In diesem Jahr kam er zum ersten Mal nach Deutschland. Berlin präsentierte im März die Premiere einer Übernahme aus New York, das hinreißende Divertissement Namouna zu Musik von Edouard Lalo, das auch eine Reflektion des historischen Handlungsballetts und seiner Möglichkeiten im einundzwanzigsten Jahrhundert ist. In Dresden schuf Ratmansky dann im Sommer für einen Richard-Strauss-Abend die abstrakte Choreografie Tanzsuite. Und soeben, im Dezember 2014, hatte in München seine Rekonstruktion des Balletts Paquita Premiere. In drei Kategorien kann man Ratmanskys choreografische Interessen einordnen. Werke von ihm sind entweder neue Ballette eher abstrakterer Natur oder Eigenbearbeitungen von Werken des Kanons, bei denen sich seine Version von den historischen deutlich unterscheidet, oder drittens musikwissenschaftlich präzise, auf historischen Notationen basierende Rekonstruktionen. War Namouna ein interessanter Hybrid zwischen Kategorie eins und zwei, so steht nun fest: in keinem der drei Genres wird er durch irgendjemanden derzeit an Musikalität, Regieeinfällen, Stilsicherheit, tänzerischer Komplexität übertroffen. Sein künstlerischer Verstand arbeitet beeindruckend schnell und unermüdlich, Knappheit an Ideen kennt er nicht. Eine Minute Tanz wird an einem nicht so guten Probentag fertig, drei, manchmal vier Minuten sind es an einem perfekten. Alles entsteht in seinem Kopf. Einen Ballettsaal braucht Ratmansky nicht zur Vorbereitung. »Ich bin ja gar nicht mehr in Form, was soll ich denn im Studio?«, lacht er, der früher seine stundenlangen Improvisationen filmen ließ. Sein Verständnis für Tänzer ist groß und seine Geduld auch – sie lieben es, mit ihm zu arbeiten. Seine Inszenierungen sind niemals virtuoses Blendwerk, aber man braucht doch eine rasche Auffassungsgabe, um ihnen zu folgen, auch Sinn für Witz, Empfänglichkeit für Charme und Abneigung gegenüber Sentimentalität. Jede Geste, jeder Blick in einem Ballett Ratmanskys ist mit Bedeutung erfüllt. Seine Werke haben Seele.
Wie alle großen Choreografen studiert er die Ballettgeschichte und sieht es als seine Pflicht an, die choreografischen Sprachen Petipas, Bournonvilles oder Balanchines zu beherrschen
Um Ratmanskys ästhetische Prämissen zu verstehen, muss man wissen, dass er nach seinen russischen Jahren in Kopenhagen als Solist die Schule der dänischen Romantik in Gestalt der Ballette August Bournonvilles kennen und lieben lernte. Wie alle großen Choreografen – Frederick Ashton oder John Cranko etwa – studiert er die Ballettgeschichte und sieht es als seine Pflicht an, die choreografischen Sprachen Petipas, Bournonvilles oder Balanchines zu beherrschen. Aber was heißt Pflicht – es interessiert ihn einfach, wie sie Probleme zu lösen wussten. Wie funktionieren ihre Ballette? Ratmansky hätte sicher nichts gegen die Zuschreibung, er stünde auf den Schultern von Riesen.

Die Arbeit in Dresden, seine erste Uraufführung für eine deutsche Ballettcompagnie, fällt in die erste Kategorie, die der neuen, abstrakten Ballette. Die Tanzsuite von Richard Strauss stand seit zwanzig Jahren auf Ratmanskys To-Do-Liste. Klavierstücke von François Couperin hatte Strauss 1923 für kleines Orchester bearbeitet und in eine von Rokoko-Heiterkeit, Tempo und Brillanz erfüllte und zum Tanzen einladende Musikseligkeit verwandelt.
Eines der künstlerischen Geheimnisse, das bei aller Verwandlungsfähigkeit des Autors Ratmansky seine Ästhetik erkennbar heraushebt aus der Fülle weniger konsequenter Erneuerer der Klassik, kann man in der Tanzsuite entschlüsseln. Auf die Bewegungen des Oberkörpers seien viele seiner Kollegen geradezu fixiert, sagt Ratmansky, was aber sei mit den Füssen, mit der Beinarbeit? Er liebt komplexe Fußarbeit wie die Bournonville-Technik sie ihn lehrte, liebt das passé, bei dem unter dem Standbeinknie der gestreckte Spielbeinfuß angelegt wird, verwendet eine Fülle kleiner herausschießender Kicks mit den Füßen, er lässt öfter parallel, nicht auswärts springen, liebt das Rückwärtstanzen und Drehungen en dedans, zum Standbein hin. Strauss’ v mit ihren Stimmungswechseln, der feierlichen Sarabande, der fröhlichen Gavotte und dem geradezu entfesselten »Wirbeltanz« kam seinem choreografischen Witz und Erfindungsreichtum fantastisch zupass. Übermütig wie Kinder sprangen die goldweiß elegant kostümierten Frauen den weißen Prinzen in die Arme, nämlich mit angezogenem Knie und seitlich, als müssten die Männer sie vor vorübereilenden Palastmäusen oder über kotbeschmutzte Strassen hinweg retten. Aber wie Strauss’ Musik Couperins Vorlage mit einem weichen, satten, etwas nachgiebigen Gemüt re-inszenierte, so waren diese kostbaren Wesen in Satin natürlich total selbstbewusste, sehr gut auf ihren eigenen Füßen stehende Künstlerinnen.

Ratmanskys Bild der Ballerina ist nicht das Petipas, auch nicht das Balanchines, sondern das einer durch die Großstädte der Gegenwart eilenden Frau des einundzwanzigsten Jahrhunderts, empfindsam, gebildet, kompetent, aber nicht kalt. Reicher an überraschenden Begegnungen, gleichgeschlechtlichen Tänzen und innigen Pas de deux’, an innovativen Übergängen und ungewöhnlichen Abgängen war keine Choreografie der letzten Jahre.
Ein wunderschönes Beispiel der zweiten Kategorie »Handlungsballett in neuer Fassung« schuf er 2010 mit Don Quixote für das Holländische Nationalballett mit der umwerfenden Anna Tsygankova als Kitri. Was für ein seltsamer Einfall der Ballettgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts: ein Titelheld, der nicht tanzen kann! Doch spätestens seit Jean-Georges Noverres Version von 1768 zählt die Komödie über den Ritter von der traurigen Gestalt zu den erfolgreichsten Klassikern der Tanzkunst. Ratmansky arbeitete das Funkeln des Stoffes noch stärker heraus, in dem er sich ganz an die Logik des Romans hielt. Cervantes erzielt seine komödiantische Wirkung durch das Auseinanderfallen von Don Quixotes Wahrnehmung der Wirklichkeit und der Realität aller anderen handelnden Figuren. Wenn sich nun aber, wie bei Ratmansky, alle in der Sprache des Tanzes ausdrücken, nur der Ritter und sein kleiner dicker Knappe umherstolpern, ist der Boden aller komischen Missverständnisse – und auch der tragischen Einsamkeit des Helden am Ende – schon bereitet. Der mit dem Kopf in den Ritterromanwolken steckende Leser als Titelheld steht mit zwei linken Füßen auf der Erde, während um ihn herum ständig noch gesteigerte Schwierigkeiten des klassischen Tanzens präsentiert werden. Alles fliegt, springt, dreht, battiert, schwirrt durch glissade assemblé und pas de basque, grand jeté und entrelassé, dass dem Publikum schwindlig wird. Wenn das Thema der Virtuosität auf mehreren Ebenen augenfällig wird, so haben in reizvollem Kontrast dazu in Don Quixotes de la Mancha alle Nichttänzer im Publikum einen Stellvertreter im Bühnengeschehen, hier sehen sie ihr regungsloses Staunen blechern gerüstete Gestalt annehmen.

Der größte Vorzug von Ratmanskys Version – vor ihrer tänzerischen und visuellen Schönheit, sogar vor ihrer exzellenten Besetzung – liegt darin, dass die erzählerische Seite nirgends Ungereimtheiten, Lücken, oder Idiosynkrasien aufwies.
Dies ist auch ein Kennzeichen von Paquita in München, dem neuesten coup de théâtre. Die atemberaubend schöne Rekonstruktion von Marius Petipas Ballett in der Fassung von 1881 besticht durch ihre authentische klassische Choreografie, ihre aufregend anzuschauende und absolut verständliche Pantomime, ihre temperamentvollen spanischen Nationaltänze und die schauspielerisch brillant inszenierten Gesellschaftstänze.
Die Geschichte handelt von dem von spanischen Zigeunern aufgezogenen Waisenkind Paquita, das sich als verlorene Nichte des französischen Generals herausstellt und qua Liebesheirat aus der Zeltstadt im Tal der Stiere bei Saragossa in den Palast ihres adligen Onkels heimgeführt wird. Die Erzählung ist spannend, aber welche Eloquenz besitzt die Choreografie!. Petipa war ein Genie, und Ratmanskys kluge, leidenschaftliche Inszenierung stellt sich ganz allein die Aufgabe, diese These unwiderlegbar erscheinen zu lassen. Petipa war in der Tat ganz und gar nicht langweilig klassizistisch. Im Gegenteil: welcher Reichtum im Akademischen, an lange nicht oder noch nie gesehenen Schritten, Sprüngen und Armbewegungen, welcher Charme, welche Spielfreude. Jérôme Kaplans stilsichere luxuriöse Ausstattung stellte diese Qualitäten von Paquita in einen authentisch anmutenden Rahmen. Denn auch diese Qualität zeichnet Ratmansky aus – seine Kostüm- und Bühnenbildner, seine Dramaturgen, seine musikalischen Mitstreiter – sie alle zählen zu den Besten ihres Fachs und teilen die Passion des Choreografen. Im Publikum in München saßen die Ballettdirektoren von Covent Garden, des Amsterdamer Muziektheater, Chefs aus Australien, Stuttgart, Karlsruhe, ihre Entsandten aus Paris, Moskau und St. Petersburg. Dass sich die Ballettwelt endlich auf adäquate Weise für ihre Vergangenheit interessiert, liegt nicht zuletzt an Alexei Ratmansky, dem Mann, der für ihre Zukunft von noch größerer Bedeutung ist. ¶