Filzy Business
Geburt einer Musik
Am vergangenen Wochenende hat das Ensemble Resonanz bei Gastspielen in Wien und Köln Filz uraufgeführt, ein Bratschenkonzert, das Enno Poppe für Tabea Zimmermann geschrieben hat. Patrick Hahn traf die beiden und fragte einmal nach, wie Komponist und Interpretin sich eigentlich begegnen, was dabei gelingen und was dabei schief gehen kann.
Text Patrick Hahn
VAN: Eine philosophische Frage zum Einstieg: Was ist eigentlich die Musik? Das was du, Enno, schreibst, oder das was du, Tabea, spielst?
Poppe: Die Musik entsteht in dem Moment, in dem sie erzeugt wird – und das ist immer eine Arbeitsteilung von Komponisten und Interpreten.
Zimmermann: Selbst für mich ist es bei einem Stück, wie Enno es für mich geschrieben hat, kaum möglich, bloß anhand der Partitur eine innere Klangvorstellung zu erzeugen. Anders als bei Schubert zum Beispiel. Wenn dann aber ich in den Proben eine Klangvorstellung für Ennos Stück entwickelt habe, dann finde ich sie anschließend auch in der Partitur wieder.
Poppe: Brahms hat einmal gesagt: So gut wie ich den Don Giovanni lesen kann, kann das ohnehin keiner spielen. Das ist schön gesagt, stimmt meiner Ansicht nach aber nicht. Die Musik entsteht erst im Raum, nicht auf dem Papier.
Die Musik könnte doch auch das sein, was du im Kopf hast, bevor du sie schreibst?
Poppe: Nein. Es gibt die Musik, die ich sofort einschalten kann, die ich mir draußen auf dem Balkon vorstellen und im Kopf improvisieren kann. Von dieser Musik könnte ich aber nur einen Bruchteil aufschreiben. Das ist ein Arbeitsprozess, der mit Widerständen zu tun hat. Die Schrift stellt einen Widerstand dar, der mich kreativ herausfordert. Das haben wir auch bei Filz wieder erlebt, wo die Schrift eine Einschränkung darstellt. Den Reichtum der Musik holen wir erst in dem Moment wieder heraus, wenn wir uns mit der Schrift beschäftigt haben und anfangen, Musik zu machen. Wenn ich einen Ton aufschreibe und Tabea spielt den einen Ton vor, dann ist es gleich was anderes: So schön kann ich mir den nämlich gar nicht vorstellen, wie der dann klingt. Das Schönste, was einem im Komponistenleben passieren kann ist daher, wenn verschiedene Interpreten dasselbe Stück spielen. So lerne ich im besten Fall von jedem etwas, was ich vorher über das Stück noch nicht weiß.
Zimmermann: Das macht die Arbeit in diesem Fall auch so besonders schön: dass man merkt, dass man nicht nur das Geschriebene hat. Wie bei jedem aufgeschriebenen Text klingt er leicht anders, wenn er von verschiedenen Leuten gelesen …
Poppe: … und anders verstanden wird!
Zimmermann: Jeder hört und versteht Musik vor dem Hintergrund dessen, was er schon erlebt und gehört hat. Das muss unterschiedlich sein.
Was ist denn für Dich als Interpretin der größere Widerstand: das Instrument oder die Partitur?
Zimmermann: Das Übersetzen; diese Mischung aus physischem Kennenlernen und geistigem Nachvollziehen: ›Wie fühlt sich ein Klang an, wenn er so klingt, wie Enno sich den vorstellt?‹ Das Gefühl muss ich abspeichern und in Verbindung bringen zu dem, was ich lese. Das ist ein Prozess, der viel Proben erfordert. Aber ohne viele Proben kann ich überhaupt nicht musizieren – egal ob bei alter, klassischer, romantischer oder zeitgenössischer Musik.
Was ist besser – ein lebender oder ein toter Komponist?
Zimmermann: Haha, das kann ich nicht beantworten. Die Geschichte lebt auch von der Endlichkeit des Lebens, und die Musik, die heute entsteht, wird sich in 100 Jahren anders anfühlen als heute. So war das wahrscheinlich bei Mozart und Schubert auch. Es ist faszinierend für mich, dass Stücke, wenn sie eine Zeit lang existieren, für die Nachspielenden »leichter« werden, auch ohne dass sie es bereits gespielt hätten. Schon 20 Jahre nach seiner »Geburt« ist ein Stück in einem anderen Zustand. Es verändert sich schon zwischen der Zeit des Aufschreibens und der des Spielens – und Filz wird mit dem Ensemble Resonanz in Köln anders als in Wien geklungen haben und anders als in Hamburg.
Poppe: Ich hoffe es!
Sind lebende Komponisten gemeiner, wenn sie schwere Sachen schreiben oder wenn sie sagen, dass man diese schweren Sachen nicht genug geübt hat?
Zimmermann: Enno ist ein wunderbarer lebender Komponist, der Vertrauen schenkt und Geduld mitbringt. Dadurch möchte man das Beste geben. Beim Ensemble Resonanz kommt von allen Beteiligten so viel Input. Das ist wahnsinnig toll. Ob aber Stücke gut sind, ist nicht abhängig davon, was der Komponist für einen Charakter hat. Es gibt wirklich schreckliche Menschen, mit denen das Arbeiten sehr mühsam ist, aber jedem ist klar, dass es notwendig ist und auch Erfolg verspricht. Andere Komponisten sind sehr nett, aber ihre Musik ist belanglos.
Nachdem das Ensemble Resonanz euch für dieses Stück miteinander »verkuppelt« hat, habt ihr euch zunächst getroffen und ein wenig Kammermusik gemacht, um euch zu »beschnuppern«. Inwiefern beeinflusst denn die persönliche Bekanntschaft mit dem Komponisten eine Interpretation? Hat sich für Dich schon einmal eine Partitur verändert, nachdem Du einen Komponisten getroffen, seinen Händedruck gespürt hast?
Zimmermann: Es kann sehr hilfreich sein, dann werden diese schwarze Punkte auf dem Papier ›persönlicher‹. Im Fall von György Kurtág finde ich es zum Beispiel sehr hilfreich – man braucht eigentlich sein persönliches Erklären um verstehen zu können, was er schreibt. Zum Beispiel steht in seiner Hommage à R. Schumann über zwei Takten die Anweisung ›poco espressivo‹. Als ich diese etwas gehobener gespielt habe, hat Kurtág mich korrigiert und gesagt: Falsch, die übrigen Takte seien espressivo und diese Stelle eben weniger! Das ist nur ein kleines Beispiel, aber diese Begegnung war wichtig.
Manche Komponisten schreiben sich daher ja auch selbst in
die Partitur hinein, um den Prozess bis zum Schluss steuern zu können. Denken wir an Stockhausen, der den Klangregisseur erfunden hat, um die Kontrolle zu behalten. Ist das so ein schrecklicher Moment für die Komponist/innen, wenn sie ihre Partituren an die Interpret/innen übergeben?
Poppe: Für Stockhausen war das wohl ganz klar ein Verlust, sonst hätte er nicht den Klangregisseur erfunden, der noch dem Dirigenten übergeordnet ist. Aber das ist eine besondere Figur, da kenne ich nicht viele Komponisten, die sich so verhalten. Ansonsten finde ich, gehört es zum Tollsten, Stücke ›rauszugeben‹, frei zu lassen.
Wenn ich mir Deine Hände so anschaue, Tabea, dann scheint es eine ziemlich schmutzige Angelegenheit zu sein, neue Musik zu erarbeiten!
Zimmermann: Ja, meine Finger sind schwarz von den vielen Glissandi in Ennos Stück! Filz hat mich jetzt wochenlanges Training einer neuen Technik gekostet. Im Sommer hat Enno mir die Partitur geschickt und im Herbst wollte ich eigentlich schon mit dem Üben fertig sein. Ich bin wochenlang drum herum geschlichen, habe hinein geschaut, aber ich wusste nicht, wo ich anfangen soll. Dann nimmt man hier mal ein Detail, dann baut man es zusammen, aber das Spielgefühl ist eine neue Spieltechnik.
Ist dir so etwas beim Schreiben bewusst?
Poppe: Mich interessiert die Körperlichkeit der Interpreten sehr. Aber auch das Komponieren selbst ist bei mir ein sehr körperlicher Vorgang: Alles was ich schreibe, habe ich auch gesungen. Das wird manchmal ganz schön laut. Auch die Handhaltung des Interpreten beim Spielen stelle ich mir vor, weil ich weiß, dass aus bestimmten akrobatischen Haltungen eine andere Intensität entsteht. Was ich mir nicht vorgestellt habe: Wie lang ist eigentlich der Daumen, und ab wann fällt die Bratsche runter, weil man sie nicht mehr halten kann.
Zimmermann: In Filz geht es sehr viel ums Vibrato-Spiel. In der klassischen Musik ist es mir sehr wichtig, dass es von der Bogenführung unterstützt wird, das heißt Bogendruck, Bogengeschwindigkeit und Vibratodruck und -geschwindigkeit. Die haben viel miteinander zu tun. Enno hat das alles auseinander genommen, und das ist erst einmal wahnsinnig schwer und führt wieder zurück zu einer ganz grundsätzlichen Frage: Wo ist ein Vibrato individuell und persönlich, wo ist es ideelles Komponistenwerk?
Das klingt, als ob Poppe Spielen ein Bewusstsein über die eigenen Möglichkeiten schafft. Wie wirkt sich das aus auf die Interpretation von, sagen wir, Brahms?
Zimmermann: Darüber sollten wir in drei Monaten sprechen. Aber als ich vorhin die Solo-Sonate von Bernd Alois Zimmermann gespielt habe, ist mir vieles leichter gefallen, was früher schwer war, nicht zuletzt durch die Arbeit an Ennos Stück.
So hilft der Komponist am Ende der Interpretin. Wie hilft die Interpretin dem Komponisten beim Komponieren?
Poppe: Für mich ist es eine ungeheure Erleichterung beim Schreiben, wenn ich mir Personen vorstellen kann. Ich finde für Orchester schreiben gerade deshalb besonders schwierig, weil es schwer ist, die Musiker alle kennen zu lernen, schon allein, weil es so viele sind. Es hilft mir sehr, mir Menschen vorzustellen, nicht nur mit ihrem Klang, sondern auch mit ihrer Intensität, mit ihrer Körperlichkeit. Ich bin absolut überzeugt, dass ich Filz so nur für Tabea Zimmermann und das Ensemble Resonanz schreiben konnte. ¶