April 2016 in den Regalen der Staatsbibliothek zu Berlin: Es sind unzählige Mappen, Kisten und Notenbände. Ungefähr 360 Autographe und Manuskripte, über 9000 Briefe, davon 1500 von Busoni, ungefähr 500 Fotos. Programmhefte, handschriftliche Manuskripte zu seinen theoretischen Schriften, biographisches Material wie Zeugnisse aus der Kindheit und aus seiner Ausbildungszeit, Material von den Eltern – es ist der Nachlass von Ferruccio Busoni (1866 – 1924), in dem Marina Gordienko nach geeigneten Stücken für die Ausstellung  zum 150. Geburtstag sucht. Die Sache ist komplex – weil er in vielen Bereichen der Musik unterwegs war. Auf einer Berliner Erinnerungstafel am Viktoria-Luise-Platz, Hausnummer 11, steht »Musiker, Denker und Lehrer«. Etwas genauer? Er war Pianist, Dirigent, Komponist, musikalischer Vordenker. Hier berichten wir über das Wunderkind, den Reisenden, den Ehemann, den Illustrator, Dichter, Herausgeber, Netzwerker / Kurator, Erfinder.Marina Gordienko holt ein Blatt hervor, auf dem ein Brief aus edlem Papier geklebt ist – eine geschwungene Handschrift richtet sich an die Mutter des Elfjährigen, Anna Weiss-Busoni. Es ist Franz Liszt persönlich, der um einen Besuch bittet: »Wollen Sie so freundlich sein, ihn mir vorzustellen, Montag früh, 11 Uhr. Mit ausgezeichneter Achtung. Ergebendst Franz Liszt«.

Franz Liszt: Brief an Anna Weiss-Busoni; März 1877 · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen
Franz Liszt: Brief an Anna Weiss-Busoni; März 1877 · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen

Als Wunderkind betritt der in Empoli geborene Ferruccio die Bühne. Für Marina Gordienko ist dieser Brief der Beginn der Pianisten-Laufbahn von Ferruccio Busoni. Er weilte zu diesem Zeitpunkt mit seiner Familie in Wien. Der Vater hatte das nötige Geld für die Reise von Italien in das österreichische Musikzentrum besorgt, um genau das zu erreichen: seinen Sohn vorzustellen und herum zu reichen. Die Parallelen zu Mozart drängen sich auf. Gewollt. Der Vater platzt vor Stolz, als sein Sohn, genauso wie Mozart einst, in Bologna als Teenager in die Akademie aufgenommen wird.

Ferruccio war Einzelkind. Im Netz kursieren gerade Gerüchte um einen verschollenen Zwillingsbruder – das passiert, wenn der 150. Geburtstag auf den 1. April fällt. Die Mutter ist Pianistin, der Vater Klarinettist, der bald zu Gunsten des Nachwuchs-Managements das eigene Instrument an den Nagel hängt. Mit aller Aufmerksamkeit wird er erzogen, sein musikalisches Talent von Beginn an ausgeschöpft. Die Mutter und die liebevollen Cousinen sammeln jede Zeitungszeile über ihren Ferruccio. Sorgfältig schneiden sie die Konzertankündigungen und Kritiken aus, datieren sie und legen dicke Alben an, die jetzt in Marina Gordienkos Büro zur Sichtung liegen. Die Wiener Berichterstattung ist darin zu finden, auch die Ankündigung des allerersten Konzertes des Jungen, gerade 7 Jahre alt, der Schumann, Clementi, Mozart und Reisiger spielt. Busoni übt jeden Tag unter verbissener Aufsicht: »Der Vater zeigte darin eine ganz unbeschreibliche Energie, Strenge und Pedanterie, so, dass er imstande war, vier Stunden des Tages neben mir sitzen zu bleiben und jeden Finger zu kontrollieren. Da gab es kein Ausruhen. Die einzigen Pausen wurden durch die Ausbrüche seines ungeheuer zornigen Temperamentes hervorgerufen, welche einige Ohrfeigen und reichliche Tränen im Gefolge hatten. Alles dies endete mit schließlicher Versöhnung – um Tags darauf von neuem zu beginnen«, so erinnert sich Busoni. Er wird seine Eltern ein Leben lang finanziell unterstützen.

Der 11-jährige Ferrucio Busoni, 1877 in Wien
Der 11-jährige Ferrucio Busoni, 1877 in Wien

Oft hat er Noten von Johann Sebastian Bach auf dem Pult. Diese musikalische Liebe übersteht die Drangsal des Vaters, Bachs Musik wird ihn ein Leben lang begleiten. In Leipzig zum Beispiel, seiner erste Station weit weg von den Eltern, ist Bach allgegenwärtig. Mit einem Empfehlungsschreiben von Johannes Brahms ausgestattet startet er in die Selbständigkeit. In Leipzigs Straßen ist er auch das erste Mal mit einem Hund zu sehen; auch Hunde werden zu seinen ständigen Begleitern. Marina Gordienko holt eine Mappe voller Fotos hervor. Da ist er: Busoni mit großem Hund. Auf dem nächsten Foto lehnt sich Busoni locker an einen mit Grazien geschmückten Sims. Nächste Folie zur Seite gezogen: Busoni nachdenklich, das Kinn in die Hand gestützt. 500 Fotos gehören zum Nachlass, nicht nur von ihm, sondern auch von Freunden und der Familie, dem späteren Unterrichtszimmer in Berlin, seiner Bibliothek – Busonis Leben ist schon recht bildreich dokumentiert.

Berlin feiert Busoni und seinen Geist. Die Ausstellung Freiheit der Tonkunst in der Staatsbibliothek zu Berlin beginnt am 4. September und geht bis zum 8. Januar 2017.

Im Rahmen des Musikfests Berlin gibt das Pianoduo GrauSchumacher ein Matinee-Konzert zum 150. Geburtstag Busonis

Doch zurück nach Leipzig. Hier gibt er Unterricht und versucht, sich mit Konzerten weiter bekannt zu machen. Nach zwei Jahren wechselt er nach Helsinki, um dort als als Klavierprofessor am Konservatorium zu arbeiten. Hier trifft er auf Gerda, sie will Privatschülerin werden und hat keine Chance. Busoni meint, er habe genug mit dem Konservatorium zu tun … Doch Gerda bleibt dran, will den Wunderpianisten aus Leipzig endlich spielen hören. Bei einem Wohltätigkeitsball kommt es zu einer ersten Begegnung, über die Gerda später schreibt: »Busoni grüßte fröhlich und bestellte gleich Champagner. Seine schönen kastanienbraunen, an den Schläfen ganz goldenen Haare standen wie ein Glorienschein um sein Haupt. Er sprach sehr lebhaft und eifrig und lachte oft, sehr hell und überzeugend, so dass man mit einstimmen musste, ob man wollte oder nicht.«

Eine Woche später, nach etlichen ausgelassen-fröhlichen Nachmittagen, hält er um ihre Hand an. Gerda schreibt weiter: »Ich schlief natürlich die ganze Nacht nicht. Was hatte ich eigentlich getan? Hatte ich mich wirklich mit einem wildfremden Menschen verlobt?« Hatte sie. Und zum Erstaunen der gesamten Verwandtschaft zeigt sich der Vater einverstanden. Ungewöhnlich auch das Brautgeschenk. »Es ist ja Sitte, dass der Bräutigam irgend ein Geschenk macht, ein Schmuckstück oder ähnliches. Eines Tages kam auch eine Kiste. Mit Spannung wurde sie geöffnet: sie enthielt das Brockhaus‘ Konversationslexikon! Die ganze Stadt hat gelacht.“

Zwei Jahre danach heiraten sie – Busoni ist inzwischen weiter gezogen. Die Ehe wird in Moskau geschlossen und hält ein Leben lang, auch wenn hier und da gemunkelt wird, dass Busoni sich hin und wieder anderweitig verliebte. Marina Gordienko weiß, dass Gerda den Nachlass ihres Mannes gefiltert hat: »Sie hat einiges ausgesondert; Briefe, Unterlagen, die ihr persönlich unangenehm waren, die nicht an die Nachwelt gelangen sollten.«

In Moskau dann ein Ritterschlag: Busoni erhält den ersten ausgelobten Rubinstein-Preis. Rubinstein hatte Busoni in Wien als Wunderkind kennengelernt und sich auch öffentlich zur Begabung des 11-Jährigen geäußert. Wenn auch nur zögerlich anerkennend, eher hoffend, dass das Talent weiter wachsen möge. Der Preis bezeugt, dass die Hoffnung sich erfüllt hat.

Und schon ist Busoni wieder unterwegs, des Öfteren auch allein. Nach Amerika zum Beispiel reist er immer wieder ohne seine Frau Gerda. Aber wo immer er ist, sie erhält regelmäßig selbst gestaltete Postkarten.

Busoni: Postkarte an Gerda Busoni; 28.2.1901 · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen
Busoni: Postkarte an Gerda Busoni; 28.2.1901 · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen

Marina Gordienko schlägt einen Umschlag auf, in dem etliche dieser kleinen Kunstwerke aufbewahrt werden. Auf einer zeichnet sich Busoni selbst als hageren Mann. Klavier, Schiff und Eisenbahn sind im Hintergrund erkennbar und in einer Ecke scheint sich die Tusche zu einem schwarzen Fleck zusammen zu ziehen. Nur ein paar Buchstabenumrisse bleiben frei: »Strohwitwer« ist da zu lesen.

Auf einer anderen Karte zeichnet er Gerda vor einem lichten Wäldchen. Zwischen den Bäumen deuten rötliche Linien den Sonnenuntergang an. Bei genauerem Betrachten fällt auf: Diese Linien sind Notenlinien. Auch seine Partituren stattet er mit Zeichnungen aus, oft ist Busoni sein eigener Illustrator.

Eigenhändige Dekorationsskizze Busonis zum Arlecchino · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen
Eigenhändige Dekorationsskizze Busonis zum Arlecchino · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen

Auf seinen Reisen schreibt Busoni viel, vor Konzerten, nach Konzerten – eigentlich schreibt er immer. Auf unzähligen Blättern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, hat Busoni seine Notizen hinterlassen. Auf der Rückseite alter Dokumente, auf Briefpapieren unterschiedlicher Hotels. Er entwirft ganze Libretti auf losen Zetteln, die jetzt in der Staatsbibliothek zu Konvoluten zusammen gefasst sind. Marina Gordienko hält ein Bündel in den Händen, es ist der handschriftliche Text-Entwurf zu seiner Oper Die Brautwahl. Gordienko greift wahllos in die Sammlung hinein und fischt eine Seite heraus, die das Siegel des Königlichen Kurhauses Kissingen zeigt. Solche Blätter können zur Datierung der Skizzen herangezogen werden: »Es gibt eine chronologische Auflistung aller seiner Konzerte und Konzertorte. So kann man genau nachvollziehen, wann er wo war – und kann solche Aufzeichnungen dann genau datieren: In Bad Kissingen zum Beispiel war er genau am 10. Mai 1910. Und hier finden wir also das Briefpapier des Kurhauses.« Die Libretti zu seinen Bühnenwerken schreibt er weitestgehend selbst.

Nach seiner Zeit in Moskau zieht es Busoni in die USA. Zunächst ist er in Boston und dann in New York. Die Neue Welt aber ist nicht die seine. Nach zwei Jahren auf dem amerikanischen Kontinent kehrt er nach Europa zurück und entscheidet sich 1894 für Berlin. Busoni ist  da erst 28; in Berlin wird er – mit Unterbrechungen – sesshaft.

Wieder spielt er viele Konzerte, die in ganz Deutschland Furore machen. Seine Abende sind spektakulär. Busonis Technik verblüfft das Publikum, seine Durchhaltekraft ist enorm. Wer sonst kann schon Abende von neuneinhalb Stunden spielen?

Es gibt Zeugnisse von Busonis hochvirtuosem Spiel. Er hat mechanische Klavierrollen bespielt, die vervielfältigt und verkauft werden konnten, die heute noch existieren.

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Er erprobt auch eine neue Klaviertechnik und bespielt das dritte, mittlere Pedal, das von der Firma Steinway erfunden wurde und zumeist nur bei großen Konzertflügeln anzutreffen ist. Ein Tonhaltepedal, das angeschlagene Töne weiter klingen lässt, auch wenn man die Finger von der Tastatur löst. Busoni kann nun Töne anschlagen, das Pedal bedienen, weiterspielen, ohne dass der Klang der ersten Töne verstummen würde. Die Technik wirkt wie eine dritte, unsichtbare Hand, die Busoni zu nutzen weiß, obwohl er so große Hände hat, wie sonst kein anderer Pianist. Vielleicht schaffen es die Röntgenbilder von Busonis Händen, die auch im Fundus der Staatsbibliothek zu finden sind, in die Ausstellung.

Gerda und Ferruccio Busoni in ihrer Berliner Wohnung
Gerda und Ferruccio Busoni in ihrer Berliner Wohnung

Busoni schöpft diese Neuerung des Klavieres aus, auch für die eigenen Kompositionen. Das Wunderkind von einst hat schnell erkannt, dass der Pianist sich seinem Publikum auch mit eigenen Werken präsentieren muss. Bekannt werden seine Bach-Bearbeitungen. Bach im Konzert zu spielen ist in Busonis Zeit unüblich. Seine Musik gilt damals als Übe-Literatur. Aber Busoni will die Orgel- und Klavierwerke auch im Konzert präsentieren. Und so richtet er diese Musik für den modernen Flügel ein. Er ergänzt die Noten um dynamische Zeichen und Tempoangaben – ganz nach dem Geschmack der Zeit. Er vergrößert das Klangvolumen der Stücke, indem er die Bachsche Kompositionsmethode kopiert und vergrößert – das Stück auf die gesamte Klaviatur ausweitet. In Präludium, Fuge und Fuga figurata schreibt er zum Beispiel das gesamte Präludium und die Fuge in D-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier, Teil 1 ab. Doch kurz bevor die Schlussformel zu Ende geht, greift Busoni als Komponist ein, schreibt seine Fuga figurata ein und überhöht den Fugengedanken, indem er Partikel aus dem Präludium und aus der Fuge neuartig und musikalisch gewaltiger übereinander schiebt. Dabei verlässt Busoni auch harmonische Grenzen, die Bach kaum übertreten hatte.

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Diese kontrapunktischen Kenntnisse haben Busoni zu einem beliebten Lehrer gemacht. Noch heute gilt diese Technik als kompositorisches Fundament. Schüler und Anhänger findet Busoni in ganz Europa. Im Jahr 1900 übernimmt er die Meisterkurse von Franz Liszt in Weimar. Damit gilt er als Erbe des Virtuosen. Es sind die Fußstapfen, in die der ehrgeizige Pianist immer hat treten wollen.

Sein großes Interesse an der neuen Musik, an neuen Kompositionen, lebt er in einem großen Konzertzyklus in Berlin aus. Er organisiert große Abende in der Philharmonie, die er zum Teil selbst finanziert. Dabei sollten die Komponisten – soweit möglich – ihre Werke selbst dirigieren. Viele bewerben sich nun bei Busoni, in das Programm aufgenommen zu werden – und Busonis Schriftverkehr explodiert. Marina Gordienko durchblättert derartige Korrespondenzen und findet spontan Briefe der wichtigsten Komponisten der Zeit. In der zufällig ausgewählten Akte liegen Briefe von Edward Elgar und Carl Nielsen nebeneinander. Dem folgt eine Korrespondenz mit Gustav Mahler. Den hatte Busoni auf einer der Schiffspartien nach Amerika kennengelernt – Mahler dirigierte in seinem letzten Konzert in New York ein Werk von Busoni. Gleich dahinter taucht ein Telegramm von Jean Sibelius auf.

Ferruccio Busoni mit 38 · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen
Ferruccio Busoni mit 38 · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen

Am ersten seiner Philharmonischen Abende stellt Busoni Werke von Debussy und Saint-Saëns vor. Für das Folgekonzert eine Woche später hatte Delius eigens ein Werk komponiert. Ergänzt wird das Programm mit Musik von Franz Liszt. Berlins Kritiker zeigen sich allerdings nicht begeistert. Sie monieren das Fehlen deutscher Komponisten. Es sei unverzeihlich, dass Musik von ungeübten Komponisten gespielt wurde, Werke, die alles andere als ein Kunstgenuss wären. Busoni verteidigt sich und verstrickt sich damit in einen offenen Brief-Diskurs, der in allen Feuilletons Deutschlands ausgetragen wird. Insgesamt zwölf Konzerte kann Busoni stemmen – dann gibt er 1909 auf, frustriert und finanziell ausgeblutet.

Doch die Neugier für Neue Musik bleibt. So unterstützt er zum Beispiel Arnold Schönberg. Busoni schafft es, 1911 die Familie Schönberg von Wien nach Berlin zu holen. Und es ist Busonis Wohnung, in der Schönbergs Pierrot lunaire das erste Mal durchgespielt wird.

Sein Klavierspiel und die Tourneen geraten trotz aller anderer Beschäftigung nicht ins Hintertreffen. Manchmal ist ihm das Spiel eine Flucht. Insgesamt vier Mal gastiert er in Amerika. Dorthin reist er auch erst einmal, als in Europa der Erste Weltkrieg beginnt. Berlin wird ihm zu engstirnig – er kann hier als Italiener ohne deutsche Staatsbürgerschaft nicht mehr arbeiten. In Zürich übernimmt er die Leitung des Tonhalle-Orchesters und kann dort seine ersten Opern- und Bühnenprojekte verwirklichen. Dazu gehören die Oper Turandot (lang vor Puccinis Variante) und sein theatralisches Capriccio Arlecchino, das die italienische Comedia dell’arte wieder aufleben lässt.

Busoni mit 48 · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen
Busoni mit 48 · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen

Doch Busoni sehnt sich nach Berlin. Einmal gabelt Stefan Zweig den Komponisten, mal wieder in Begleitung eines großen Hundes, im Bahnhofsrestaurant auf – er hatte sich mit zwei Flaschen Wein »betäubt«.

Nach fünf Jahren, 1920, kommt dann der befreiende Ruf zurück nach Berlin. Er soll die Leitung der Meisterklasse an der Preußischen Akademie der Künste übernehmen. Fünf Studenten nimmt Busoni an – darunter: Kurt Weill. Der Kreis genießt Kultstatus, immer montags und donnerstags empfängt Busoni seine Schüler. Während der Professor eine bis anderthalb Stunden Unterricht ankündigt, berichten seine Schüler von ausgedehnten Nachmittagsrunden, die erst am Abend aufgelöst werden.

Kurt Weill, Walther Geiser, Luc Balmer, Wladimir Rudolfowitsch Vogel, Ferruccio Busoni · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen
Kurt Weill, Walther Geiser, Luc Balmer, Wladimir Rudolfowitsch Vogel, Ferruccio Busoni · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen

Diskutiert werden hier auch Busonis theoretische Schriften. Die Berühmteste ist sein Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Darin gibt er sich überzeugt, dass die herkömmlichen Instrumente eine Beschränkung darstellen, die die komponierte Musik begrenzen. Er sieht in der Zukunft neue Musikinstrumente, neue Klangerzeuger: »Nach welcher Richtung führt der nächste Schritt? Ich meine, zum abstrakten Klange, zur hindernislosen Technik, zur tonlichen Unabgegrenztheit.«

Damit nimmt Busoni die elektronische Klangerzeugung theoretisch vorweg. Und davon ausgehend, fordert er eine Aufsprengung des bekannten Tonsystems. Die 24 Dur- und Moll-Tonarten bricht er auf und konstruiert 113 neue Skalen, die mit Sechstel-Tönen arbeiten. Busoni mischt in diesem Band kompositorische Sprengsätze. Er entwickelt Pläne für ein Dritteltonharmonium. Die Skizzen dazu liegen in der Staatsbibliothek Berlin. »Er hat auch tatsächlich einen Klavierbauer gefunden, der dieses Instrument konstruiert hat«, sagt Marina Gordienko, »aber leider ist es erst 1925, ein Jahr nach seinem Tod, fertig geworden«.

War Busoni wirklich ein Futurist? Seine Frau Gerda berichtet, dass Busoni weder Schreibmaschine noch Telefon benutzte. Neue elektrische Gegenstände ignorierte er · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen
War Busoni wirklich ein Futurist? Seine Frau Gerda berichtet, dass Busoni weder Schreibmaschine noch Telefon benutzte. Neue elektrische Gegenstände ignorierte er · Foto Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv · Weitere Informationen

Busoni hat seine umstürzenden Ideen nie im eigenen Werk umgesetzt. Obwohl er heute in einem Atemzug mit den italienischen Futuristen genannt wird, bleibt er in seiner Musik, im Herzen, ein Spätromantiker. Seine Frau Gerda berichtet, dass Busoni weder Schreibmaschine noch Telefon benutzte. Neue elektrische Gegenstände ignorierte er. Ausgenommen davon ist der persönliche Fahrstuhl in seine Wohnung, am Viktoria-Luise-Platz, Hausnummer 11, 5. Stock. Dort unterrichtete er am liebsten, mitten im hochherrschaftlichen Interieur, das Busoni mit wertvollen Bilder und Figurinen ergänzte.

Busoni hat seine Schüler verabschiedet. Er steigt in den Aufzug und lässt sich die fünf Stockwerke hinunter tragen, mitten hinein in die Gastwirtschaft des Hauses. Die Gastwirtschaft steht nicht mehr. An der Stelle ist eine Gedenktafel angebracht: