Das Ende kommt auf leisen Sohlen. Vielfach erahnt, ist es erschreckend plötzlich da. Den Beifall der Kommilitonen noch in der Ohrmuschel klebend, das Zeugnispapier druckwarm in der Hand – schon stehst du wieder ganz am Anfang. Was jetzt? War‘s das? So ging es Esther Bishop nach ihrem Oboenstudium. Ihr war klar, dass sie nicht ins Orchester will, auch Unterrichten und »Muggen« konnte sie sich nicht vorstellen. Die schlichte Ermangelung an Alternativen lösten in ihr gegen Ende des Studiums eine völlige Orientierungslosigkeit aus – und damit ist Esther Bishop nicht allein. Es ist eine inzwischen offenkundige und doch ignorierte Tatsache, dass rein rechnerisch nur ein Bruchteil, nämlich rund ein Fünftel der Absolventen eines künstlerischen Studiengangs einer deutschen Musikhochschule eine Orchesterstelle bekommen können. Schätzungen zufolge werden 8 von 10 Absolventen keine feste Anstellung finden und sich den Herausforderungen des freien Musikermarktes stellen oder anderweitig Beschäftigung finden müssen. Trotzdem werden blind weiter Orchestermusiker ausgebildet – auf eine Zukunft als freie, selbstständige und selbstorganisierte Musiker*innen werden die Studierenden nicht vorbereitet. Esther Bishop tut – sechs Jahre nach ihrem Abschluss – viel dafür, dass sich das ändert. Sie ist statt Orchestermusikerin Musikforscherin geworden, hat sich »an ihrem eigenen Thema abgearbeitet« und erstmalig wissenschaftlich den Zusammenhang zwischen den tatsächlichen beruflichen Aktivitäten der Absolvent*innen und ihrer Musikhochschulausbildung erforscht. Sie ist Projektkoordinatorin des Programms Lehre hoch n der Töpfer-Stiftung und promoviert über künstlerische Musikerbildung in Deutschland. Ein Gespräch über Tücken der deutschen Musikhochschulausbildung, den Sinn und Unsinn der Marktorientierung und die Black Box des Einzelunterrichts.

Esther Bishop
Esther Bishop

Du hast 2014 eine bundesweite repräsentative Absolventenstudie an deutschen Musikhochschulen durchgeführt. Diese hat ergeben, dass es nur 20 % der ehemaligen Studierenden am Ende ins Orchester schaffen, die Mehrheit der Absolvent*innen ist später freischaffend tätig. Trotzdem dominiert das Berufsziel ›Orchestermusiker‹ immer noch die Studiengangsinhalte und Curricula. Warum?

Das hat ganz viel mit der historischen Entwicklung zu tun. Dadurch, dass es in Deutschland unglaublich viele Orchester gab, fanden diese Studiengänge lange Zeit Abnehmer. Heute müssen die deutschen Absolvent*innen sich bei der internationalen Konkurrenz durchsetzen. Hinzu kommt die Schließung und Fusionierung von Orchestern in den letzten Jahren. Es ist aber auch eine Berufungsfrage: Wer wird denn heute auf eine Professur berufen? Meistens die, die früh erfolgreich sind, eine tolle Orchesterstelle hatten und Wettbewerbe gewonnen haben. Also diejenigen, die den traditionellen Orchesterweg gegangen sind. Dieses Rollenbild setzt sich durch und man lernt es als Studierender kennen. Oft besteht auch einfach kein Kontakt zu Freischaffenden – diese Welten sind komplett voneinander getrennt. Es entsteht eine Pfadabhängigkeit, die man den Leuten nur bedingt zum Vorwurf machen kann. Man sollte sich als Professor*in aber über die eigenen Grenzen in der Erfahrung mit anderen Karrierewegen bewusst sein und dafür sorgen, dass diese anderen Wege auch im Hochschulalltag repräsentiert werden.

Abbildung aus: Bishop, Esther (2018) »Musikstudium und danach« in: Tröndle, Martin (Hg.)(2018): Das Konzert II, Beiträge zum Forschungsfeld der Concert Studies, Bielefeld: transcript, S. 333-347
Abbildung aus: Bishop, Esther (2018) »Musikstudium und danach« in: Tröndle, Martin (Hg.)(2018): Das Konzert II, Beiträge zum Forschungsfeld der Concert Studies, Bielefeld: transcript, S. 333-347

In der Studie gaben 70 % der befragten Absolventen an, sich im Musikstudium unzureichend über berufliche Perspektiven informiert zu fühlen. Gleichzeitig schätzen die meisten Befragten Kontextfächer wie Projektmanagement, Marketing oder Ästhetik als unwichtig ein und geben an, sich hauptsächlich außerhalb des Musikhochschulkontexts über ihre Karrieremöglichkeiten zu verständigen. Das deutet auf ein grundsätzliches Verständigungsproblem hin.

Absolut. Das ist ziemlich absurd. Genau hier müssen die Hochschulen ansetzen und schauen, wie diese Themen integriert werden und klären, wer hier mit wem reden muss. Man darf an dieser Stelle aber nicht nur den Hochschulen die Schuld geben. Die liegt auch bei den Studierenden, die nicht am kulturellen Leben teilnehmen oder das vorhandene Fächerangebot nicht für wichtig erachten. Vielen Studierenden wird das Bedürfnis dieser sogenannten ›Service-Fächer‹ erst bewusst, wenn sie nach dem ersten Probespiel merken, dass nicht die ganze Welt auf sie gewartet hat.

Andere europäische Länder wie z.B. Großbritannien und Finnland sind sehr viel weiter damit, Musikstudierende auf andere Berufsbilder vorzubereiten. Warum bildet Deutschland so konservativ aus?

Wir haben in Deutschland eine reiche Orchesterlandschaft, man beruft sich auf diese Tradition. In anderen europäischen Ländern gibt es verglichen dazu sehr viel weniger Orchester. Notgedrungen sind deswegen viele der Musiker*innen auf anderen Märkten unterwegs und fordern das dementsprechend ein. Eine Lobby für Freischaffende in Deutschland gibt es so nicht – das ist in den UK zum Beispiel anders. In Deutschland stand lange Zeit der Werk- und Komponistenbegriff über allem. Als ich Oboe studiert habe, war der Begriff ›Markt‹ zum Beispiel noch vollkommen negativ besetzt – das ist heute nicht mehr so extrem.

Abbildung aus: Bishop, Esther / Tröndle, Martin (2017): Tertiary Music Performance Education: An Outdated Concept of Musicianship or Artistic Education for Life?, Music & Practice 3, 
Abbildung aus: Bishop, Esther / Tröndle, Martin (2017): Tertiary Music Performance Education: An Outdated Concept of Musicianship or Artistic Education for Life?, Music & Practice 3, 

Wie müsste eine ideale Musikhochschulbildung in Deutschland aussehen, die der Veränderung des Musikmarkts Rechnung trägt?

Die gibt es nicht. Was wir heute haben ist eine gigantische Diversität von Musikberufen. Alle in Studiengängen abzubilden, würde zu einem riesigen Chaos und einer Überforderung des Systems führen. Studiengänge wurden früher als Ausbildung gedacht und konzipiert. Genau das funktioniert aber für den heutigen Markt nicht mehr. Wenn ich eine Tischlerausbildung mache, lerne ich, wie ich aus Holz einen Stuhl baue. Wenn ich aber noch gar nicht weiß, wie der spätere Beruf aussehen soll, muss ich die Studierenden in die Lage versetzen, ihren eigenen Weg zu entwickeln. Ich muss ihnen Werkzeuge an die Hand geben, mit denen sie auf die unterschiedlichsten Arbeitsbereiche bestmöglich vorbereitet sind. Wir müssen also zu einem neuen Studienbegriff finden.

Eine ketzerische Frage: Kann man wirklich von Bildung sprechen, wenn man vor allem die passgenaue Ausbildung für einen Markt vor Augen hat?

Ich glaube der ganze Employability-Diskurs ist häufig verkürzt. ›Employable‹ zu sein meint nicht, dass du für einen speziellen Beruf ausgebildet wirst, sondern, dass du beschäftigungsfähig bist – das ist ein Riesenunterschied. Und am Ende wollen wir ja alle irgendwie unser Brot verdienen. Das muss aber nicht zwangsläufig heißen, dass man für einen speziellen Beruf ausgebildet wird. Es geht darum im Sinne des Bildungsanspruchs die Praxis auch auf einer theoretischen Ebene zu abstrahieren und sich zu fragen: Was mache ich da? Was ist der Gegenstand?

Hinter dem impliziten Vorwurf, man würde nicht für den heutigen Musikmarkt ausbilden, steht eine gesamtgesellschaftliche Debatte darüber, was man mit einer universitären Kunst- und Musikausbildung will. Muss das Musikstudium einem Markt genügen? Ist nicht gerade die Freiheit von Zweckmäßigkeit die Rechtfertigung für jede Kunst?

Interessanterweise wird die Debatte darüber, ob Musik Kunst ist in der Musik kaum wissenschaftlich geführt. Wir wissen gerade schlicht nicht, wann Musik Kunst ist. Ab wann ist eine Interpretation eine Interpretation, ab wann ist sie Kunst? Wo unterscheidet sich ein guter Instrumentalist von einem Künstler / einer Künstlerin? Welche unterschiedlichen Rollenausprägungen hat das zur Folge? Es würde sehr gut tun, diese Diskussionen in Bezug auf die künstlerische Musikerbildung grundlegend zu führen.

Wir haben beide unsere hochschulpolitischen Erfahrungen als Studierende gemacht und erlebt, dass es eher schwer ist, aus der Struktur heraus Reformen anzustoßen.

Das ist sicher eine Frage der akademischen Selbstverwaltung. Veränderungen werden hier nicht top down getroffen. Es dauert zwar ewig, bis man sich durch die Hochschulgremien geackert hat, aber wenn die Entscheidungen getroffen sind, wird das von wirklich vielen getragen. Das ist ein partizipativer Prozess, der gut gemanagt sein muss – eine sehr komplexe Aufgabe. Bedenklich ist, dass bisher keiner weiß, was im künstlerischen Hauptfach passiert. Das ist eine völlige Blackbox.

Nicht nur auf pädagogischer Ebene bedenklich. Gerade angesichts der jüngsten Vorfälle in der Münchner Hochschule– und das ist ja wahrlich kein Einzelfall– sollte man gerade bei diesem intimen Zweiersetting genauer hinschauen.

Es ist methodisch sehr schwer, dem näherzukommen, weil man als Forscher*in in dem Zweiersetting natürlich durch die bloße Präsenz viel verändert. Im Einzelunterricht gibt es oft extrem intime Situationen. Und jeder Studierende geht einen sehr eigenen individuellen Weg. Wir wissen, dass Studierende eine extrem hohe Abhängigkeit zu ihren Professoren haben. Das muss man sich als Hauptfachlehrer*in bewusst machen und versuchen, das zu öffnen. Andere Methoden wie Team-Teaching sind da der richtige Anfang. Ich fände es auch sehr sinnvoll, wenn Hauptfachlehrer*innen untereinander hospitieren würden. Viele Professoren und Professorinnen unterrichten sehr aus dem Bauch heraus. Das klappt mal und mal klappt es nicht.

Du hast nun das Programm Lehre hoch n mit initiiert, in dem sich Dozierende und Mitarbeiter*innen an Musikhochschulen mit Projektvorschlägen aus Bereichen wie Lehrinnovation, strategische Hochschulentwicklung, Studienreformprojekte bewerben können. Wie genau sieht das aus?

Wir haben ein Programm entwickelt, das Projekten von Lehrenden, die aus der künstlerischen Lehre kommen, bei der Entwicklung und Umsetzung hilft. Es haben sich jeweils Teams aus mehreren Statusgruppen der Hochschule (Leitungsfunktion, künstlerische Lehre und Administration) beworben. Diese Teams arbeiten jeweils gemeinsam an ihrem Projekt. Das Programm ist in vier Seminare und nach unterschiedlichen Schwerpunkten gegliedert. Sie sind so gewählt, dass eine breite Spanne an Themen adressiert wird, die sowohl den Kern der Lehre, als auch den Kontakt zwischen musikalischer Praxis und Hochschule und die Gestaltung von Veränderungsprozessen betrifft. Erfahrungsgemäß bildet sich dabei eine Community unter den Teilnehmern, die langfristig und positiv mit dem Thema Veränderung umgeht.

Die Teilnehmer treffen sich vier Mal im Jahr. Ist das nicht reine Kosmetik?

Das Programm ist schon viel mehr, als alles, was es bisher gab. Es existieren bisher keine Weiterbildungsprogramme, die administrative und dezidiert künstlerische Prozesse ansprechen und diesen Prozess mit künstlerischen Hauptfachprofessoren gehen. Wir bemühen uns außerdem darum, dass die Teams einen Mini-Querschnitt durch die Hochschullandschaft geben, damit die jeweiligen Projekte auch hinterher eine Chance haben, realisiert zu werden. Es ist optimal, wenn das jeweilige Hochschulteam, das an dem Programm teilnimmt, aus Leitungspersonen, Personen der künstlerischen Praxis und des Qualitätsmanagements  zusammengesetzt ist. Musiker*innen sind verdammt kompetitiv. Sobald da die ersten Ergebnisse in die Hochschulen sichtbar werden, ziehen die anderen nach – da mache ich mir wenig Sorgen.

All diese Punkte zu realisieren, bedeutet, an einigen Grundfesten der bisherigen Hochschullehre zu rütteln. Wollt ihr die Musikhochschulen komplett umkrempeln?  

Nein. Es wäre auch vermessen, zu behaupten, dass wir genau wissen, wie Hochschulausbildung aussehen soll. Wir wollen der künstlerischen Musikerbildung dabei helfen, sich aus den Hochschulen heraus entwickeln. Dafür helfen wir den teilnehmenden Akteuren für ihre Projekte klare Kommunikationsstrategien und einen Projektmanagement-Fahrplan zu entwickeln. Im Grunde sind wir also nur die Geburtshelfer, die unterstützen und neue Projektideen zu realisieren. Darüber hinaus gibt es wertvolle Impulse von Akteuren der Musik- und Bildungsszene. Wir wollen vor allem eine Plattform schaffen, auf der die Teilnehmenden sich über eigene Ideen austauschen können. ¶

... geboren 1987, aufgewachsen in Bamberg, studierte Schulmusik, Elementare Musikpädagogik und Kulturmanagement in Weimar, Helsinki und Friedrichshafen. Sie war Mitglied in zahlreichen Hochschulgremien und schrieb Artikel für diverse Musikzeitschriften. Nach Stationen beim Kunstfest Weimar, Rheingau Musik Festival, Podium Festival Esslingen und Beethovenfest Bonn arbeitet sie derzeit als Projektleiterin des Liedzentrums beim Heidelberger Frühling. Sie fühlt sich beim Raven ebenso zuhause wie...