen wissen. (Jeffrey Arlo Brown)

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Russland

Bei Vladimir Putin und einigen anderen Staatsoberhäuptern hat man immer das Gefühl, als sei das ganze Männlichkeits-Ding ein massives chip on their shoulder. Immerzu Tiger fangen, mit freiem Oberkörper auf Pferden reiten, sich mit Jüngeren in Judo und Eishockey messen oder in der Tiefsee tauchen. Legen wir ihnen behutsam eine filmisch-musikalische Hand auf die Schulter und reisen in eine verwunschene Zeit der Märchen und Kinderträume. Der liebenswürdige russische Zeichentrickfilm Die Zwölf Monate erzählt von einer jungen, eigensinnigen Königin, die ihre Untertanen mit Willkür knechtet. Sie verfällt auf die Idee, neue Naturgesetze zu erlassen und den Lauf der Jahreszeiten zu ändern, überspannt den Bogen und wird am Ende geläutert durch den unveränderlichen Gang der Natur und die Einsicht in die Ohnmacht menschlichen Wollens. Die Musik des Films stammt von Mieczysław Weinberg. Vielleicht hat Putin ihn als Kind gesehen: als der Film 1956 erschien, war er gerade 4 Jahre alt. (Hartmut Welscher)

Saudi-Arabien

Saudi-Arabiens König hat die Teilnahme am G20-Gipfel abgesagt. Wir spielen eine Runde »Reise nach Jerusalem« und gehen dann zum nächsten G20-Teilnehmerland über.

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Türkei

Fazıl Say könnte eine Gallionsfigur eines neues, wünschenswerten, offenen Europas sein, das aus dem Vollen schöpft, zumindest kommt er so rüber: Spricht viele Sprachen (manche sagen, er könne auch Wienerisch), weiß das Leben zu genießen, liebt die Kunst, auf seiner Webseite bezeichnet er sich als »Komponist – Pianist – Weltbürger«. Als interessierter und sich mit Kommentaren einmischender Bürger ist er in seinem Heimatland, der Türkei, zu 10 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. Die Musik, die er schreibt, ist nicht immer hintergründig, so what? Seine Istanbul Sinfonie ist bilderreich, gleicht einer Reise, sucht das Abenteuer, ist aber vielleicht für diesen Abend etwas lang. Wählen wir also das Klavierstück Black Earth, Âşık Veysel gewidmet, einem Sänger, Dichter und Bağlama-Spieler aus dem anatolischen Raum, der singend, spielend, dichtend, das Wohlwollen Atatürks hinter sich wissend, die ganze Türkei bereiste. (Tobias Ruderer)

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Südafrika

Es ist eine schöne Vorstellung: Alle kommen zusammen, setzen sich hin und reden offen über kollektive Traumata im eigenen Land, helfen sich, werfen Licht auf alles. Aus Südafrika könnte Musik von Philip Miller dabei helfen. Für ihn liefert die Truth and Reconciliation Commission (TRC), eine südafrikanische Einrichtung zur Untersuchung von politisch motivierten Verbrechen während der Zeit der Apartheid, genausoviel Stoff für Musik, wie Kirchenchöre, Vogelrufe, Alarmanlagen, Landarbeiterinnen. Das gewählte Stück eignet sich des Titels und seiner fröhlichen, aufmüpfigen Kraft wegen: Refuse the Hour. (Tobias Ruderer)

USA

Donald Trump ist laut und aufdringlich. Um mit ihm mitzuhalten, wird die Kunst unserer Zeit oft auch lauter und aufdringlicher. (Zum Beispiel diese nackte Darstellung ohne Hoden.) All dies gibt uns einen Grund, das Bescheidene in der amerikanischen Kultur zu suchen, wie Morton Feldmans für ihn ungewöhnlich kurzes und sehr subtiles Stück Structures für Streichquartett.

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