Wiebke Hüster war die Tanzkritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo sie bis Ende 2014 auch den Blog »Aufforderung zum Tanz« führte. Derzeit ist sie an Produktionen beteiligt, berichtet über Tanz für den Deutschlandfunk und VAN und arbeitet als Yogalehrerin. Vor einem Jahr erschien ihr Buch über die langjährige und legendäre Primaballerina des Stuttgarter Balletts, Birgit Keil, heute Direktorin der Akademie des Tanzes der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Mannheim sowie Direktorin des Staatsballetts. Das Buch ist in Bild und Worten eine Hommage an die persönliche Leidenschaft für das Ballett und die Begegnungen, die dadurch entstehen. Ich kenne mich mit Tanz nicht so besonders gut aus und bin Wiebke dafür dankbar, dass sie mir das alles in ihrer Frankfurter Wohnung noch einmal ausführlich erklärt hat. 


VAN: Von vorne. Warum Tanz?

Wiebke Hüster: Der Impuls, sich schneller als gemächlich zu bewegen geht wahrscheinlich aus einem uralten Fluchtinstinkt hervor. Gleichzeitig empfinden wir Freude  daran, uns zu bewegen. Man spürt den eigenen Körper, entwickelt Propriozeption, Eigenwahrnehmung.

Genauso ist auch das Vergnügen einprogrammiert, das eigene Bewegungsrepertoire zu erweitern. Vielleicht hat das auch mit Instinkten zu tun, dass man weiß, je flexibler, je schneller, ja überraschender ich mich bewegen kann, desto besser kann ich meinem Feind entkommen oder Verfolgern ein Schnippchen schlagen. Die Schwerkraft zu überwinden ist ein erregendes Gefühl, einfach diese Erde unter sich zu lassen, anstrengungslos zu springen, einen Moment, ein Fünkchen Ewigkeit da oben zu bleiben und dann erst zurückkehren zu müssen.

Gibt es da nicht viele Parallelen zum Sport? Rhythmische Sportgymnastik ist ja eine olympische Disziplin.

Ja, aber erst einmal macht der Tanz spektakuläre Bewegungsmomente als solche aufregend – sie dienen ja nicht als Mittel zum Sieg. Der Sportler verwandelt sich in einen Helden, aber beim Tanz kannst du dich in jemand ganz anderen verwandeln. Das funktioniert nicht nur, wenn du Crankos Tatjana bist (in John Crankos Tschaikowsky-Ballett Onegin d. Red) bist oder seine Julia tanzt (Romeo und Julia von Prokofjew in der Choreografie von John Cranko, d. Red.), und denken musst: ›Ich bin jetzt die, die sich in den verliebt.‹ Ich meine eine andere Art von Verwandlung, und darin spürst du instinktiv, wenn du dich umdrehen musst oder loslaufen. Du kommunizierst nonverbal, bist eng mit Menschen verbunden, ohne sie zu berühren. Das ist schon bei den Proben toll. Aber auf einer Bühne ist es noch großartiger, weil du dann spürst, wie sich deine Energie mit der des Publikums verbindet, das dein Erlebnis auf diese Weise teilt. 

Wie erlebt das Publikum das als Kunst? Nehmen wir ein Orchester, die produzieren über ihre eigene Erfahrung hinaus Töne und die treffen auf das Trommelfell der Zuschauer und dann passiert was. Was ist das beim Ballett, warum kann es Spaß machen, dem zuzuschauen?

Das Hochgefühl und die Spannung der Tänzer übertragen sich auf die Zuschauer, das sind kinästhetische Wahrnehmungsprozesse. Es kann richtig im Nacken kribbeln, wenn man Tänzer diese unglaublichen Sachen machen sieht. Jede koordinierte, rhythmisierte Bewegungssprache enthält auch unerwartete, überraschende Momente. Dennoch fließt die Energie weiter – ich glaube, es ist diese Erfahrung im Tanz, die das Publikum sehr bewegt. In der Kunsterfahrung, besonders im stummen Tanz, wo es einmal nicht Worte sind, die wir intellektuell verarbeiten, wie wir das sonst den ganzen Tag tun – kommen wir zu einer ganz großen Ruhe, diese Harmonie von Atem, Rhythmus und koordinierter synchroner Anstrengung bietet etwas Beruhigendes. Wie auch bestimmte Musik senkt dieses Erleben unseren Blutdruck, denn wir schwingen uns innerlich, ohne das bewusst zu merken, auf diesen beruhigenden Rhythmus ein.

Und jetzt gehen wir noch einen Schritt weiter: Wir bei VAN fragen uns das auch manchmal in Bezug auf die Musik: Warum machen wir das, über Musik schreiben? Du schreibst über Ballett. Was kriegt der/die Leser/in von einem guten Text?

Zunächst ein begründetes Urteil: »Leserin, Leser, geh unbedingt dahin, du musst das hören, du musst es sehen oder eben das Gegenteil: Macht lieber was anderes, kauft euch Karten fürs Kino, aber geht nicht in dieses bestimmte Ballett rein, auf keinen Fall!« Das sind die beiden Extreme von Urteilen. Aber ich finde deren Begründung und also auch Beschreibungen des Geschehens so wichtig: Jemand konnte nicht nach Brüssel fahren, nicht in London sein, jemand hatte keine Zeit, nach Hannover zu gehen, also will er wissen, wie es war. Oder jemand verpasst ein Stück, das er oder sie eigentlich schon ganz gut kennt, dann öffnet sich da ein Raum gemeinsamer Erfahrung. Es stellen sich dieselben Fragen wie in der Literatur oder bei Ausstellungen auch. Wie beurteilen wir heute einen Maler im Unterschied zu den Leuten von vor 20 Jahren, als die letzte große Retrospektive stattgefunden hat? Wie interpretieren wir die Bilder jetzt? Da versucht man beschreibend, analysierend, argumentierend einen Ersatz zu schaffen, eine Kompensation für die, die es versäumt haben. Und man hinterlässt auch ein Zeugnis einer Aufführung, die ja noch immer etwas Ephemeres ist, nicht wirklich festgehalten werden kann.

Gibt es trotzdem so etwas wie ein aktuelles Material des klassischen Tanzes? Dinge, die aktuell verhandelt oder weiterentwickelt werden. 

Ich finde gut, dass die Möglichkeiten der Rekonstruktion in den letzten Jahren zum ersten Mal ausgeschöpft werden. Es bedeutet sehr viel für eine Kunstform, wenn sie sich auf diese Weise ihre eigene Geschichte neu aneignet. Was eigentlich jede Generation tun sollte, ist zurückzuschauen auf das, was einmal state of the art war, um von da aus zu sagen, das schmeiß’ ich weg oder daran knüpfe ich an. Aber solche Haltungen setzen Kenntnisse voraus. Du musst das studieren und dann kannst du dich interessan
t dazu verhalten, weil du informiert bist. Im Tanz haben wir jetzt historisch zum ersten Mal diskussionsfähige Versionen von ganz wichtigen Werken unseres Repertoires aus dreihundertfünfzig Jahren; nicht nur für das romantische und das klassische Ballett, das 19. Jahrhundert, sondern auch im modernen Tanz, dem Ausdruckstanz, zum Beispiel die Rekonstruktion von Sacre du Printemps von Mary Wigman

Das finde ich unglaublich wichtig, dass gute Choreografen dadurch mit einem anderen Selbstbewusstsein dafür einstehen und sagen können: Leute, das habe ich mir nicht einfach ausgedacht letzte Woche.

Was sind die Herausforderungen für eine Rekonstruktion?

Es gibt so viele Lücken und Leerstellen in diesem historischen Gewebe, viele Sachen sind ja nicht notiert, und jetzt muss jemand kommen, der diese Leerstellen behutsam füllt. Und nicht nur behutsam, sondern auch mit dem Esprit von jemandem, der in diesen Stil total hineintaucht – wie Regisseure und Dirigenten in eine Oper – und doch er selbst bleibt. 

Was ist denn in dieser Hinsicht gerade das Aufregendste im Ballett? Welche Aufführung würdest du um nichts auf der Welt verpassen wollen?

Alles von Ratmansky. Wenn Ratmansky Dornröschen inszeniert, dann weiß ich, dass er zehn Jahre lang geforscht hat: Er ist jetzt Mitte vierzig, hat es selber in verschiedenen Versionen getanzt und dann beginnt er irgendwann, historische Abbildungen zu sammeln, geht in Bibliotheken, sucht nach Aufzeichnungen, arbeitet mit Leuten zusammen, die die Originallibretti lesen. Er betreibt wirkliche Forschung! 

Als ich ihn noch nicht so gut kannte, dachte ich: Das ist der Typ, der wahrscheinlich die großen Petipa-Ballette am besten rekonstruiert. Aber nach diesem Strauss-Abend (siehe Video unten) und nachdem er auch dieses Namouna gemacht hatte, war es um mich geschehen. Dann habe ich bei den Proben zu Paquita gesehen, wie er sich selbst bewegt: aus dem Zentrum und total geerdet. Und daraus kann er diese absolut überraschenden synkopierten Schritte gestalten. Das ist Virtuosität, aber eben nicht um ihrer selbst willen sondern mit einem ganz starken Bezug zur Geschichte. Das ist ja im Tanz nicht so leicht zu finden. (Hier geht es zu Wiebke Hüsters VAN-Artikel über Ratmanskys Paquita, d. Red.)

Aber das weiß von den Zuschauer/innen doch fast keiner, oder doch?

Das ist ja das Interessante: Ich muss ja gar nicht mit diesem Bewusstsein da sitzen, ›oh mein Gott, so hat Petipa Paris gesehen vor 150 Jahren, was für ein Wahnsinn‹. Man kann ja zum Beispiel auch in Don Giovanni gehen, sich der Musik und dieser Geschichte überlassen, vorher vielleicht noch eine kurze Inhaltsangabe lesen, sich dann aber einfach dem Erleben hingeben.

Nur verleiht das Wissen darüber hinaus dem Kunsterlebnis eine ganz andere Dimension. Das finde ich eigentlich das Großartige daran, dass jemand wie Ratmansky mir meinen Stolz zurückgegeben hat als Ballettkritikerin; da gibt es ja manchmal diese Schüchternheit, ›ich weiß, wir sind nicht ganz ernst zu nehmen und wir haben ja keine Notationen, und Ballett ist ja eigentlich auch gar keine Kunst‹, all das, wonach du anfangs gefragt hattest … – das ist eine Erfahrung, die man speziell in Deutschland macht. Meine amerikanischen Kollegen haben viel weniger Selbstlegitimationsprobleme als ich, und das liegt nicht nur daran, dass der Tanz nicht so einen Stellenwert in der deutschen Kultur hat, wie er ihn im Amerikanischen hat, sondern es liegt auch daran, dass wir sehr lange den falschen Tanz rezipiert haben. Das klingt jetzt überheblich, aber: die ganze amerikanische Postmoderne, angefangen mit Merce Cunningham, über Lucinda Childs, Trisha Brown, bis hin zu Lisa Nelson und Steve Paxton ist in Frankreich viel stärker rezipiert worden als in Deutschland, und das fehlt uns. Wir haben davon zu wenig gesehen, während wir Pina Bausch rezipierten.

Was hat uns Pina Pausch vorenthalten?

George Balanchine sagte, immer wenn ein Mann und eine Frau die Bühne betreten und sie sich auf einen Stuhl setzt, dann fangen alle an, sich eine Geschichte auszudenken. Aber das ist für die Wahrnehmung das Gleiche, wie wenn man einem Bäcker dabei zuschaut, der ein Brot herstellt und wenn man dann mit dem eigenen Finger zu früh in den Teig sticht, und dann fällt er zusammen und wird niemals ein Brot! Es geht bei Balanchine eben nicht um ›Boy meets Girl‹, um die simple Pas-de-deux-Lovestory.

Hingegen bei Pina Bausch … also diese ganzen Beziehungsdramen, die Befreiung der Frau, Emanzipation, die Veränderung des Geschlechterverhältnisses, all das war mir oft zu konkret. Eigentlich ist meine liebste Definition von Tanz – wenn er mich wirklich interessiert – dass ich einfach das Gefühl habe, da oben auf der Bühne, das sind genau solche Menschen wie ich. Ganz genau so, nur können die sich unendlich viel besser bewegen, und um Bewegung geht es auch. Nicht darum, ob der Mann findet, der Präsident sollte eine Frau sein.

Das sind außerästhetische Aspekte, die zwar notwendig einfließen in die Kunst, in dem sie das Leben der Künstler beeinflussen. Aber der Tanz ist nicht dafür berühmt, dass man mit ihm Ideen wie Lohngleichheit darstellt. In diesem Sinne ist auch der Surrealismus eigentlich eine Art Ideologie. ›Träume sind toll, sie sind phantastischer als die Wirklichkeit‹ – das finde ich überhaupt nicht! Bei Bildern von Salvador Dalí bin ich sofort raus. Der Surrealismus, den ich oft einfach abscheulich kitschig und unattraktiv finde, der ist eigentlich auch so ein ganz starkes Element vieler Tanz-Theaterstücke. Wenn etwa bei Jiri Kylian Hände aus einer Wand kommen … Manchmal allerdings kann es überraschend und witzig sein. Es gibt Momente bei Pina Bausch, wenn Krokodile oder Nilpferde über die Bühne laufen oder Tänzer in Aquarien eintauchen, die sind großartig. Aber das hat sie eben gemacht. Warum sollte man das noch mal machen. Und doch gibt es heute so unendlich viele Tanztheater-Stücke, wo man einfach nur so denkt, oh Gott, gähn. So eine Art uninformierter oder uninspirierter und nicht
wirklich origineller Theater-Surrealismus.

Lass uns über die Tänzer/innen und über Birgit Keil sprechen. Du stellst in deinem Buch über sie die Frage nach der Begabung. Woran erkennen Ballettmeister, Ballettdirektoren und Choreographen, welche Zukunft in einer Tänzerin angelegt ist? Warum war Birgit Keil so erfolgreich, was war so gut an ihr? 

Immer wieder ist sie in ihrem Berufsleben durch Krisen gegangen, in denen sie ihr Liebstes, das Tanzen, fast verloren hätte; nicht wusste, ob sie jemals wieder schaffen würde, zurückkommen auf die Bühne, nach Verletzungen, nach Operationen. Dann ist John Cranko viel zu früh und vollkommen unerwartet gestorben. Da stand die ganze Kompanie unter Schock. Birgit Keil hat nicht nur einen Freund in ihm verloren, sondern ihren Mentor, ihren Lehrer, den Mann, der für sie Rollen geschrieben hat, der sie wirklich so kannte, wie sie sonst niemand als Künstlerin kannte. Wenn du so jemanden verlierst, ist das wahnsinnig hart. 

Bei all dem hat sie immer wieder einen neuen Weg gefunden, sich mit dem Tanz zu beschäftigen, und ich glaube, dass diese Energie, die da in ihr vorhanden ist, sich mit den Jahren eher noch verstärkt hat. Das sieht man im Ergebnis, in ihren Auftritten, ihrer Arbeit, ihrem Unterricht, ihrem Coaching.

Sie hat ja auch etwas von einem Filmstar, ähnlich wie bei Audrey Hepburn hat sich in ihr das Bild, das ihre Zeit von Schönheit hatte, ausgedrückt. Wie sie gelebt hat, sich gekleidet, bewegt und gedacht – da war sie eins mit ihrer Gegenwart. So wird man zur Ikone, wenn man genau die Aufgabe erfüllt, an dem Platz, an den man gerade gestellt ist und das mit Liebe und Hingabe tut. Man spürt, das ist das Richtige.

Was hat sich in der Kultur des professionellen Tanzes in den letzten 40, 50 Jahren verändert?

Na, ich weiß es nicht, da gibt es ja auch so wahnsinnig viele und verschiedene Modelle von Ensembles, zum Beispiel ticken die Pariser völlig anders als die Karlsruher oder die Münchner. Aber generell kann man sagen, seit der Eiserne Vorhang gefallen ist, ist die Tanzwelt noch einmal internationaler geworden und die Grenzen zwischen nationalen Schulen – der englischen, französischen, amerikanischen und russischen – verschwimmen. Die klassischen Ensembles tanzen alle auch wildeste Uraufführungen, ohne Angst zu haben, ihre stilistische Reinheit zu verlieren. Stars vom ABT aus New York verpflichten sich ans Bolschoi! Etwas aber bleibt gleich, etwas, was das Tanzen beispielsweise vom Musizieren sehr unterscheidet. Musiker üben mit ihrem Instrument ganz für sich alleine, erst zur Probe kommen sie zusammen und arbeiten dann am Stück. Tänzer üben im gemeinsamen Training, bevor sie probieren und ich glaube, dass dich das einfach Tag für Tag wieder lehrt, zur Basis zurückzukehren, du siehst im ständigen Vergleich, wie du älter wirst als Tänzer, und du siehst einfach dein Tänzerleben hindurch, wie die Jüngeren hinter dir stehen und dann neben dir stehen und dann vor dir stehen. Ich glaube, das lehrt dich Bescheidenheit und das lehrt dich auch irgendwie so etwas wie: klar, bist du die Konkurrenz von dem, der neben dir steht, aber irgendwie auch nicht. Irgendwie seid ihr auch alle zusammen Schwanensee.

Die besten waren die, die das nicht als Konkurrenz empfunden haben in dem Moment?

Genau.

Und was machen die, die später nicht so eine Stelle haben oder eine Stiftung gründen wie Birgit Keil?

Inzwischen gibt es ja auch Stiftungen, wie die Stiftung Tanz / Transition Zentrum Deutschland, die helfen, sich ein neues Berufsleben aufzubauen. Es ist bekannt, dass Tänzer aus ihrem Beruf wahnsinnig viele Qualitäten mitbringen, die es ihnen erleichtern, sich noch mal einen neuen Beruf anzueignen. Zum Beispiel haben sie keine Angst davor, dauernd zu lernen. Auch lange Stunden diszipliniert zu arbeiten, hart zu arbeiten, ist in der Regel kein Problem. Aber sie müssen erst mal dieses Leben loslassen; das ist, glaube ich, für die meisten schwierig, das stelle ich mir hart vor, diesen Schnitt zu machen. ¶