Bei seiner Bestandsaufnahme zur finanziellen Situation freier klassischer Musiker:innen erhielt Volker Hagedorn Ende letzten Jahres binnen kürzester Zeit über 300 Seiten Zuschriften von Künstler:innen, deren Einkommen oft nur so gerade fünfstellig wird – aufs ganze Jahr gerechnet. Jetzt hat er noch einmal nachgefragt, wie die Stimmung bei den Freien ist angesichts von Konzertabsagen, unterbrochenen Routinen und einem föderalen Flickenteppich unterschiedlichster Hilfsprogramme.

Corona heißt in der Musik auch die Fermate, in der ein Ton oder eine Stille beliebig verlängert werden kann. In den Theatern und Konzertsälen, Festivals und Clubs begann die Stille zuerst, dort wird sie zuletzt enden – irgendwann. Auch wenn erste kleine Schritte zu kleinen Hörer:innenschaften wieder möglich werden, ist ein »Normalzustand« in weiter Ferne; für viele freie Musiker:innen geht es jetzt erst richtig ans Eingemachte. »Mit voller Wucht«, so kürzlich das Handelsblatt, »traf die Pandemie die freien Kulturberufe, drei von vier Berufstätigen leiden unter der Krise stark oder sehr stark.« Wer mit brutto 13.600 Euro im Jahr – laut KSK der Durchschnittswert bei Klassik-Interpret:innen – schon vorher nur knapp über die Runden kam, blickt auf Ketten von Absagen bis hinein in ein bestenfalls nebelhaftes 2021 und muss sogar erwägen, den beruflichen Lebensinhalt aufzugeben: die Musik.

Die kommt indessen schon in der Diskussion zu kurz. Es wird oft auf eine Weise über Geld geredet, als gälte es vor allem, hungrige Mäuler zu stopfen und nicht eine unschätzbare Kulturlandschaft zu retten, in der allein an die 55.000 Freiberufler:innen aller Genres mit Musik beschäftigt sind. »Musiker haben den Beruf nicht gewählt, weil sie zu blöde waren, Banker oder Beamter zu werden«, schreibt die Bratscherin Eva Politt auf eine VAN-Umfrage zur Situation. »Sie lieben ihren Beruf, weil er ihnen viel zurückgibt. Jetzt sind die Konzerte verboten, das wirft so manchen aus dem seelischen Gleichgewicht.« »Sich fit zu halten ist normalerweise kein Problem, aber unter diesen Umständen ist es oft schwer, sich zu motivieren«, sagt eine Pianistin aus Brandenburg.

Foto Roberto Trombetta (CC BY-NC 2.0)
Foto Roberto Trombetta (CC BY-NC 2.0)

Die meisten Musiker:innen berichten von Mutlosigkeit, Ohnmachtsgefühlen, Frust, Depressionen – aber es gibt auch die Regisseurin, die es genießt, nicht mehr im »Hamsterrad« zu sein und nachdenken zu können. »Wir haben erst einmal versucht, das Beste aus der Situation zu machen«, sagt Noémi Zipperling, Geigerin im jungen Aris Quartett, das mit 80 bis 90 Konzerten im Jahr und hochkarätigen CD-Produktionen schon beträchtliches Renommée genießt, »uns also weiterhin zum Proben zu treffen, in Form zu bleiben und viel neues Repertoire zu erarbeiten.« Aber ohne »wirkliches Ziel vor Augen« sei das frustrierend, zumal es jetzt kaum ein Veranstalter wage, sich für die kommenden Jahre festzulegen. Und da fragt man sich dann doch: Wovon leben?

Nichtbezahlte Proben sind für viele Musiker:innen so normal wie nichtbezahlte Recherchen, die Autor:innen leisten, ehe sie ein Exposé anbieten können, und endlose Stunden für Projektplanung und Förderanträge. Proben sind jener unbezahlte Teil der Arbeit, den es als immaterielle Investition bei vielen kreativen Selbstständigen gibt – honoriert wird nur der Auftritt oder die Publikation. Genau das wird von den meisten »Soforthilfe«-Programmen ignoriert. Sie fragen nach Miete, Geräten, Angestellten, nicht nach der voröffentlichen Arbeit, die kaum bezifferbar ist. Bei Soloselbstständigen sind Lebenshaltungskosten und Betriebskosten fast identisch. Ein Leben für die Kunst, wie es so schön heißt.

Berücksichtigt wird das bis jetzt nur in Baden-Württemberg, wo durch Landesmittel jede:r Betroffene 1.180 Euro pro Monat erhält. Ansonsten sorgt ein föderaler Flickenteppich für Zustände wie im 18. Jahrhundert – jeder Landesfürst macht’s anders. Kulturschaffende in Berlin haben größten Respekt vor dem Handeln der R2G-Koalition, die in den ersten Lockdown-Tagen 1,3 Milliarden Euro organisierte und Hunderttausenden derer, die der Metropole ihre Aura geben, 5.000 Euro überwies. Dagegen kann das Aris Quartett mit Sitz in Frankfurt allenfalls ein Projektstipendium beantragen. In Niedersachsen ist es offenbar Glückssache, auch nur kleine Betriebskostendifferenzen erstattet zu bekommen. Überall helfen Stiftungen nach Kräften. Und der Bund?

»Mit Stolz« hat Anfang Juni die Kulturstaatsministerin eine Milliarde für den »Neustart Kultur« angesagt, für die Infrastruktur. Für die Künstler:innen selbst ist wie im Sozialschutz-Paket der erweiterte Zugang zur »Grundsicherung« vorgesehen. Darin dürfen sie zwar Investitionen geltend machen (z.B. in eine CD-Aufnahme, eine PR-Maßnahme, eine Geigenreparatur), die aber müssen bewilligt werden von metierfremden Sachbearbeitenden, die das in time nicht schaffen können – wenn sie denn wollen: Die geheimnisvollen Ermessensspielräume der Jobcenter hätten Franz Kafka begeistert. Dazu kommt der bürokratische Hürdenlauf mit Vermögensberechnung, Inhaftungnahme von Partnern – all das wegen eines unverschuldeten Auftrittsverbots. »Das Ergebnis prekarisiert Soloselbstständige, statt sie in ihrer Produktivität zu stützen«, meint Tobias Rempe, Vorsitzender von FREO, den Freien Ensembles und Orchestern in Deutschland.

Wie ist es mit Überbrückungsjobs? Ferienbetreuung, Obstverkauf? Eine nichtkünstlerische selbstständige Tätigkeit, bei der mehr als 450 Euro verdient werden, führt zum Ausschluss aus der Künstlersozialkasse. Was die Rücklagen angeht: Noch immer ist das Zuwendungsrecht so gebaut, dass öffentlich geförderte Ensembles gar keine bilden dürfen. Und wer als durchschnittlicher Soloselbständiger etwas gegen die Altersarmut gespart hatte, verbraucht es jetzt. Verkalkte Strukturen zeigen sich so krass wie nie: Die Kluft zwischen Freien und Angestellten, zwischen Stars und Selbstausbeuter:innen.

»Mein Freund füttert mich durch«, schreibt eine Geigerin aus Niedersachsen; eine Kollegin aus Berlin pumpt ihre Mutter an, ein Tenor aus derselben Stadt, dem vorerst 14.000 Euro Gagen entgehen, wird ab September bei Freund:innen und Familie anklopfen. Was dieser Vokalist sich in professionellen Chören von März bis Oktober ersungen hätte, entspricht der Spitzengage von Opernstars für einen Abend. Auf ein Prozent der Künstler:innen, so rechnet es Berthold Seliger in Vom Imperiengeschäft vor, fallen weltweit 60 Prozent der Einnahmen (Pop inklusive). Auch hier offenbart das Brennglas Corona einigen Innovationsbedarf. Die Spitzengagen werden ja auch aus dem Etat jener öffentlich finanzierten Häuser bezahlt, von denen viele in ihren Absagemails an Orchesteraushilfen das Wort »Ausfallhonorar« gar nicht erst erwähnen.

Foto Trevor Marron (CC BY 2.0)
Foto Trevor Marron (CC BY 2.0)

»Die besseren Honorare«, hat neulich das Künstlersekretariat am Gasteig in VAN erklärt, stellen »in den meisten Fällen das finanzielle Abbild der künstlerischen Qualität und des Bekanntheitsgrades einer einsamen Spitze dar.« Abgesehen von der geistlosen Rennfahrerlogik: So einsam ist kein Solist, dass ihm ein von gesellschaftlichem Konsens getragenes Fortbestehen der Musiklandschaft egal sein könnte. Zum Glück haben auch an der »Spitze« noch nicht alle das Denken verlernt. Wiebke Lehmkuhl, international gefragte Altistin, die jetzt im heimischen Oldenburg vor dreißig Leuten im Gottesdienst singt, weil neben Bayreuth auch der komplette Pariser Ring ausfällt, nähme »gern ein Drittel weniger Gage, wenn dafür Ausfälle, auch krankheitsbedingte, bezahlt und Proben vergütet werden.«

Denn auch für die Topverdiener:innen unter den Freien gilt, dass nur bei Auftritt bezahlt wird, ganz gleich, was Sänger:innen schon an Zeit und Kosten für Reise, Proben, Unterbringung investierten. Das können in Paris und London 10.000 Euro vorausbezahlte Miete für zwei Monate werden, hat der polnische Tenor Piotr Beczała gerade der Süddeutschen Zeitung erklärt. Wiebke Lehmkuhl hatte in Erwartung eines Spitzenjahres ihre Ersparnisse in ein Haus gesteckt – nun unterrichtet sie im neuen Musikzimmer hinter Plexiglas und wundert sich am Telefon über die randvoll besetzten Flugzeuge, die über die weitgehend leeren Podien und Parketts hinwegfliegen. »Ich habe den Eindruck, im Konzertsaal wird der Lockdown exemplarisch durchexerziert, woanders nicht.«

Aus dem vielbeschworenen Sprung in digitale Dimensionen ist unterdessen eher das Gegenteil geworden. Ernüchtert bis entnervt haken Musiker:innen Streamings, Unterricht am Schirm, Zoomkonferenzen ab. Von Krücke und verzerrtem Klang ist die Rede. Stimmung und Adrenalin könne man nicht künstlich provozieren. Physische Begegnungen seien fundamental wichtig, unersetzbar die Reaktionen, Rührung, Aufregung, Spannung, das gegenseitige Erspüren.  

Wie ist die Stimmung bei den Freien ist angesichts von Konzertabsagen, unterbrochener Routinen und eines föderalen Flickenteppichs unterschiedlichster Hilfsprogramme? Volker Hagedorn hat nachgefragt für @vanmusik.

Nun tun sich erste Türen auf. In Theatern und Kirchen nehmen hier und da Besucher:innen Platz, je drei leere Sitze neben sich, maskiert und registriert, während in den risikoärmeren Biergärten einer, der die letzten vier Monate verschlief, kaum einen Unterschied zum vorigen Sommer erkennen könnte. Natürlich ist es wunderbar, dass überhaupt wieder Kunst »in echt« geht, aber wirtschaftliches Arbeiten wird in den darstellenden Künsten auf lange Sicht nicht möglich sein. Es wird engagierten Akteuren auch nicht einfacher gemacht, wenn man ihnen Saalmieten berechnet wie in ganz normalen Zeiten. Im Kulturausschuss des Bundestages, so ist zu vernehmen, wächst unterdessen parteiübergreifend das Verständnis für die Forderung, die Soforthilfe nach Stuttgarter Modell auf Bundesebene zu realisieren. Eine Petition ist auch schon auf dem Weg – die wievielte mag es sein? Man möchte hoffen, dass der Stoßseufzer einer entnervten Musikerin nicht das letzte Wort der Szene bleiben wird: »Schickt uns wenigstens ein paar Schachteln Antidepressiva.«

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.