Dirk Rothbrust wirkt ein bisschen geknickt, er kommt auf Krücken. Sein rechter, äußerer Mittelfußknochen ist in vier Teile gebrochen, jetzt ist eine Platte mit acht Schrauben drin und Konzerte sind gefährdet: Die regelmäßigen WDR-Konzerte mit dem Ensemble Musikfabrik im Funkhaus am Wallraffplatz, das Jubiläumskonzert zum 25-jährigen Jubiläum und der c/o-Pop-Auftritt mit Mouse on Mars zum Beispiel. Dazu die Auftritte mit dem Schlagquartett Köln. Vor unserem Treffen hat er über Konstruktionen nachgedacht, die es ihm erlauben, die Kickdrum mit der Hand zu spielen. Als er mir die Räume der Musikfabrik im Kölner Mediapark zeigt, wird klar: Für Konstruktionen ist das hier der richtige Ort. Es gibt Räume, die sehen aus wie ein Baumarkt für Drummer. Am morgen hat gerade ein Lastwagen die Instrumente abgeholt, die das Ensemble nach den Plänen des Komponisten Harry Partch gebaut hat. Sie fahren nach Taiwan, das Ensemble wird im September nachreisen. Die hoffnungsfrohe Nachricht kommt kurz vor Erscheinen dieses Artikels: Der Fuß wird täglich besser, Rothbrust übt wieder seit einer Woche, die Bewegungen, die der Fuß beim Spielen ausführt sind gut für den Wiederaufbau. Das heißt, dass auch die Proben zum Auftritt mit der Musikfabrik beim Musikfest Berlin am 18. September stattfinden können: Dort wird mit Varèses Ionisation ein Urstück der Schlagzeugmusik gespielt, außerdem mit Frank Zappa ein Urvater von Rothbrusts persönlicher musikalischer Sozialisation. Hier übernimmt er dann auch die musikalische Leitung. Um das Gelände der Musik für Schlagzeug, Schlagwerk und Perkussion immer mal wieder abzustecken, hören wir während des Gesprächs musikalische Inputs.

VAN: Was war – körperlich oder physisch – dein bisher herausforderndster Auftritt?

Dirk Rothbrust: Ich hatte eine seltsame Aufführung beim lautesten Stück, das ich jemals gespielt habe. Eins von Dror Feiler, das war körperlich wirklich das extremste. Ich musste Glockenspiel spielen, immer so vierstimmige Akkorde in voller Lautstärke. Dieses Helle, Metallische wird, wenn es laut ist, sehr fies. Das war auch das einzige Stück, das ich jemals mit Gehörschutz gespielt habe. Und dann entstehen noch solche Differenztöne, bei kleinen Tonunterschieden, die legen sich so richtig ins Ohr – das war eine harte Erfahrung. (Nicht die einzige bei einer Dror-Feiler-Komposition: 2008 setzte das BR-Symphonieorchester die Komposition Halat Hisar, ›Belagerungszustand‹, ab (Artikel in der Welt); d. Red.).

Bist du gerne Frontmann?

Ja schon! Da wächst man rein, vor allem natürlich, weil man das Stück umsetzen will. Und so lernt man, den Rest auszublenden.

Welche/r Komponist/in soll dir noch ein Stück schreiben? Angenommen du hättest freie Auswahl …

Es gibt zwei, die ich zur Zeit sehr schätze. Rebecca Saunders (in VAN, d. Red.) und Enno Poppe (in VAN, d. Red.). Aber es hat sich tatsächlich ergeben, dass beide ein Schlagzeugsolo für mich geschrieben haben! Enno Poppes Stück ist fertig, das soll im Oktober gespielt werden, der geht so wahnsinnig gut mit Rhythmus um, mit Energieverläufen, mit der Form – ich freu mich tierisch drauf. Und mit Rebecca habe ich so viel gearbeitet in den letzten Jahren, sie hat einfach ein wahnsinniges Gespür für Klangkombinationen, das kommt 2018.

MUSIKINPUT 1 • Michael Beil, Batterie (AUSZUG), gespielt von Michael Wertmüller

Da spielt Michael Wertmüller …

Den mag ich auch sehr, wie er mit Zeit umgeht, mit Rhythmik. Er hat für uns ein Stück geschrieben, antagonisme contrôlé, das spielen wir im Herbst nochmal in Huddersfield.

Fast alle Musiker sprechen von der ›Kommunikation‹ mit dem Publikum über die Musik. Wenn man Schlagzeug-Performances wie diese sieht, dann kommt das Ritual viel stärker raus als die ›Kommunikation‹. Sorgt die gelegentliche Wucht der Perkussion manchmal für ein seltsames Gefälle? Man selber hampelt herum und ist laut, die anderen sitzen stumm und still …

Nein gar nicht. Die holen sich, was sie brauchen. Wie Kinder.

Super Mischung, super schön. Entweder ein junger Berliner Drummer oder ein ganz alter. So melodisch, Wahnsinn.

Ein ganz alter, Max Roach. Mit Orchester, das kennst du ja auch. Wie schwierig ist das? Man hört immer wieder von der Problematik, dass ein Orchester nicht so tight spielen kann.

Ja, das ist öfter das Problem, beziehungsweise eine große Aufgabe.

Und wie löst man das?

Das hängt sehr mit dem Dirigenten zusammen, und auch: mit der Bereitschaft des Orchesters. Die können entweder sagen: ›Ich spiel doch, was da steht‹ oder sie sitzen auf der Stuhlkante noch vorne (nimmt eine gespannte Haltung ein) und versuchen wirklich mit dem Drumset zusammen zu spielen. Und idealerweise steht das in der Mitte des Orchesters, was leider oft nicht geht, wegen Umbaufragen und Logistik. Aber das ist der Weg, dann übernimmt das Schlagzeug eine Dirigentenfunktion, dann geht das, das ist ja fast wie dirigieren. Und dann siehst du, wenn die Hand zum Becken fliegt, dann ist da die 1 und nirgendwo anders. Aber klar, das ist eine Spezialaufgabe. Ich hatte das zum Beispiel mal mit dem WDR-Orchester und Musik von Frank Zappa, da haben wir es eigentlich gut hinbekommen.

Und die Musikfabrik spielt tight?

Wenn es sein muss: Oh ja.

Ein anderer Aspekt, wenn wir bei Max Roach sind. Wie wichtig war für dich Jazz?

So richtiger Jazz-Jazz war, als ich jung war, weniger wichtig für mich als Jazz-Rock. Damit bin ich groß geworden. Also eher Billy Cobham als Max Roach, den Sinn für dieses Melodiöse habe ich später entwickelt. Wenn wir ehrlich sind, war Jazz-Rock ja auch oft ein ziemliches Gewichse. Aber es war faszinierend einfach von der Virtuosität her, weil die Musik schräg war, Mahavishnu Orchestra, solche Sachen. Ich bin dann tatsächlich aber auch relativ früh zu Zappa gekommen.

›Der Sinn für das Melodiöse‹: Dirk Rothbrust mit der Band Sleeping in Vilna: Oh Honey (Ayler Records, 2012) • Link zum Album Why Waste Time auf iTunes

Wie alt warst du da?

Ich glaube, so mit 14 bin ich jeden Abend mit Zappa auf dem Kopfhörer eingeschlafen, das hat mich irgendwie beruhigt. (lacht)

Und du hast alles von ihm gehört? In dem Alter frisst man ja die Sachen regelrecht auf.

Ja klar, ich kann heute noch jedes Gitarrensolo mitsingen.

Wie kam der erste Kontakt mit seiner Musik zustande?

Na ja, das war Anfang der 80er Jahre im Saarland. Da haben ganz viele Zappa gehört.

Und da hat man sich da getroffen?

Ja, man saß bei jemandem im Zimmer und legte die Platte auf, und nach dem dritten mal Hören singen alle mit … das sollte man eigentlich wieder einführen. Wir denken hier bei der Musikfabrik so oft über Listening Sessions nach, weil es einfach wahnsinnig gut ist. Wir kriegen ja auch ziemlich viele CDs geschickt.

Die Zappa-Rezeption ist irgendwie nicht so richtig auf die breite Spur gekommen, oder? In der Klassik-Kultur wird er noch sehr zögerlich gespielt, für die Mythen der Rockgeschichte scheint sein Werk zu bunt, vielfältig, abgründig. Hast du das Gefühl, Zappa ist schon einigermaßen erschlossen?

Nein, vor allem nicht in seiner Vielschichtigkeit.

Wieviele Zappa-Konzerte hast du schon gespielt?

Gar nicht soviel. Vielleicht 10.

Wird er nicht richtig ernstgenommen?

Das ist schwierig und sehr kompliziert. Die Veranstalter programmieren in Wellen. Zum Beispiel fingen zehn Jahre nach seinem Tod, also 2003, die Ersten an, ihn zu entdecken. Plötzlich tauchte er auf, es kamen Partituren, Arrangements für Ensemble. Die Bochumer Symphoniker haben Zappa gespielt, in Stuttgart wurde er gespielt, an ein paar anderen Orten. Die Leute finden es gut, aber schon ein Jahr später sagen die Veranstalter dann: ›Das war doch letztes Jahr überall, das können wir jetzt nicht machen.‹ Das ist der Mechanismus. Dann flaut es wieder ab. Ein paar Jahre später entdeckt jemand eine andere Facette von Zappa. Zum Beispiel sind gerade die Synclavier-Stücke von ihm der heiße Scheiß, da liegen 200 unveröffentlichte Stücke rum. Leute fahren da hin, überlegen sich, wie man das live spielen kann. Dann kommt der nächste Schwung.

Auch wir bei der Musikfabrik mussten uns stilistisch ein bisschen absetzen von dem, was das Ensemble Modern so vorgelegt und gespielt hat. Deswegen haben wir für dieses Konzert gesagt, wir spielen die Jazzrock-Ära von Mitte der 1970er Jahre, mit Alben wie Roxy & Elsewhere, Studio Tan, Zappa in New York.

Gab es in deiner Laufbahn einen Punkt, an dem du gesagt hast, mit Zappa ist jetzt mal gut, da bin ich drüber hinaus?

Nein, er ist immer frisch, kommt immer wieder. Ich entdecke immer wieder Sachen, auch auf Youtube. Da sieht man jetzt plötzlich Live-Aufnahmen von Stücken, bei denen man sich immer gefragt hat, wie haben die das bloß gemacht, live, fehlerfrei und dann noch mit dem Spaß?

Wer war der beste Schlagzeuger von Frank Zappa?

(Seufzt) Sehr schwer. Ich fand ja immer: Terry Bozzio. Vinnie Collaiuta natürlich auch. Chet Wackermann hat mir nicht so gut gefallen vom Stil, das waren natürlich auch die Achtziger … und dann die ganz frühen natürlich: Chester Thompson und Ralph Humphrey – die fand ich auch gut, von denen hat man aber nicht mehr viel gehört. Die unterrichten, glaube ich, heute eher.

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MUSIKINPUT 3 • Frank Zappa, Lemme Take You To The Beach

Wie werdet ihr das denn beim Konzert in Berlin aufführen?

Ach, das steht im Programm? Das sollte eigentlich eine Überraschung sein, ohne Ankündigung. Unser Klarinettist Carl Rosman, der die Varèse-Stücke dirigiert, ist nämlich auch ein sehr guter Sänger, der wird das singen.

In der Tonlage?

Ja, und ohne Pitch-Shifter.

Spricht eigentlich Jazz-Rock spielen ganz andere Aspekte deiner Persönlichkeit an als ernste Kompositionen für Schlagwerk? Gibt es den lustigen Rocker und den ernsten Klangforscher?

Nein, eigentlich gar nicht. Zyklus wird auch am besten mit einer humorvollen Attitüde gespielt. Klar, man braucht da eine andere Art von Konzentration, aber auch da ist ein Jazz-Idiom drin. Es geht ja um das Improvisieren mit den einzelnen Formschnitten, die man bastelt und klebt. Das ist nicht so weit vom Jazz entfernt, in dieser Mischung aus Serialität und Offenheit.

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Dirk Rothbrust und Pierre-Laurent Aimard spielen Stockhausens Kontakte (Auszüge)

Apropos kleben: Was hält denn Ionisation von Varèse in deiner Wahrnehmung zusammen, das ihr beim Musikfest in Berlin ja auch spielen werdet?

Hmm, also ich muss da an Cage denken. Vielleicht liege ich da falsch, aber gerade Cage hat ja dafür plädiert, dass man die einzelnen Klänge für sich wahrnimmt. Klänge sind die Blasen an der Oberfläche, hier ist einer, hier ist der nächste. Aber was ganz natürlich und wie von selbst passiert, ist, dass sich die Klänge verbinden, selbst bei einer so zufälligen Form wie der von Cage. Und so kommt es mir auch vor bei Ionisation, das ja streng rhythmisch und kontrapunktisch komponiert ist. Und dann gibt es diesen dynamischen Verlauf, Metallklänge verbinden die kürzeren Klänge miteinander, da entsteht eine Schicht, eine Harmonie aus Becken, Tam Tam und Sirene.

John Cage, 27’10.554“ (Auszug); Dirk Rothbrust (Schlagzeug); erschienen auf: Dirk Rothbrust, Cage, Feldman, Wolff (gligg Records, 2012)

Welches sind denn so die frühen Meilensteine in der Ausbildung, die man sich erarbeitet, die man bewältigen muss?

Ionisation gehört dazu, aber ich würde auf jeden Fall Zyklus sagen.

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MUSIKINPUT 4 • Samir Chatterjee, Tabla Solo

Oh, da könnte ich stundelang zuhören. Und ich bin immer so ein bisschen wehmütig über den Umstand, dass ich nicht vor 30 Jahren damit angefangen habe, Tabla zu lernen … es ist die Königin der Schlaginstrumente … ich bin einfach nur neidisch, dass ich sie nicht spielen kann (lacht). Aber ich glaube, das ist etwas, wofür man sich ernsthaft entscheiden muss, wenn man mit Musik aus anderen Kulturkreisen arbeitet.

Ich hab mal ein Stück von Mauricio Sotelo gespielt, ein Lachenmann-Schüler; der hat für unser allererstes Rheinkonzert beim WDR ein Stück geschrieben – für Ensemble und Tabla-Solo. Der Solist war damals Trilok Gurtu. Als das 10 Jahre später wieder aufs Programm kam, sollte ich das spielen. Ich meinte ›sorry, aber ich kann nicht Tabla spielen, geht nicht‹. Mauricio hat dann gesagt: Ja, Trilok hat das damals schon super gemacht, aber weißt du, der konnte nicht mit Dirigent spielen. Es gehört halt beides dazu. Wie wäre es, wenn du dir ein Instrumentarium überlegst und ein Drumset zusammenstellst, das die Klänge der Tabla imitiert?‹ Das habe ich dann gemacht, und es war super spannend.

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MUSIKINPUT 5 • Bruckner, 8. Sinfonie; IV. Satz; Günter Wand, NDR Sinfonieorchester

Oh, das ist sicher ein großer Spaß, das zu spielen.

Aber bedauerst du sie nicht manchmal, die Orchesterschlagzeuger?

Nein, auf keinen Fall. Für mich war immer klar, dass ich nicht ins Orchester gehe; die haben damals halt noch keinen Zappa gespielt (lacht). Irgendwie habe ich mich da nicht gesehen mit der Triangel in der Hand, dann morgen wieder mit der Triangel in der Hand, dann vielleicht mal mit dem Tambourin, mal mit der großen Trommel. Ich bin sehr früh mit Neuer Musik und mit Komponisten in Kontakt gekommen, mit 15, 16, das fand ich alles interessanter, vielfältiger spannender. Ich hatte Angst, dass ich da versauern würde.

Siehst du Dirigenten, die die Rolle des Schlagwerks voranbringen?

Na ja, generell wird das Repertoire ja immer mehr geöffnet, und gute Orchester haben auch die Varèse-Stücke alle mal gespielt. Es gibt natürlich Dirigenten, die wirklich offen sind und sich mit Schlagzeug auskennen, durch ihre Arbeit mit Ensembles, ganz großartig, gerade hier in Köln François-Xavier Roth.

MUSIKINPUT 6 • Mouse On Mars, Distroia (sonig, 1999) • Link zum Stück auf iTunes

Fast kein Instrumentenklang wurde so sehr elektronisch simuliert, variiert und weitergeführt wie das Schlagzeug. Du suchst selbst nach Klängen in der physischen Welt, andere machen das am Computer; gibt es da manchmal Neid oder auch Geringschätzung?

Nein, gar nicht. Ich finde es nur spannend, wie sich diese beiden Welten in den letzten 20 Jahren angenähert haben, die elektronische und die komponierte Musik und wie beide eigentlich dasselbe meinen. Wir spielen ja nächste Woche mit Jan und Andi (Jan Werner und Andi Thoma von Mouse On Mars, d. Red.), die verwenden so Schlagzeugroboter, kleine Maschinen, die vom Computer gesteuert werden und Instrumente anspielen, extrem schnell, extrem präzise (hier im Video zu sehen, d. Red.). Und andererseits ist das lebendige Medium Mensch, durch das die Musik nochmal fließt, etwas ganz anderes. Und viel spannender als die Frage, was besser ist, finde ich Interaktion. ¶