Seit 1998 habe ich keine ESC-Ausgabe verpasst. Damals, eben 1998, belegte Deutschland mit Guildo Horns sympathisch-überzogener Quatsch-Umarmung Guildo hat Euch lieb! einen guten 7. Platz. Am darauffolgenden Sonntagmorgen hatte ich Orgeldienst in meiner Gemeinde und schmückte ein Choral-Vorspiel mit den entsprechend rhythmisierten Refrain-Tönen d2, h1, a1, fis1 und d1 aus. Niemand hat’s gemerkt.
27 Jahre später habe ich mir erstmals alle Songs des ESC-Jahrgangs 2025 angehört und sie aus der Perspektive eines Klassik-Hörers analysiert (auf Basis der offiziellen Musikvideos). Dabei wollte ich tatsächlich alle 37 Lieder einbeziehen, also auch jene, die die Halbfinal-Runden mutmaßlich nicht überstehen werden. Am Samstag, den 17. Mai kommt es dann in Basel zum entscheidenden Finale. Die Stimmen werden jeweils von einer Länder-Jury und von den ESC-Fans an den Apparaten abgegeben – und dann zusammengerechnet. Das kann, wie gewohnt, dauern. Um diese Zeit zu verkürzen, gebe ich hier Einblicke in meine Tipps. Diese betreffen dabei nicht meinen eigenen Geschmack, sondern zielen auf die jeweils von mir vermuteten Platzierungsergebnisse.
Die Beiträge habe ich im Folgenden in alphabetische Reihenfolge gebracht, von Albanien – bis Zypern. Das erste Halbfinale ging schon über die Bühne, für Slowenien, Belgien, Aserbaidschan, Kroatien und Zypern hat es nicht gereicht – sehr ähnlich habe ich es kommen sehen, nur den belgischen Beitrag hätte ich im Recall vermutet. Fünf Platzierungen (»erreichte nicht das Finale«) stehen also schon fest. Ihren Platz in diesem Text bekommen die jeweiligen Songs trotzdem, auch eine miese Performance will besprochen sein. Es bleiben 32 offene Platzierungen – und wie immer gilt: Bei den Live-Darbietungen selbst kann noch viel passieren!
Albanien
Shkodra Elektronike: Zjerm
Tipp: Platz 15
Der in Landessprache vorgetragene ESC-Song Albaniens Zjerm (hier der Text) spielt – wie erstaunlich viele Songs dieses Jahr (siehe weiter unten) – vermeintlich mit »politischen Themen unserer Zeit«. In der ersten Strophe heißt es: »Stell dir eine Minute ohne Soldaten, ohne Waisen vor.« Pre-Refrain und Refrain fallen dann vom Gewicht etwas ab, erzählen von einem »reinen Herzen«, von Licht, das in der Nacht ausgesendet wird – und schließlich von guten Menschen, Tänzen im Kopf und von einem eher unspezifischen »Leuchten«. In Albanien ist das Lied wohl zum Hit geworden. Ganz zu Beginn erklingt eine solistisch auftrumpfende albanische Langhalslaute, eine Çiftelia. Klatsch-Stampf-Rhythmen ergänzen das Ganze. Der Gesang von Shkodra Elektronike hängt lustig in der Luft. Bald stimmt man glockige Töne an, dazu spielen echte Streicher einen Begleitteppich, der sich gewaschen hat. Schön, dass die Geigen im Folgenden einen wirklichen Kontrapunkt zur Gesangsstimme bilden! Hier und da bleibt ein einzelnes Wort im Raum stehen und dreht sich repetierend weiter. Irgendwie nachdenklich, zwielichtig, stoisch. Nach einem Quasi-Intermezzo »rappt« ein etwas furchteinflößender Mann ganz in Schwarz bewegungslos ins Mikro. Eine leichte Steigerung am Schluss, verhaltene Leidenschaft, dazu eine zu grelle Lightshow, wie sie typisch für den ESC ist. Trotz allem: Über contestübliche Folk-Pop-Massenware kommt das Konstrukt leider nicht hinaus.
Armenien
PARG: Survivor
Tipp: Erreicht nicht das Finale
Der englische Text des armenischen ESC-Beitrags macht zunächst erneut – siehe Albanien – den Eindruck, man wolle mittels einer Art »Stellungnahme zur Zeit« versichern, dass das hier nicht bloßer Eskapismus ist: »I’m sick of the news, i’m sick of the views, i’m sick of the lies they’ve told.« Man stellt sich vorgeblich der Realität und beschwört das mehrfach Popmusikgeschichte gewordene »Survivor«-Prinzip im Refrain: »Ich bin ein Überlebenskünstler!« Schnarrend hebt der Song an, dann ein laxer Ruf-Chor aus dem Hintergrund, offensive Auftaktbeats, dazu ein Sprechgesang aus Stein. Zum »Survivor«-Refrain kommen knatternde Drums hinzu. Zwischendurch vernimmt man sogar so etwas wie »komponiertes Gelächter«: eine Referenz an all die auskomponierten Lacher der Musikgeschichte, gipfelnd im bitteren Lachen des Bajazzo in Ruggero Leoncavallos Verismo-Schlager Pagliacci (1892)? – Nein, sicher nicht. Nach fast zwei Minuten dann die Reduktion, der Neubeginn »aus dem Nichts«, das Wiederauferstehen des Überlebenden. Ein Song, den man sich als Achtjähriger vielleicht zum Spiel mit den Figuren aus »Masters of the Universe« gewünscht hätte. Für die Mottenkiste also gerade noch adäquat. Kein Kandidat für das Finale. Furchtbar!
Aserbaidschan
Mamagama: Run With U
Platzierung: Erreichte nicht das Finale
Der englische Lied-Text liest sich wie von einer schlechten Musik-KI generiert: »You electrify, never felt so high«, »Heartbeat takes control, moves my body and soul« – und im Refrain: »No matter what you do tonight, I wanna run with you.« Die Erlebnisse einer heißen Nacht, Verliebtheit, Jung-Sein, Frei-Sein – Dumm-Sein. Ganz am Anfang bölken durchaus angenehme Bass-Synthesizer-Klänge in die Magengegend. Der Solo-Gesang erinnert in seiner falsettartigen Attitüde an Michael Jackson. Der Refrain funktioniert überraschend gut. Aber der Song ist zu übernostalgisch, zu »computerartig« in seiner Gesamtklanggestalt; einerseits nicht richtig zum Tanzen geeignet, auf der anderen Seite nicht »zeitgemäß« genug – was eigentlich für diesen Song spräche. Doch fürs Finale reicht das nicht. Schade.
Australien
Go-Jo: Milkshake Man
Tipp: Platz 20
Ein pornographischer Song aus Australien, dem Land, das beim europäischen Gesangswettbewerb mitmachen darf, weil die Fan-Community dort unten so groß ist. Der englische Text könnte aus einem Erotik-Tankstellen-Heftchen der 70er stammen, so geschmacks- und hirnbefreit sind die unlustigen »Vergleiche« von Obst und anderen Nahrungsmitteln mit Interieur aus etwaigen erotischen Fantasien. Im Refrain wird schließlich gestöhnt: »Du kannst mich den Milchshake-Mann nennen, ich will so viel Milch schütteln, wie ich kann. Sie kennen meinen Namen im ganzen Land, ich weiß, dass du den Milchshake-Mann ausprobieren willst.« (Nein, das möchte ich bitte nicht.) Mit einem Spielzeugklavier wird die Einleitung bestritten. Dann wechselt der Song das Soundgewand komplett und es geht mitten hinein in dieses von einem Frauenchor im Hintergrund gelegentlich säuselnd unterstütztes Nichts. Der Chor gibt dann im Refrain einzelne Worte vor – und eine Fahrradklingel bildet die Zäsur zwischen Refrain und nächster Strophe. Interesselose Beats fordern zum Tanzen auf. Ein Lied wie eine Nacht, in der man auf der Tanzfläche quietschend etwas zwanghaft zu viel Energie ließ, obwohl die Stimmung im Grunde nicht überragend war. Eine Einladung zum Vergessen.
Belgien
Red Sebastian: Strobe Lights
Platzierung: Erreichte nicht das Finale
Ohne richtiges Intro sollen wir in die düstere Atmosphäre dieses Songs hineingeholt werden. Nur ein Crescendo-Sound-Schwall steht zu Beginn des Lieds. Textlich heißt es in diesem auf Englisch präsentierten Song: »Strobe lights, gettin‘ lost in your eyes, cotton candy haze, we’re floatin’ ‘round in space.« Mit gehauchtem Bass-Bariton beginnt Red Sebastian seine Darbietung, dann ein Bruch und ein bouncender Bass-Beat setzt ein. Überraschend verortet sich die Stimmlage des Sängers jetzt eher in tenoralen Bereichen. Red Sebastian singt etwas von »Connection« und geht immer höher mit der Stimme. Besonders »connecting« ist das Lied aber nicht. Techno-Massivitäten der frühen 90er Jahre sorgen bei eingefleischten Fans vielleicht für Nostalgie. Hier will ein Song durch das Herzeigen des sängerisch weiten Ambitus’ des Solisten überzeugen. Eine Taktik, mit der man sich in den letzten Jahren immer mal wieder auf die ESC-Bühne wagte. Und im Grunde eine interessante Entwicklung (wenn es denn eine Entwicklung ist und es in der U-Musik die ambitusmäßigen »Ausbrecher« nicht immer schon gab): Während in der E-Musik die Stimmfächer mit einem recht exakt abgesteckten Stimmumfang wie in Stein gemeißelt sind, nimmt sich die U-Musik das von der Klassik, was ihr, der E-Musik, von außen immanent zu sein scheint: nämlich das Beeindrucken-Wollen durch Ambitus-Kunststücke. Die vermeintliche E-Musik-Herkunft derart vokaler Shows wird dabei häufiger dadurch kenntlich gemacht, dass Moderatoren aus der U-Musik-Richtung dies staunenmachend mit Bemerkungen wie »Die Sängerin verfügt über einen Stimmumfang von dreieinhalb Oktaven!« kommentieren, wobei zu befürchten ist, dass 99 Prozent der Bevölkerung inzwischen das Wissen, was denn mit dem Begriff »Oktave« überhaupt gemeint sein könnte, abhandengekommen ist. Im ESC-Song Belgiens ist dieses – selbstredend immer willkommen rezipierte und legitime – Vokal-Kompetitive sehr dominant. Damit hätte er seine Jury-Stimmen bekommen können, wiewohl der Song selbst recht schwach und die Stimm-Virtuositäts-Konkurrenz aus Österreich dieses Jahr nicht zu schlagen ist. Belgiens Beitrag hatte ich ursprünglich im Finale gesehen. Die Votes haben anderes entschieden. (Red Sebastian hat aber auch wirklich sehr unsauber gesungen …)
Dänemark
Sissal: Hallucination
Tipp: Erreicht nicht das Finale
Die englischsprachigen Zeilen des dänischen Beitrags erzählen von einer augenöffnenden Liebe, von ganz neuen Farben, die erst jetzt, im Zeichen des Miteinanders hell leuchten. Die Gefahr schwingt selbstredend mit: »I’m paranoid, slipping from reality, your’re leading me into another fantasy«. Ein Solo-Gesang mit sentimentaler 80er-Popcorn-Reminiszenz. Beim Refrain lässt die Sängerin Sissal hohe Töne hören. Prompt wird es ruhiger – und staut sich erneut auf. Leider erinnert das einmal mehr viel zu sehr an die Loreen-Songs der letzten Jahre: in diesem Hochgehen mit der Stimme, im Einheits-IKEA-Rahmen dieser durch weit und breit wirklich nichts zuvor vermittelten Ekstase. Viele Songs des diesjährigen Jahrgangs imitieren bewusst oder unbewusst Loreen-Songs; und das ist bitter, zumal, wenn es als immer weiter penetriertes »Mittel« erkannt wird. Nach ungefähr zweieinhalb Minuten »gesellt« sich dann auch die elektronische Bass Drum dazu, die Windmaschine wird angestellt, die Haare wehen. (Auch in Kopenhagen: Drei-Wetter-Taft!) Wie bei vielen ESC-Songs 2025 und in den letzten Jahren: Eine Ballade ist keine Ballade, ist keine Ballade – mehr! Das Vertrauen in einen schönen, ruhigen Song: dahin! An einem bestimmten Punkt jedes zweiten Songs scheint – wie ein nervtötender Räuspertick eines Nebensitzers in der stillen Ecke der Uni-Bibliothek – immer, auch wirklich immer ein »stampfender Beat« hinzukommen zu müssen. Why, warum, pourquoi? Sollen wir uns vorher in den Armen liegen, an verflossene Liebschaften denken, um dann urplötzlich völlig ekstatisch abzuzappeln? Niemand macht so etwas! Musik ist kein All-In-One-Kunst! Deshalb auch hier, im Zeichen des dänischen Beitrags: Ein Konstrukt scheitert auf ganzer Linie. Dieser Song: hoffentlich nur eine Halluzination. Möge er völlig verdient im Halbfinale ausscheiden!
Deutschland
Abor & Tynna: Baller
Tipp: Platz 16
Die deutschsprachigen Lyrics dieses Beitrags sind gar nicht schlecht. Was genau hier »geballert« wird oder »ballert«: Das ist – zum Glück – recht symbolisch umgesetzt. »Löcher in die Nacht« sind es fürderhin, die, wie man uns mitteilt, wohlweißlich geballert werden. Offenbar will sich hier jemand einerseits, das Leben genießend, ablenken, will tanzen, frei sein – denn ein Rest-Schmerz ist noch da: »Es tut noch bisschen weh, wenn ich dich wieder seh.« Wo eigentlich? Auf der Tanzfläche? In der U-Bahn? Oder im Späti nahe des Paul-Lincke-Ufers zur Sommerszeit? Schließlich wird sogar recht attraktiv ins Englische gewechselt: »Ich will den Weltuntergang, huh, ich glaub‘, das wars, I shoot for the stars«. Ein junger Mensch im Zeichen großer Gefühle, die aufs gesamte Universum übertragen werden. So tönt Pubertät! Die musikalische Stärke des Lieds: Das Spiel mit dem Wort »Baller« und den jeweiligen Fortsetzungen: »La, la, la …« Das Problem: Die Sängerin hängt stimmlich in der Luft, weil es kaum eine vokale Umrahmung gibt, keine Füllstimmen, keine Instrumentalstimme, die irgendwie mitläuft, das Ganze voluminöser erscheinen lässt. Es ist ein Song, den man sich selbst im Computerkeller zusammengezimmert hat, aber der dennoch nicht unbedingt schlecht ist, der ein paar Menschen mitreißen dürfte. Das Wort »Baller« im Titel eines U-Musik-Beitrags ist eben noch nicht zu sehr abgegriffen – und auch deswegen hat dieser Song den ESC-Vorentscheid überstanden. In Gaming-Kontexten, in Audio-Memes und anderswo sind die Formulierungen »Ballern«, »Ich hatte Bock zu ballern!« und dergleichen präsent (gewesen). Und davon »lebt« dieser gar nicht so ganz unlebendige Song. Gleichzeitig riecht das Ganze etwas nach Peinlichkeit. Hier ist ein Teenager ein wenig angetrunken und berichtet offenherzig, was gerade so »geht«. Daran ist eigentlich nichts falsch. Sicher, als »cringe« wird das Lied vielleicht deswegen rezipiert, weil es aus Deutschland kommt – und »wir« nunmal nicht die »Dancing Nation No. 1« sind. Das Lied ist ein bisschen peinlich – und ganz süß zugleich. So peinlich wie ein etwas zu ausgelassener junger – »unfertiger« – Mensch. (Aber eben auch recht niedlich.) Chancen wird der Song nicht haben, sondern auf einem zweistelligen Platz landen. Mit Sicherheit. Ich schwöre bei den Sternen.
Estland
Tommy Cash: Espresso Macchiato
Tipp: Platz 9
Eigentlich heißt der in Tallinn geborene Sänger, der als »Tommy Cash« auf der Bühne steht, Tomas Tammemets. Der Rapper tritt für Estland mit dem Song Espresso Macchiato an, was im Vorfeld durch mehrere Hinweise von Stefan Raab, dem Initiator der drei Vorentscheidungsshows Chefsache ESC 2025 – Wer singt für Deutschland? (eine Kooperation von ARD und RTL), hierzulande schon wohlwollend »durchgestochen« wurde. Eben, weil er offensichtlich über Kaffee rappt. Und das ist ja nun nicht unbedingt des Rappers täglich Brot. Der tatsächlich auf Italienische wiedergegebene Text ähnelt dem Italienisch, das Michel Friedman in der legendären Durch die Nacht-Folge (mit Christoph Schlingensief) mit den Kellnern seines Lieblingsitalieners spricht; nur dort als wilder Deutsch-Italienisch-Mix, im 2025er ESC-Song Estlands mittels einer gehörig exquisit-falschen Englisch-Italienisch-Mischung. So heißt in der zweiten Strophe: »Mi like to fly privati with twenty-four carati, also mi casa very grandioso. Mi money numeroso, I work around the clocko, that’s why I’m sweating like a mafioso.« Die selbstironische Inszenierung eines reichen Dubai-und-Co-Reisenden (den es eben auch mal nach Italien zieht), in der Tradition von mehr oder weniger lustigen Nummern wie der Queer-»Hymne« I’m Too Sexyaus dem Geburtsjahr von Tommy Cash (1991), deren wirkungsgeschichtliche Macht und Einfluss auf viele ESC-Songs keinesfalls unterschätzt werden darf. Schon im Intro hören wir tarantellaartige »Italien«-Allusionen, ironisch-melancholisch in Moll gehüllt. Dann trudeln instrumentale Stimmen ein; ganz lustig. Eine Quasi-Arthouse-Veralberung touristisch-sonnenbeschienener Italien-Dance-Pop-Hits vergangener Jahrzehnte. Man darf gespannt sein, ob die Italiener selbst den Song goutieren – und ihm die Höchstwertung verpassen. Lustig ist er, si, si! Ein wunderbarer – bitter nach Nachmittagskaffeekonsum aus dem Mund oudierender – Hauch von Nichts.
Finnland
Erika Vikman: Ich komme
Tipp: Platz 7
Das von Erika Vikman mehrheitlich auf Finnisch gesungene ESC-Lied Finnlands Ich komme (hier der Text) soll offenbar provozieren. Tatsächlich treffen wir beim ESC nur selten auf explizit sexuelle Inhalte; wenn, dann bleibt es meist bei Andeutungen im Hintergrund – wie 2024 bei der »skandalösen« Butterfass-Szene von The-Great-British-Bake-Off-Moderatorin Mel Giedroyc während einer An-Moderation. Schließlich soll die Veranstaltung immer noch Familienfreundlichkeit ausstrahlen, dabei ist die Fan-Community doch eigentlich auf Party aus (was ihr gutes Recht ist). In der ESC-Ausgabe 2025 sehen und hören wir allerdings so viele pornographische »Andeutungen« wie noch nie. Ich komme kommt diesbezüglich ganz nach vorne im Ranking. Dabei werden nur die Titelworte wirklich auf »Deutsch« gesungen; dazwischen schiebt sich noch ein »Wunderbar«, was per se die verbliebenen Rammstein-Fans erfreuen dürfte. Der Rest des finnischen Songs ist absolut harmlos oder allzu banal in der Anspielungshaftigkeit: Es ist Nacht, eine Frau verliebt sich – und, ja: »Meine Pforten werden sich öffnen.« Im Refrain dann schließlich (auf Finnisch): »Ich bin Erika, willkommen! Du bist wunderbar, du Trance-Gott. Fühl dich wie zu Hause, tue was du willst und wenn du kommst: Ich komme mit dir!« Mit leicht jodelnd-falsettierendem Gesang fängt es an. Dann geht sich der Song zwischenzeitlich eher in Sprechgesang aus. Orchestral ist das Ganze gut arrangiert. Merkwürdig nur, dass den Machern niemand gesagt hat, dass das »komme« im deutschen Refrain-Wortpaar »Ich komme« nicht auf der letzten Silbe betont wird. Der die Titelworte im Background wiederholende Chor gemahnt dabei unabsichtlich – mit seiner universellen Verwendung der ersten drei Noten einer Dur-Tonleiter – an den Old-School-Abzählreim-Song Am dam des einer einst im ORF ausgestrahlten Kindersendung. Der Song Ich komme wird hintenraus von einem schnellen Beat davongetragen – und, ja, macht gute Laune. Das ist in Ordnung, vor allem in der dann doch deutlich als liebevoll-ironisch lesbaren Hymnenartigkeit.
Frankreich
Louane: Maman
Tipp: Platz 5
Frankreich tritt mit einem französischsprachigen Song an, der wirklich schön ist, textlich wie musikalisch. Ein Lied über Vergänglichkeit, Liebe und Mutterschaft. In der zweiten Strophe singt die 28-jährige Sängerin Louane, die 2020 zum ersten Mal Mutter wurde, sinngemäß: »Ich habe aufgehört, die Jahre zu zählen. Selbst wenn ich die Zeit anhalten wollte: Ich bin es, die mein Kind jetzt ›Mama‹ nennt.« Erstmal wundert man sich, warum der Song wie eine Hommage an die Musik zum Film Gladiator beginnt. Um das Ganze »aufzuweichen« kommen jedenfalls Geigen-Staccati dazu. Erst nach gut einer Dreiviertelminute darf endlich Louane singen. Und sie hat eine schöne Stimme! Und auch das Lied ist (ab Minute 0.45) gut. Warme Klavierakkorde und ein paar Rest-Streicher werden hörbar im Hintergrund. Nach eindreiviertel Minuten halten erneut die Gladiator-Trommeln Einzug. Diese stehen vielleicht schlichtweg für die Tatsache, dass die junge Mutter, die hier singt – und besungen wird –, eine Heldin, eine Gladiatorin ist. Ein berührendes Lied – im Grunde sogar das beste Lied. Die Ingredienzen: ein Refrain, der nicht zu vorhersehbar und dennoch gut mitsingbar ist, ein stolzes Arrangement, eine schöne Frauenstimme – und ein Lyric-Inhalt, den man nicht schon von überall her kennt. Man muss allerdings befürchten, dass Thema und Performance »nur« für Platz 5 insgesamt ausreichen. Bei den Fach-Jurys dürfte Maman weiter vorne landen, die bloße Masse will allerdings noch ein bisschen tanzen.
Georgien
Mariam Shengelia: Freedom
Tipp: Platz 19
Die Georgierin Mariam Shengelia singt mit Freedom einen Song, der im georgischen Text stellenweise Klangmalereien enthält (»Ani da bani, gani da doni«) und am Ende zum Englischen herüberswitcht. Wieder einmal geht es um Freiheit als elementare Kraft und Grundlage eigenen Lebens. Das Ganze wird verbunden mit üblichen Naturvergleichen (»Durst nach Wasser«). In Verbindung mit Gedanken an die georgische Geschichte und Kultur könnten Teile des Textes auch auf die Kämpfe für nationale Unabhängigkeit und die Sehnsucht nach Frieden und Freiheit innerhalb Georgiens oder der georgischen Diaspora stehen. Sphärisch hebt der Song an, ein leises Quietschen aus der Ferne. Eine Art Generalpause zu Beginn! Dann fast schon avantgardistische Klänge – und schließlich der merkwürdige Gesangseinstieg. Die Chor-Introduktion erinnert unangenehm an Vokalgruppen-Adiemus-Verbrechen der 1990er Jahre. Der gehauchte Gesang von Mariam Shengelia scheint dagegen etwas von Bedeutung abzusondern. Und im Hintergrund lauern die ewig »aufrüttelnden« Percussionsounds, die jeden zweiten Song des ESC 2025 verunstalten. Die »legendenartigen« Melodiezüge des Refrains sind nach Verklingen sofort vergessen. Aber das Anhalten, das bald von Klavier und Cello flankierte Beruhigen des Songs: durchaus überzeugend. Der Rest ist ESC-Plastik aus der Retorte.
Griechenland
Klavdia: Asteromáta
Tipp: Erreicht nicht das Finale
Der Text des ESC-2025-Beitrags aus Griechenland ist symbolisch extrem angereichert. Die erst 22-jährige Sängerin Klavdia singt von »Schwalben des Feuers«, von Erde, die nicht vergisst, vom Leben, das – nun ja – »wie ein Boot« ist. Die Skizze einer spirituellen Reise? – Allerhöchstens! Wer genau dann das »Mädchen mit den Sternenaugen« (siehe Refrain) sein soll: Wir wissen es nicht. Da hilft auch nicht die bedeutungsschwangere Solo-Gesangseinleitung, die doch etwas sehr abgesondert dasteht. Milde Hiatus-Schritte betreten einen leider recht leergebliebenen VHS-Kursraum. Titel des Seminars: »Die Geschichte Griechenlands in drei Sitzungen«. Bald wird Klavdia von einem leicht mysteriösen Synthie-Teppich unterstützt. Die Melismen, die Klavdia dabei zum Besten gibt, sind nicht unattraktiv. Nur erfreuen die teilabgegangenen Tonleitern und Motiv-Kerne nicht eben das Herz von innovationsfreudigen Melodie-Liebhabenden. Grundsätzlich könnte es intonatorisch etwas heikel werden, was die leicht archaischen Drums wohl übertünchen sollen. Ganz verschiedene Bass-Ideen purzeln in den Song hinein. Ein Lied, das sich überhaupt nicht entscheiden kann, was es eigentlich sein will: Klage-Ballade, Folk-Nummer, Ethno-Dance – oder doch nur ein typisches ESC-Produkt aus der leicht national eingecremten »Ich-will-alles«-Ecke? An Unentschlossenheit, am Kompromiss scheitert man künstlerisch immer. Und so wird es auch dieser Nummer ergehen, die das Halbfinale relativ sicher nicht überstehen wird. Ein ESC-gewordenes Stück Anbiederung an die Daheimgebliebenen – bei ebenso bemühter Konzession an eine Internationalität, mit der man so gar nichts zu tun haben will.
Großbritannien
Remember Monday: What The Hell Just Happened?
Tipp: Platz 11
Harmloses Chaos in dem Text des britischen Beitrags. Eine typische Hangover-Nacht, von der nicht klar wird, was genau passiert ist: Schlüssel verloren, Knie geschrammt – und woher stammt eigentlich das neue Tattoo auf den oberen Regionen meines Oberschenkels? Der freilich auf Englisch vorgetragene Song steigt direkt mit Gesang ein, dazu ein paar Klaviersounds. Zu der Stimme der Sängerin kommt ein Damen-Trio hinzu. Unverkennbar ein Gute-Laune-Song – mit interessanten Tempo-Wechseln, die schon fast rhapsodisch tönen. Alles sehr positiv, ohne grell zu sein. Gut produziert. Eine Frage stellt sich allerdings (vielleicht): Inwiefern kann die Damen-Vocal-Gruppe die Performance auch live annähernd stimmlich so präsent herüberbringen? Ein Lied, das auf sehr konkreten Vorbildern aufbaut, nein, eigentlich – wie fast jeder Song dieses Jahr – auf einen speziellen Erfolg rekurriert, nämlich in diesem Fall auf den globalen Impact der Musik von Taylor Swift, deren Ästhetik hier unverkennbar nicht nur »mits(ch)wingt«. Aber das hier ist alles andere als schlecht gemacht! Rachmaninow baute schließlich auch auf hohem Niveau auf Chopin auf, nur halt 100 Jahre nach Chopin …
Irland
Emmy: Laika Party
Tipp: Platz 10
Der englischsprachige ESC-2025-Song aus Irland – früher immer ein automatischer Mitfavorit – erzählt textlich eine erst einmal interessant klingende Geschichte. Von einem tapferen kleinen Mädchen ist die Rede, von der wir nur wissen, »dass sie die Welt gerettet hat«. Im Refrain erfahren wir dann, was wir beim Lesen des Songtitels vielleicht bereits ahnten: Bei dem »Mädchen« handelt es sich um die Hündin Laika, die im November 1957 an Bord der »Sputnik 2« mit in den Weltraum genommen wurde und dort einige Stunden nach Start des Flugkörpers starb. Kindlich jedenfalls die im Refrain ausgedrückte Hoffnung: »Ich hoffe, dass Laika niemals gestorben ist und dass sie immer noch um uns herumfliegt«. (Seit einigen Jahren verwendet man – verstirbt ein Hund oder eine Katze – auf Social Media merkwürdigerweise extrem konsequent die Formulierung: »Eine gute Reise über die Regenbogenbrücke wünsche ich dir!« Nur Gott weiß, woher dieser »Trend« stammt). Zunächst unternehmen wir eine musikalische Kurz-Zeitreise, zu der uns die instrumentalen Gimmicks am Anfang des Songs einladen. Der kindliche Gesang der Front-Frau korrespondiert gut mit den (kindlichen) Wünschen, die im Lied Ausdruck finden. Der Song wird angereichert durch ein gemeinschaftlich dargebotenes »Ba ra ram bam bam bam bam bam«. Dazu wummert ein trockner Beat. Leider ist der Song nicht spezifisch genug, die Gimmicks nicht richtig ikonisch. Die Gesangsstimme müssten sich viel häufiger niedlich-glucksich überschlagen, das »Ba ra ram bam bam bam bam bam« müsste noch angewuppter dargeboten werden (und von mehr Sängerinnen und Sängern bitteschön). So ist die Stimme der Solistin doch zu wenig umgeben von attraktiven Instrumental- und Vokal-Ereignissen. Etwas schade.
Island
Væb: Róa
Tipp: Platz 25
Die 2022 gegründete isländische Hip-Hop-Band Væb singt (Text) vom Rudern durch die Wellen, vom Highway-to-Hell-»Stopp-mich-bloß-nicht!« auf Isländisch sozusagen. Entschlossenheit, harte Wetterlage – und dort droben am Horizont: die Hoffnung! So unspezifisch der Text, so konkret powermäßig der Einstieg – nach einer ganz leisen »irischen« Ouvertüre. In Glitzer-Kostümen und Sonnenbrillen wird eine Choreo abgezogen, die jeder Abi-Ball-Performance zur Ehre gereichen würde. Ein Beitrag, der exakt so auch aus den Song-KI-Tools herausballert, wie wir sie 2024 mit viel anfänglichem Spaß verwendet haben. Da fehlt auch bei Minute 2.09 die typische Schlager-Rückung um eine kleine Sekunde nach oben nicht, die man im englischen Sprachbereich auch gerne »Truck Driver’s Gear Change« nennt. (Barry Manilow hat diesen Effekt, der Absoluthörenden bisweilen Abdominalschmerzen beizubringen imstande ist, prominent gemacht, so findet sich die Rückung der harmonischen Gesamtsituation um einen Halbton nach oben bei Minute 2.42 in Manilows Hit Mandyvon 1974.) Diese Rückung kann allerdings nie einen Song retten, auch nicht Róa. Ein Beitrag, der zum Mitgrölen und Mittanzen animieren will. Nicht unsympathisch, völlig legitim, denn die Jugend soll und möge tanzen. Aber das ist hier ist weder hyper-ironisch genug noch zu spezifisch »isländisch«. Und leider etwas billig.
Israel
Yuval Raphael: New Day Will Rise
Tipp: Platz 2
Die zunächst englischen Lyrics erzählen im Refrain, nach mehreren, sehr bekannten Natur-Mensch-Vergleichsbildern (»You are the rainbow in my sky«), von einem neuen Tag, der kommen wird. Nicht etwa dreht sich der Song aber um die politische Lage in Israel, sondern um Liebe, um Liebes- und Verlassens-Schmerz. Jedoch ist sicherlich intendiert, dass man als Rezipierender annimmt, es handele sich um ein »Lied zur Zeit«, allein, weil der Song den Titel New Day Will Rise trägt. Die Bridge des Songs wird dann auf Hebräisch gesungen. Es sind Worte aus dem Hohelied Salomo, Kapitel 8, Vers 7, die hier wiedergegeben werden: »Wären es noch so viele der Wasser: Die Liebe zu löschen vermögen sie nicht!« Der schöne Klang der hebräischen Sprache … An dieser Stelle dramaturgisch perfekt gesetzt, entfaltet jener Moment eine große Kraft. Zuvor, in der zweiten Strophe, war man bereits für ein paar Zeilen ins Französische hinübergewechselt, um die gleichen Worte, die zuvor auf Englisch gesungen werden, noch einmal zu bringen: »Selbst, wenn du ›Auf Wiedersehen‹ sagst, wirst du immer da sein. Du bist der Regenbogen in meinem Himmel, meine Farben im Grau, mein größter Wunsch nach einem Stern, nach Sonnenschein am Tag, das einzige Lied, das mein Klavier jemals spielt.«
Mehrsprachige Lieder gab es schon früh in der Musikgeschichte, so nach 1700 an der Hamburger Gänsemarktoper, wo Komponisten wie Reinhard Keiser oder Georg Philipp Telemann Opern vorlegten, in denen zwei, drei oder sogar noch mehr verschiedene Sprachen verwendet wurden. Aber es ist schon recht simpel, eine zweite Strophe 1:1 in einer anderen Sprache zu bringen, um Internationalität – man könnte es auch Anbiederung nennen – vorzutäuschen, die mit dem Einbau der eigenen Sprache (Hebräisch) dann doch wieder den Verweis auf die eigene Nation im Sinn hat. Dass das in diesem Song sehr präsente Klavier selbst im Refrain angesprochen wird, ist wiederum etwas subtiler – und verweist latent auf eine ganze Geschichte eines Phänomens, das man mit »Selbstreferentialität im Lied« überschreiben könnte. Nur die richtig coolen Liedkomponisten lassen die Instrumente weg, von denen konkret die Rede ist. In Gustav Mahlers Wunderhornlied Wo die schönen Trompeten blasen (1899) ertönen anlässlich des Moments, in dem der Liedtext die mit titelgebenden Trompeten auf den Plan ruft, eben keine Trompeten (obwohl diese im Orchester besetzt sind), sondern »lediglich« Hörner (in dieser Interpretation beispielsweise exakt bei Minute 8.00). Und in Arnold Schönbergs Serenade aus dem revolutionären Zyklus Pierrot lunaire (1912) sägt sich im Zeichen der Textzeile »Mit groteskem Riesenbogen kratzt Pierrot auf seiner Bratsche« (hier ab Minute 0.31) eben keine Bratsche, sondern ein Cello – in verdächtig hoher Lage – den Wolf. »Uneigentlichkeit« in Musik: bei Theodor W. Adorno gewissermaßen ein Bewertungskriterium. Und »Uneigentlichkeit« sollte man New Day Will Rise nicht unterstellen. Beileibe nicht. Hier ist alles/sind alle mit sich selbst eigentlich glücklich, alles ist das, was es ist – nämlich: nichts.
Musikalisch holt das Lied in g-Moll die Worte gewissermaßen da ab, wo sie stehen, wo und wie sie natürlicherweise betont werden. Die totale Affirmativität dieses Songs lässt sich bereits an dem Vokal-Beginn ablesen, der dem Betonungswillen der Worte schon fast masochistisch folgt.

Schlecht gemacht ist das nicht! Beim zweiten »And even if you say goodbye« kommt dann die Klavierbegleitung in einen typischen Neo-Klassik-Fluss. Dabei wird eine musikgeschichtlich wiederum tradierte Taktik benutzt, die eigentlich von Streichinstrumenten der Barockzeit herrührt: Während eine melodische Leitlinie aufwärts oder abwärts geführt wird (hier: abwärts), verbleibt die gleiche Note jeweils als Dazwischen-Gesetzte. Beliebte Exempel dieser auch auf Tasteninstrumenten populären Spielart finden sich beispielsweise in der berühmten – Johann Sebastian Bach zugeschriebenen – d-Moll-Toccata (hier ab Minute 1.15) oder – selbst schon wieder komponierte Rezeptionsgeschichte – ungefähr in der Mitte der fast schon zum Schlager gewordenen Passacaglia (frei nach Händel) von Johan Halvorsen (hier ab Minute 2.25). Die Linie in dem ESC-2025er-Songs Israels wird dabei jeweils eine Sekunde nach oben sequenziert.
Die Melodieführung des Refrains von New Day Will Rise ist nicht überraschend, jedoch handwerklich souverän gearbeitet. Aber es ist gleichzeitig eines jener Songs, die von der seit 13 Jahren anhaltenden, belastenden Dauer-Imitations-Anmutung der schwedischen ESC-Gewinnerin Loreen von 2012 (Euphoria) und 2023 (Tattoo) bedauerlicherweise nicht loskommt (siehe Dänemark). Wie viele Nummern des diesjährigen ESC traut sich der Song in seiner sogar ganz schönen Ruhe selbst nicht über den Weg, sondern sucht – nach einer tradierten, gleichsam »exotischen« Geigen-Tirade abwärts (bei Minute 1.04), die bereits den Song merkwürdig drastisch eröffnet hatte – den eben dann doch tanzbaren Beat, die Affirmation. Dazu wird das Klavier nun durch einen Synthesizer ersetzt. Beim Eintreffen des Refrains (bei Minute 1.25) stellt sich dann final das Gefühl ein, wieder in einen recht wahllos angesteuerten Loreen-Song geraten zu sein. Die Machart dieses Songs ist äußerst kalkuliert, wie von einer aalglatten Unternehmensberatungsfirma auf dem Reißbrett konstruiert. Hier soll alles richtig gemacht werden; erfolgsgetrimmt und doch extrem abgegriffen in den Mitteln. Die Nummer wird allerdings überzeugen. Man kann »Hits« eben doch planen. Man braucht dafür nur die adäquaten Verbreitungskanäle. Und dieser Hit wird womöglich überleben. Wie üblich beim ESC: für stolze zwei, drei Tage – im Heimatland.
Italien
Lucio Corsi: Volevo Essere Un Duro
Tipp: Platz 14
Die Lyrics des Italien-Songs für den ESC 2025 kommen in Form eines Geständnisses daher; natürlich in der wie für Geständnisse geschaffenen Landessprache: »Ich wollte ein harter Kerl sein, der sich nicht um die Zukunft schert«, aber: »Ich wurde nicht als harter Kerl geboren, ich habe sogar Angst vor der Dunkelheit.« Ein typisch italienisches Jungenspiel, in dem ein tougher Mann sich eingesteht: »Es ist sinnlos, vor seinen Ängsten wegzulaufen.« Lucio Corsi sieht dabei interessant aus, wie eine Mischung von Marylin Manson, dem Joker und einem braven Mädchen. Ein kleines Orchester hat sich anlässlich dieses Songs eingefunden – und, ja, das erinnert angenehm an Gianna Nannini. Vom anfänglichen Klavier wechselt Corsi schließlich an die E-Gitarre und bringt eine kleine Ballade zu Gehör. Dazu spielt das besagte Kammerorchester auf, das – selten genug – sogar mit dem Ohr Vernehmbares geigt. Nach mehr als zwei Minuten folgt eine kleine Quasi-Sprech-Passage. Ein schönes italienisches Lied, das in seiner »mittleren Power-Stufe« an frühere Fußball-WM-Songs gemahnt. Der Refrain dünkt melodisch erwartbar, aber beim dritten Mal kann man schon mitsingen. Und das ist nicht das Schlechteste.
Kroatien
Marko Bošnjak: Poison Cake
Platzierung: Erreichte nicht das Finale
Der kroatische – aber englischsprachig getextete – Beitrag dreht sich um einen amourösen Racheakt: »Nimm einen Bissen von meinem Giftkuchen« heißt es dort – und: »Du solltest besser niederknien und beten.« Das tönt textlich schon wieder so herrlich unangemessen, dass es Freude macht und erinnert zumindest bezüglich der Lyrics-Aufmachung an die große Tradition barocker Liebes-Rache-Arien wie etwa Desterò dall‘ empia Dite aus Georg Friedrich Händels Amadigi di Gaula (1715). In den letzten beiden Jahren hat Kroatien ohnehin abgeliefert, 2024 kam Baby Lasagna mit Rim tim tagi dimauf den zweiten Platz. Und 2023 steuerte die Band Let 3 mit dem Song Mama ŠČ! das fraglos beste Lied zum Wettbewerb bei, erreichte aber leider nur den 13. Platz. Poison Cake, dargeboten von Marko Bošnjak, beginnt nun mit einem leicht gesäuselten Solo-Gesang. Dann klingt so etwas wie ein Kinderlied an, es geht um Dinge die »tasty« sind. Schließlich rumst es gewaltig, das Licht flackert – und die Kinderliedatmosphäre wird »dark«; und das eigentlich ohne jeden Grund. Die gruftige Kleidung tut ihr Übriges. Merkwürdige Gewalt, irgendetwas von »Revenge« wird gesungen – und da ist auch schon wieder der »unschuldige« Kindergesang. Man könnte jetzt mit Gustav Mahler kommen, dessen Symphonien sich manches Mal ebenfalls zwischen Weltuntergang und Kinderlied abspielen, aber das wäre nicht in Ordnung. Poison Cake will originell und auffällig sein, ist aber einfach nur daneben. Zudem bekommt der Sänger die am Schluss drohende Schrei-Passage intonatorisch nicht auf die Reihe.
Lettland
Tautumeitas: Bur man laimi
Tipp: Erreicht nicht das Finale
In der »dichterischen Vorlage« des diesjährigen ESC-Songs Lettlands (gesungen in Landessprache) spüren wir Weltflucht und Weltbeschreibung in kriegerischen Zeiten zugleich: »Andere bauen eine Brücke aus Stahl, ich helfe einer Eiche beim Wachsen.« Ein A-cappella-Chor mit Schlafzimmerblick eröffnet den Reigen. Dann klöppelt etwas Schlagzeug herein. Abschreitende Hauch-Momente im Folgenden. Schnell wird klar: Das ist ein LSD-Song mit Wohlfühlfaktor. Die Art und Weise des Chorgesangs allerdings entschädigt mit seinen typisch »osteuropäischen« Zwischenhohlklängen für die Ohrwurmabsenz. Einer des avantgardistischer Songs des diesjährigen Contests; mitunter verschwindet das Soundbett des Lieds akustisch fast, um dann wieder experimentell näherzukommen. Bur man laimi kann Spuren von Sphärenmusik beinhalten. Ganz sympathisch, aber absolut chancenlos in seiner verpeilten Hauchigkeit, die auch der Dance-Beat nicht richtig wachküssen kann. Das Lied wird das Halbfinale letztlich wohl nicht überstehen.
Litauen
Katarsis: Tavo akys
Tipp: Platz 18
Der Text des Beitrags Tavo akys wird auch auf Litauisch dargeboten. Wie in mehreren Songs des diesjährigen ESC schleicht sich hier das Gefühl ein, dass man sich Beschreibungen zur aktuellen Weltlage – Lügen-Propaganda in den USA und in Russland, Krieg in der Ukraine – kritisch auf die Brust heften wolle, um dann doch in eine ziemlich eskapistische Love-Song-Affirmation zurückzufallen, sprich: Die Songs halten ihre textlichen Versprechungen nicht. So auch dieser Song, der immerhin mit folgenden Lyrics anhebt: »Leere Worte schüren nur das Feuer, Häuser brennen«, um dann doch nur etwas von Gefühlen und Träumen, in denen – verständlich, verständlich! – geweint wird, daherzuzitieren. Zu Gitarrenklängen und bereits präsenten Drums wird depressiv und schicksalsträchtig gesungen; erstaunlich lange Töne für eine Strophe! Ein extrem niedergedrücktes Lied; ein Lied, dem man – ohne hinzugucken – anhört, dass es mit einigen Strähnen über den Augen gesungen wird. Gothic-Rock-Outing dann im Refrain, lange, traurige Töne. Nach gut zwei Minuten eine Repetitions-Bridge, die zwischenzeitlich in einem halbwütenden Ausbruch mündet. Ein Lied der Verzweiflung, freilich, aber zu unspezifisch, zu hermetisch. Für das Finale wird’s knapp reichen.
Luxemburg
Laura Thorn: La Poupée Monte Le Son
Tipp: Erreicht nicht das Finale
Der luxemburgische Text, auf Französisch dargeboten, steckt voller Puppen-Kinderwelt-Bilder: »Versuche bloß nicht, den Bauchredner zu spielen«, »Vielleicht hattest du vor, mich in deiner Vitrine auszustellen« und letztlich: »Deine Puppe, wie du sie nennst, dreht die Lautstärke auf.« Ein Lied der Emanzipation vom früheren Ich, von mindestens einer Beziehung der Unfreiheit. Pygmalionisierend? Intonatorisch fast attraktiv leicht schwankend fängt Laura Thorn fröhlich an zu singen, ein angedröhnter Bass stampft mit. Bei ihrer Tanz-Performance – mechanische Bewegungen einer Roboter-Puppe werden imitiert – könnten Klassik-Fans an die Arie Les Oiseaux dans la Charmille aus Jacques Offenbachs Les contes d’Hoffmann (1881) beziehungsweise an ihre zum Standard gewordene Aufziehpuppen-Performance in den meisten Inszenierungen dieser Oper denken. Im Verlaufe des Songs werden die Vierteltonschwankungen Laura Thorns für etwas Verkniffene vielleicht zum Problem. Wie man ausdauernd so knapp an den richtigen Tönen vorbeisingen kann, ist schon erstaunlich. Trotzdem hat ihre Stimme was. Und auch der Song ist eigentlich ganz in Ordnung. Ein fröhliches, gemäßigtes Tanz-Lied mit überraschend vielen Moll-Tönen.
Malta
Miriana Conte: Serving
Tipp: Platz 17
In englischsprachigen Ländern verlängern selbst, die, die es besser wissen, bei der Aussprache das »A« im Nachnamen des Philosophen Immanuel Kant, um eine Verwechslung mit einer widerlichen Beleidigung zu verhindern. In dem diesjährigen ESC-Beitrag Maltas (Text) sollte anlässlich des (englischsprachigen) Songs Kant (»Singing«) diese Beleidigung offenbar verschleiert werden; also drehte man den Sachverhalt gewissermaßen einfach um. Miriana Conte singt (auf Englisch): »Ich habe ein Geheimnis, das du kennen solltest. Komm ein bisschen näher, ich werde langsam und leise sprechen.« Das Titel-Wort wird erst anschließend erwähnt (»Serving Kant«) und dann verharmlosend mit den ersten vier Solmisationen (»Do-re-mi-fa-s-s-serving Kant«) verbunden. Vor ein paar Tagen kürzte man dann das »Kant« ganz aus dem Titel und tauschte das entsprechende Video auf dem ESC-Kanal aus. Das Lied an sich ist gut – und erinnert subtil an den 2011er-Hit 212von Azealia Banks. Serving ruft somit die Tradition selbstbewusster Straßen-Rapperinnen in Erinnerung. Der Frauenchor-Gesang, der immer wieder zu hören ist, ist gut produziert – und die Rap-Parts knattern ebenfalls adäquat ins Ohr. Eine Hymne, die die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen interessant zum Thema macht.
Montenegro
Nina Žižić: Dobrodošli
Tipp: Erreicht nicht das Finale
Im montenegrinischen Text des ESC-Beitrags Montenegros spüren wir ein wenig Pessimismus, der möglicherweise auf die politisch eher unsichere Weltlage rekurriert, jedenfalls macht das Lied im Refrain diesen Eindruck: »Lächle, halte durch, es wird vorbeigehen« und »Es wird verschwinden, es wird aufhören, aber wann?« Auch ist vom »Morgen« die Rede, der alle Wunden heilt, aber auch von der Nacht, in der man sich schuldig macht. Also dann doch wieder der Rückzug ins Private (nachdem man kurz den Welt-Nachrichten-Ticker auf dem Smartphone überflogen hat). Der Einstieg in den Song klingt wie aus der KI-Song-Werkstatt. Ein bisschen Schicksal, ein paar nach unten weisende Tonschritte, mehr nicht. Ein wenig »Atmo« – schließlich der dunkel-hauchige Gesang von Nina Žižić. Wäre die tiefe Frauenstimme nicht, so könnte die Musik auch als Hintergrund-Fläche für eine »spannende« Quizshow dienen. Dazu gibt es Sängerinnengesten aus den ersten Proben zur alljährlichen Eurythmie-Aufführung für die Waldorf-Kindergarten-Eltern.
Niederlande
Claude: C’est La Vie
Tipp: Platz 6
Der Anteil der nicht englischsprachigen Songs ist dieses Jahr so hoch wie seit 1999 nicht mehr. Viele Länder lassen Kandidatinnen und Kandidaten antreten, die jeweils in der Landessprache singen. Dazu gibt es Lieder, die weder in der Landessprache noch auf Englisch vorgetragen werden, so der größtenteils italienische Song aus Estland (Espresso Macchiato) und der auf Französisch präsentierte – von englischen Mini-Partikeln ergänzte – ESC-Beitrag der Niederlande (Publikumsvotes etwa aus Belgien und Frankreich dürften bereits früh im Businessplan der Urheber dieses Songs aufgetaucht sein). Textlich scheint hier Ebbe zu herrschen beziehungsweise eben jenes »La-la-la«-Lebensgefühl herbeizitiert werden zu wollen, wie es schon im Beitrag Deutschlands (Baller) dominiert: »Es geht auf und ab [im Leben]«, »Das Leben in Rosa, das Leben in Schwarz« – und im Refrain schließlich: »Das ist das La-la-la-la-la-Leben!«. Einsame Klavierklänge zu Beginn. Dann die recht natürlich vorgetragenen ersten Worte des Sängers Claude, der seine Stimme durchaus facettenreich einfärben kann. Bald trifft der Stampfbeat des Refrains ein. Nun folgen teils elegische »Knicke« in der Stimme Claudes, nicht uninteressant. Aber was ist das bitte für eine Aussage, die ein ESC-Song 2025 ernsthaft vermitteln will (will er denn etwas vermitteln)? »Das ist das Leben – und so ist es nun mal«? Das kann es nicht sein. Die absolut souveräne Performance von Claude und das massentaugliche des Refrains werden voraussichtlich allerdings zu einer einstelligen Platzierung führen.
Norwegen
Kyle Alessandro: Lighter
Tipp: Platz 13
Um Feuer und Eis geht es in dem englischsprachigen Song Lighter, den uns für Norwegen der junge Sänger Kyle Alessandro darbietet. Wie in dem Robert-Schumann-Lied Ich grolle nicht aus der Dichterliebe op. 48 (1840) – prominent interpretiert beispielsweise von Fritz Wunderlich – thematisiert der Text des Songs Lighter die Kaltherzigkeit einer Frau, die sich vom männlich definierten Lied-Ich offenbar losgesagt hat. Heißt es bei Heinrich Heine unter anderem anklagend: »Es fällt kein Strahl in deines Herzens Nacht« sowie »Und sah die Schlang’, die dir am Herzen frisst, ich sah, mein Lieb, wie sehr du elend bist« singt der diesjährige ESC-Vertreter des eigentlich immer mitfavorisierten Norwegens: »Golden girl dressed in ice, a heart as dark as night« (»Goldenes Mädchen in Eis gewandet, ein Herz so dunkel wie die Nacht«). Nicht wird aber in das Herz des besagten Mädchens geschaut (wie bei Heine). Nein, die Perspektive bleibt sehr Ich-zentriert und selbstmitleidig. Die leicht nasale, aber gar nicht mal unbesondere Stimme von Kyle Alessandro wird gekonnt von anderen Vokal-Stimmen umrankt, so dass die sängerische Aura etwas erleuchteter, mysteriöser, aber auch vollmundiger erscheint. Aber schon nach wenigen Sekunden öffnet sich – viel zu früh – der soundmäßige Vorhang. Viel zu schnell wird hier allerhand an Pathos ausgeschüttet, zudem mit einem künstlich-saftigen Beat unterlegt. Dieser Song will zu viel; will Mitleids-Ballade, Dance-Nummer und Game-of-Thrones-Referenz in einem sein. Für das traditionell beim ESC beliebte Norwegen reicht das aber immerhin für Platz 13.
Österreich
JJ: Wasted Love
Tipp: Platz 4
Das österreichische, mitfavorisierte ESC-Lied Wasted Love – die Wiedergabe des Textes erfolgt auf Englisch – gib sich erwartbar songsymbolisch: »Ich bin der Ozean der Liebe, und du hast Angst vor Wasser. Du willst nicht untergehen, aber lässt mich versinken.« Die »Essenz« des Songs kommt dann textlich im Refrain zum Tragen: »Jetzt, wo du weg bist, ist, alles, was ich habe, meine weggeworfene Liebe.« Der Sänger hat eine interessante Countertenor-Stimme. Ab Minute 1.23 kommen gut produzierte stahlhaltige Bass-Schritte hinzu. Die Melodie-Schleife ist eigentlich zu erwartbar für einen großen Hit, aber sollte JJ die sängerische Leistung live bringen, die er im Studio abliefert, so kann dieser dunkelgefärbte Song durchaus gewinnen. Im allerletzten Teil des Songs wird das Ganze dann leider erneut zur hämmernden, beschleunigenden Dance-Nummer. Wieder ein Lied, das sich selbst nicht vertraut. Alles endet schließlich mit einem ausgehaltenen Solo-Ton des Sängers; natürlich ein hoher Ton, den man mit dreinfahrenden Jubelschreien zu feiern hat. Am Ende könnte es sich für Platz 4 ausgehen.
Polen
Justyna Steczkowska: Gaja
Tipp: Platz 23
Der in Polnisch vorgetragene Song (Text) mit dem Titel Gaja bezieht sich »hintergründig« auf die griechische Göttin Gaia, die Lebenserschafferin, die für Leben, Mütterlichkeit, Körperlichkeit und Fruchtbarkeit steht. Im Pre-Refrain heißt es: »Mein Name ist Gaia, ich bin die Göttin, die Kraft, meine Mutter ist die Liebe. Wenn ich weine, dann ertrinkt die Welt in meinen Tränen.« Mit voller ESC-Song-Chor-Dröhnung geht es los, dann schicksalsschwangerer »Exotik«-Gesang. Schließlich die langen Loreen-Töne, die wir schon kennen. Relativ lustlos und individualitätsarm fliegen die Klänge ins Nichts, auch, wenn sie hintenraus rau angeschmirgelt werden. Es ist eines jener Lieder, die wie ein ärmlicher Abklatsch eines Mystery-Science-Fiction-Drama-Intros auf einem Sender ganz hinten auf der Fernbedienung wirken. Nach gut zwei Minuten übernimmt offenbar ein männliches Wolfswesen den Gesangspart; wie »aus der Ferne« gesungen, dann sogar gezackter Sprechgesang in Fantasiesprache. Schlussendlich wird erneut die Gaia-Göttin angerufen, rituell, besessen, mit ein bisschen Schlagsahnenblümchen-Satanismus obendrauf. Danke für nichts.
Portugal
NAPA: Deslocado
Tipp: Platz 21
»Endlich einmal« Abwechslung im portugiesischen Text des Beitrags Portugals. Nicht nur die Liebe zu einer Person, sondern die zum eigenen Heimatland wird besungen. Das Meer von Menschen in den Betonhaufen der Stadt, es rührt das Lied-Ich nicht, ja: »Es fühlt sich nicht wie zu Hause an.« Der Song ist allerdings von der ersten Minute an von einer Bräsigkeit, die jeder Fahrstuhlmusik-Produktionswerkstatt zur Ehre gereichen würde. Ein arpeggierter Klavierakkord – und schon nölt der Sänger los. Der Song ist gut produziert und gut instrumentiert, die Gitarrenbegleitung schön immersiv. Der Refrain weiß dann allerdings nicht so recht, wohin. Jede Refrain-Phrase könnte im Grunde im Rahmen eines Würfelspiels neben einer zufällig bestimmten andere Refrain-Phrase stehen. Und dass gen Ende ein kurzes Gitarren-Solo erklingt: Das könnte man schon fast als »überraschend ausgestorben« bezeichnen. Ein unauffälliger Song. Nicht ganz unsympathisch, aber am Ende so chancenlos wie die Dinosaurier nach dem Asteroideneinschlag vor ungefähr 65 Millionen Jahren.
San Marino
Gabry Ponte: Tutta L‘Italia
Tipp: Platz 22
Der von Italien umgebene Kleinstaat San Marino, zuletzt 2024 in den Schlagzeilen, weil die sonst komplett erfolglose Fußballnationalmannschaft der Männer nach 20 Jahren mal wieder einen Sieg einfuhr, gibt sich im italienischsprachigen Text seines ESC-Beitrags so italienisch, als wolle man doch kein Kleinstaat mehr sein, sondern nun wirklich zur Gänze (zu) Italien gehören. Im Refrain singt Gabry Ponte: »Ganz Italien, ganz Italien, lasst uns tanzen, mit einem Glas in unserer Hand.« Der Rest des Textes ist mit »Sammlung diverser Italien-Klischees« gut zusammengefasst. Unter dem auf »smart« gemachten Männergesang lauert ein staubtrockener und erstaunlich defensiver Bass, dann folgen Synthesizer-Überleitungen und schließlich der leicht angeprollte Männergesangsvereinrefrain. Dazwischen braucht es das fast schon obligatorische Schulterschluss-»Hey« im Kollektiv und Melodie-Floskeln aus dem Sonderposten-Regal. Ein Lied, das für eine U16-Fußball-EM taugen würde. Mehr wird nicht draus – hoffentlich.
Schweden
KAJ: Bara Bada Bastu
Tipp: Platz 1
Textlich ist hier durchaus Abwechslung im Spiel. Denn die Lyrics künden nicht nur von Liebe oder etwa einer rauschhaft durchtanzten Nacht, sondern vermitteln uns das Vergnügen, saunieren zu gehen; die Vorzüge des Schwitzens unter kontrollierten Bedingungen: »Wir geh’n in die Sauna, Sauna! Gieß den Aufguss auf, lasst den Stress jetzt raus« – heißt es hier sinngemäß auf Schwedisch. Dieser Song wird dabei seit Wochen als großer Favorit gehandelt, dabei ist er wirklich »Naja«, wie es schon zu Beginn dieses Liedes heißt. Erstens erwartet man beim Thema »Sauna« eher ein singendes Personal aus Finninnen und Finnen, performed von Menschen, die beispielsweise Tuuli Jakapaasta oder Pekko Nymännitatä heißen. Bara Bada Bastu ist aber der ESC-2025-Beitrag Schwedens. Es ist ein falsches Lied im falschen (weil ohne finnischen Pass gelebtes) Leben. »Sauna-Lied aus Skandinavien« impliziert »Finnland«, durchbricht aber hier eben genau jene den Rezipierenden unterstellten Erwartungsanspruch mittels einer Geworfenheit des Sauna-Aufguss-Schöpflöffels aus IKEA-Holz. Theodor W. Adorno war es, der betonte: »Erinnerung und Erwartung sind in Musik selbst integrale Momente ihrer Gegenwart.« Was wir zu Beginn des Songs sehen: ein Akkordeon. Was wir hören: etwas Elektronisches, Frage-Antwort-Wisch-Gesten aus der Retorte. Dann der Sprechgesang-Einstieg. Über einem staubtrockenen Billig-Bass singt man zwischendurch als Trademark »Oh, eh-oh, eh-oh«. Ein bisschen Monty-Python-Lumberjack-Feeling durchweht – halt wegen der Holzfällerhemden und der Männergruppen-Tanzperformance – den (nun ja: künstlich aufgeheizten) Raum. Ein Spaßlied mit Kinder-Rhythmen und Worten in einer Sprache, die fast keiner versteht, die aber in ihrer Polka-Verpackung auf ein heutiges Publikum »mitreißend« wirken. Ein eskapistisches Lied in mehrfachem Sinne: der Sauna-Gang als 20-minütiger Kurz-Ausstieg aus den Schnelligkeiten des Alltags – und zugleich ein Schnappi-Quatsch-Lied, das seinen gewollten Kindersprach-Gestus zwischen Sprechen und chorischem Singen vor sich herträgt wie eine recht schnell entstandene, selbstgebastelte Handpuppe, für die das Kindergartenkind umgehend Lobeshymnen der Erziehenden erwartet. Das Lied wird gewinnen. Garantiert. (Oder Israel.)
Schweiz
Zoë Më: Voyage
Tipp: Platz 12
Der französische (und damit in der Schweiz auch landessprachige) Text vermittelt – nicht zum ersten Mal – in seiner Grundaussage: »Lass mich dich lieben, auch wenn du mich nicht liebst.« Trotz aller Herausforderungen ist das lyrische Ich aber bereit: »Wenn du willst, gehe ich mit dir auf eine Reise«. Eine sanft-träumerische Pizzicato-Begleitung untermalt das zu Beginn stille Lied. In die anständige Melodie wird gelegentlich auch hineingesummt. Zoë Më hat eine warmherzige Stimme. Anlässlich des Refrains wird dann ein großes Streichermeer aufgeboten. Ein schwereloser Song, dem es an Ohrwurm-Potential fehlt. Vor allem an Ende von Melodie-Linien geschieht jeweils das Erwartete, so wird beispielsweise beim Beschluss des Chorus – bei den Worten »avec toi« – einfach der Grundton mit dem darunterliegenden Leitton melodisch wechselnd angesteuert. Eine klischeegewordene Sopran-Klausel. Am Ende hagelt es dann Tutti-Schläge, die dem Song eine heftigere Dringlichkeit verleihen sollen. Passt überhaupt nicht, muss aber 2025 wohl sein. Schade, dadurch ist die schöne Stille dieses absolut befriedigenden Songs perdu.
Serbien
Princ: Mila
Tipp: Platz 24
Der serbische Text des serbischen ESC-Songs handelt von einer tiefen und leidenschaftlichen Liebe, die mit Opfern und schwierigen Umständen einhergeht: »Mila, du hast so viel gegeben, dafür, dass ich dich liebe. Mila, du hast das Leben von Extremen befreit. Es gibt viele Gründe dafür, einen anderen zu lieben, aber es bedeutet mir so viel, dich zu beschützen.« Nun »gut«. Ein paar plätschernde Klaviertöne zu Beginn, dann bereits die »elegische« Stimme von Mila. Die melodischen Linien: wie aus einer nicht sonderlich begabten Standard-Pop-Improvisation. Von seiner Mondsichel begibt sich Mila irgendwann wieder auf den Boden der – langweiligen – Tatsachen. Nach ungefähr eineinhalb Minuten geht’s ins Falsett hinauf – und das könnte live einigermaßen schiefgehen. Da haben wir aus dem Hohe-Männer-Stimmen-Bereich in den letzten Jahren so viel Besseres und Konsequenteres gehört. Nach mehr als zwei Minuten folgt eine sich leicht aufputschende Instrumentalpassage – und dann will Mila es noch einmal wissen, kann aber nichts Entscheidendes mehr beitragen.
Slowenien
Klemen: How Much Time Do We Have Left
Platzierung: Erreichte nicht das Finale
Slowenien tritt mit dem Song How Much Time Do We Have Left an. Im landessprachlichen Text wird es – endlich? – einmal etwas ernster. Es geht um eine schwere Krankheitsdiagnose innerhalb einer Familie, um im Refrain dann zu fragen: »Wie viel Zeit haben wir noch zusammen? Wir wissen es nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht hier sein will.« Mit »hier« könnte der für das Lied-Ich aktuelle Ort – beispielsweise ein Krankenhaus – gemeint sein. Schlichte Klavierakkorde ebnen dem Sänger Klemen den Weg für seinen schlichten, lieblich dargebotenen Gesang. Dann erfüllen tiefe Streicher den Raum. Ein trauriges, weil tröstendes Lied. Den Text versteht man gut. Auch ist dieser nicht allzu doof. Der Song »vergrößert« sich instrumental zum Ende hin. Ein sehr einfacher Song, vielleicht etwas kitschig. Mit der Aussage des Ganzen und der dargebotenen Ruhe wird Klemen es aber wohl schwer haben.
Spanien
Melody: Esa Diva
Tipp: Platz 26
Der auch auf Spanisch gesungene Spanien-Song Esa Diva erzählt titelgemäß von einer Grande Dame, die nicht durch äußere Umstände definiert wird, sondern durch ihre innere Kraft und Resilienz überzeugt. Der Text scheint dabei durchaus selbstreferentiell gemeint zu sein, wird er doch gesungen von der 1990 geborenen Sängerin Melody (eigentlich: Melodía Ruiz Gutiérrez), die uns sagen möchte, dass eine Diva durchaus auch eine Mutter sein kann (»Es la madre que madruga«), ja, dass eine Diva eine ganz gewöhnliche Sterbliche ist (»Una diva sencilla, como un simple mortal«) und niemandem auf die Füße treten muss, um mit ihrer Stimme durchzudringen (»Una diva no pisa a nadie para brillar«). Kastagnetten- und Flamenco-Gitarren-Sounds bilden die Ouvertüre, die einen Bruchteil einer Sekunde dauert. Dann wird crescendierend auf einem Streicherbett gesäuselt. Schließlich ein »Tanz-Beat«, der zum »echten« Refrain hin noch einmal in der Lautstärke nach oben gezogen wird; ziemlich penetrant. Die Kastagnetten-Klänge, welche gleichsam zwanghaft an das Herkunftsland des Ganzen schnarrend erinnern sollen, kehren in Form kurz eingestreuter Samples wieder; wie der nötige Schluck aus der Pfeffermühle, um unterwürzte Mensa-Gerichte ertragbar zu machen. Später hämmern uns elektronische Voice-Effekte das Wort »Diva« in den Frontalstirnlappen. Dort ist aber für derart eitle und erwartbare Dance-Music kein Platz. Die Diva müsste eigentlich draußen bleiben, Spanien ist aber als eines der »Big Five«-Länder beim ESC automatisch gesetzt. Ich vermute, es wird auf Platz 26 hinauslaufen.
Tschechien
Adonxs: Kiss Kiss Goodbye
Tipp: Platz 8
Der englischsprachige Text des tschechischen Beitrags geht etwas archaisch zur Sache: »Es gibt keinen Ort zum Verstecken. Nur einer überlebt, wenn die Nacht anbricht«. Schlussendlich will der Song aber nicht vielmehr sagen, als dass junge Menschen, die Party machen, sich gelegentlich küssen, um am Ende wieder schnell »Goodbye« zu sagen. Textlich erleben wir hier sozusagen die Mitte des ganzen Wettbewerbs: die pseudo-»heutigen« Lyrics auf der einen Seite – die pornographische »Dichtung«, sprich: der totale, spaßgespeiste Eskapismus auf der anderen Seite. Tiefer, etwas affektierter Männergesang steht am Beginn von Kiss Kiss Goodbye. Dann eine vom Chor gehauchte Überleitung, dazwischen die leicht zerknitterte Solo-Stimme. Dem Lied hilft im Refrain das recht massige Vokalgruppen-Echo nicht. Dümpelt alles zunächst im Morgentau zwischen 1980er- und 1990er-Nostalgie herum, so fehlen die für den ESC 2025 typischen »Überraschungsdrums« hier nicht. Sie trudeln nach gut zwei Minuten ein – verdämmern dann aber wieder recht interesselos. Ein Song, der 40-Jährige an Zeiten erinnert, in denen man noch Bravo las – um dann, anlässlich dieser auch nicht allzu interessanten Erinnerungen, müde im Bett zur Seite wegzusacken.
Ukraine
Ziferblat: Bird of Pray
Tipp: Platz 3
Der Text des ukrainischen ESC-Beitrags ist zweisprachig, ukrainisch/englisch. Ein Vogel als Freiheitssymbol, der mit seinen Flügeln ein tragisches Lied in die Welt trägt. Im Refrain die Worte: »Fly, bird, I’m begging you, just care of me and my little bird.« Am Anfang des Lieds steht ein hoher, der Zeit etwas entrückter Frauengesang. Dann setzt ein hohlklängiger Chor ein, der in seiner Rhythmik und Melodik an die schöne Chormusik »slawischer« Musikkulturen gemahnt. Warum auf dem »Little Bird« allerdings von den Drums so eingeschlagen werden muss, ist nicht ersichtlich, aber vermutlich dem Power-Song-Trend der letzten 15 Jahre geschuldet. Die Melodie des Refrains ist ganz fein – und der Mitreiß-Faktor der Chor-Passagen recht hoch. Hier sind ganz verschiedene Einflüsse zu spüren, vor allem im Linksverkehr angefahrene Brit-Pop-Reminiszenzen. Nach zweieinhalb Minuten erlaubt sich der Song sogar eine ungewöhnliche Radikalität: Recht heftig wirkende Unterbrechungseinschübe lenken wieder unser – im nicht ganz zu leugnenden Geplätscher etwas abgetauchtes – Interesse auf das Lied, das sogar mit einem Gitarren-Solo aufbieten kann. Ein Song, der einen Platz unter den ersten zehn Besten aus Qualitätsgründen beanspruchen darf.
Zypern
Theo Evan: Shh
Platzierung: Erreichte nicht das Finale
Oh, da macht sich jemand aber wichtig! Mit einem Schlag will der Song Shh – paradox genug – Aufmerksamkeit erheischen. Theo Evan singt auf Englisch (Text) etwas aus der Dorian-Gray-Ecke uninteressanten Grauens: »Ich habe goldene Locken und Augen, die so fesselnd sind« und »Ich bin berühmt für meine Schönheit, wer bin ich wohl?« Tja, ich kenne dich nicht – und die Frage, wer du bist, ist ebenfalls recht uninteressant. Evans affektierter Sprechgesang tönt wie der Soundtrack zu einem drögen Adventure-Game für das Billig-Imitat einer PlayStation. Mit viel Hall und ein paar Bass-Beat-Experimenten sollen wir überzeugt werden, mitzumachen. Wir machen aber nicht mit, denn das hier ist plump und zu sehr von der Stange; eines dieser forcierten »Lasst-uns-alle-tanzen!«-Techno-Dünnbrettbohrerbretter, die man nutzen sollte – wozu man Werbepausen eben früher nutzte … ¶
Der VAN-ESC-Tipp 2025
Platz 1 Schweden
Platz 2 Israel
Platz 3 Ukraine
Platz 4 Österreich
Platz 5 Frankreich
Platz 6 Niederland
Platz 7 Finnland
Platz 8 Tschechien
Platz 9 Estland
Platz 10 Irland
Platz 11 Großbritannien
Platz 12 Schweiz
Platz 13 Norwegen
Platz 14 Italien
Platz 15 Albanien
Platz 16 Deutschland
Platz 17 Malta
Platz 18 Litauen
Platz 19 Georgien
Platz 20 Australien
Platz 21 Portugal
Platz 22 San Marino
Platz 23 Polen
Platz 24 Serbien
Platz 25 Island
Platz 26 Spanien







































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