Sex, Drugs & Kunstmusik! Komponieren, Musizieren und Musik Hören. Wo ist es Lifestyle und wo wird es zur Sucht? Mit welchen Narrationen kann man seine Leidenschaft im Musikbetrieb ausleben? Wo kommt man an Grenzen? Und was sucht man eigentlich in der Musik? Unser Autor Bastian Zimmermann befragt bekannte Personen aus dem klassischen Musikbetrieb zu ihrem ganz persönlichen Suchtverhalten.

Text Bastian Zimmermann · Datum 15.2.2017

Heute treffe ich erstmals eine Protagonistin. Bis zur letzten Minute war ich, gesättigt von Männersuchtgeschichten, auf der Suche nach einer Frau und hatte schon ein Pamphlet zu den allgegenwärtigen Genderproblematiken vorfomuliert, da bekam ich nach über zehn Absagen plötzlich eine Zusage. Sie bleibt anonym, nennen wir sie Bane Jathori. Jathori ist Sängerin und Pianistin, häufig beides zugleich. Sie performt und lehrt weltweit. Wir treffen uns in einem Café, natürlich wieder neutral in Mitte, am Nebentisch wird ein 70. Geburtstag gefeiert.

VAN: Was kam dir als Erstes in den Kopf, als ich dich gefragt habe, ob dir zu dem Thema Musik und Sucht etwas aus deinem Leben einfällt?

Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich es direkt mit meiner Jugend und Kindheit verbinden konnte, als ich Tag und Nacht am Klavierspielen war, solange, bis meine Eltern mich vom Klavier weggezogen haben. Es gab wirklich diese Zeit in meinem Leben, in der das alles war, was ich tat.

Wann hat das angefangen?

Es begann ziemlich früh mit fünf oder sechs Jahren. Ich war nur daran interessiert, Klavier zu spielen, an nichts anderem. Und dann wurde ich älter, es gab dann eine kurze Zeit, in der es auch mal weniger interessant war, so mit 11 oder 12 Jahren. Aber es kam immer wieder zurück. Besonders wichtig zu erwähnen ist, glaube ich, dass zwischen meinem 5. und 17. Lebensjahr meine Eltern sehr oft, fast halbjährlich umgezogen sind. Das Klavier war die einzige beständige Sache in meinem Leben. Ich hatte da nicht viele Freunde. Ich denke, dass dieser Umstand tief mit meiner Existenz verbunden ist.

Gab es da nicht irgendwelche Probleme? Du kamst ja in die Pubertät. Gab es da Konflikte mit dir selbst? Oder haben sich die Freunde bei dir beschwert, weil die was anderes machen wollten?

Ich brauchte es. Es war für mich eine Möglichkeit der Flucht.

War diese Hingabe mit einer bestimmten Musik verbunden?

Ja, von Anfang an war es Beethoven, meistens Beethoven. Er hat mich immer wieder gecatcht, ziemlich stark.

Du warst dann sehr früh am Konservatorium. Gab es irgendwann den Moment, an dem du gesagt hast, ›es ist zuviel, ich brauch was anderes‹?

Nein, auf keinen Fall, ich hatte immer eher das Gefühl, dass die Dinge sich mir in den Weg stellen, wie meine Freunde zum Beispiel …

Also die waren verärgert und nicht du.

Ja. (lacht)

Niemals?

Nein, nie.

Kommt da nicht irgendwann der Moment, wo man jemanden liebt und die Person ist genervt, weil du immer in dieser anderen Welt bist?

Absolut, ja. Bis heute kann ich keine Beziehung führen. Schau mich an. 32 Jahre alt und ich kann immer noch keine Beziehung führen. Wegen genau diesem Problem. (lacht)

Hat sich deine Sucht nach Musik auch mit anderen Süchten verbunden?

Für eine lange Zeit – aber ich weiß nicht, ob das eine Sucht ist – hatte ich so eine Idee von Liebe. Das ging ungefähr fünf Jahre lang so, als ich in meinen Zwanzigern war. Es ging um die Aufmerksamkeit von Männern. Ich war immer wieder von Jemandem besessen. Und nicht wegen des Sex, weil meistens war ich mit den Männern nicht zusammen. Also gar nicht. Nein, unerwiderte Liebe. Meistens wussten sie es gar nicht. Wir hatten nie miteinander gesprochen. Sie kannten mich gar nicht.

War das eine Art Ersatz? Weil du ins Klavier verliebt warst?

Vielleicht. Ich hab dann aber auch irgendwann mehr gesungen als Klavier gespielt.

Wie kam der Wechsel zustande?

Es ist dieselbe Sache, derselbe Ausdruck für mich, nur dass man dann die Stimme und nicht die Finger benutzt. Und ich musste auch realisieren, dass eine große Karriere mit dem Klavier nicht in Aussicht stand.

Dir geht es also auch um das Performen auf der Bühne, vor Leuten?

Ja, sicherlich. Und ich würde sagen, für mich ist das Publikum noch nicht mal so wichtig, nicht der eigentliche Grund der Befriedigung. Es geht tatsächlich um dieses High. Der Moment vorm Auftritt ist für mich bis heute der reine Terror. Dann gehst du auf die Bühne und lässt das hinter dir, es fließt dann einfach. Dieses Gefühl gibt es nicht nochmal woanders für mich. Ich hab nie viel Drogen genommen. Die Bühne ist intensiver. Es geht da nur um dich. Was für ein Adrenalin.

War die Obsession zu Männern irgendwie mit der Obsession zur Musik verbunden?

In der Musik hab ich das Gefühl, dass die Komponisten in genau der Sprache, die sie kennen, nach etwas suchen. Und sie verbringen Stunden über Stunden damit. Und wenn ich nun Stunden über Stunden danach suche, was die damals gesucht haben, frage ich mich auch irgendwann, wonach ich eigentlich suche. Und mit Anfang 20 ist es auch die logischste Sache der Welt, nach einem Partner zu suchen, nach der idealen, perfekten Person, deiner zweiten Hälfte. Ich habe also obsessiv Stunden in meinem Übungsraum verbracht und in der restlichen Zeit mir diese Liebe vorgestellt. Eine Geschichte: Ich war an der Uni im Masterstudium. Und da war dieser Pianist. Wir haben nie miteinander gesprochen. Wir sind uns immer im Flur begegnet. Wir schauten uns in die Augen, lange, und sind dann wir beide weiter üben gegangen. Oft bis spät in die Nacht, er auch. Und das war so wundervoll, dieses Nicht-Sprechen und sich nur anschauen. Natürlich dachte ich an ihn zwischendurch, beim Spielen und vice versa – vielleicht. (lacht) Ich mochte es, mir vorzustellen, dass er an mich denkt. Einige Monate später sprach er mich an und fragte mich nach einem Date. Und es war einfach ein schrecklicher Abend, keine Chemie. Und er war sich auf einmal so sicher. In dieser Nacht hat er mich dann noch einige Male angerufen, die Tage darauf auch: ›Ich habe noch nie jemanden wie dich kennengelernt.‹ Das ging noch lange. Es war schrecklich. Und ich dachte, vielleicht bin ich zu idealistisch. Diese Geschichte hat sich dann mit anderen Männern immer wieder wiederholt.

Wie sah so ein Tag am tiefsten Punkt deines Lebens aus?

Ich stand auf und bevor ich irgendetwas tat, hab ich Musik gehört, bin dann proben gegangen, danach hab ich Musik gehört und bin dann in ein Konzert gegangen. Vorm Einschlafen hab ich nochmal Musik gehört. Das war dann immer Schumann oder so. Full on. Die Musik hat mich ständig gerettet. Ich hab die Welt gehasst, ich hatte Angst vor der Realität.

Welche Realität?

Mein Herz war gebrochen und ich hatte echte Probleme mit Depression. Wenn ich die Musik ausgemacht habe, kam das alles hoch an die Oberfläche, meine Kindheit und so weiter. Auch als Kind, das war meine Art, mit meiner Familie und der Welt drumherum umzugehen. Lass die Musik an! Und wie schön finde ich es heute, dass es zumindest klassische Musik und insbesondere Beethoven war, dieser geniale Meister mit einer guten Message an die Menschheit, dem ich verfallen bin und keine Popmusik oder so. Diese Musik hat meine Seele gebaut, deswegen bin ich heute so optimistisch.

Wann hat sich dann etwas für dich geändert?

Es gab einen Punkt, wo ich realisieren musste, dass es zwei Möglichkeiten gibt, mit meinem Leben fortzufahren. Ich war wirklich am tiefsten Punkt meines Lebens vor zwei Jahren, wo ich nicht wusste, wie es vorangehen soll oder ob es überhaupt vorangehen soll. In diesem Zustand war ich für ein paar Monate. Und auch dort: Das Einzige, das sich für mich real anfühlte in dieser Situation, war die Musik. Die Musik hat mich gerettet. Aber es gab die Wahl mit der Musik weiterzumachen, so wie zuvor, dass ich mich immer auf sie verlasse, wie in einer Komfortzone, oder dass ich sie als eine Quelle für Inspiration nehme. Es ging darum, Musik entweder als Tröstung zu begreifen oder als eine Idee für die Zukunft, für eine Art und Weise, wie man leben kann. Ich erinnere mich an den Moment, in dem die Musik sich für mich transformierte. Von der Musik, die ich anhöre, Klänge, Melodien, Harmonien, das perfekte Werk, das Universum, das jemand anderes kreiert hat, hin zu einer Musik, die mich inspirierte, eine eigene Stimme zu haben …

Du hast dir die Musik dann anders angeeignet, als kreativen Akt …

Ja, ich hab sie mir gegriffen und vor der Schlafzimmertür gelassen. Heute bin ich alleine in meinem Schlafzimmer und ich nutze Musik als Inspirationsquelle wann ich es will. Noten sind für mich nicht mehr nur Noten, sie sind für mich heute Ideen für eine zukünftige Menschheit, geschrieben von einem wundervollen Genius, der alles getan hat, was er konnte mit den Limitierungen seiner Zeit. Das sind Dinge, die er anders nicht sagen konnte, außer der Musik. Also frag ich mich: ›Was kann gesagt werden? Oder was muss gesagt werden?‹ Ich nehme da mehr Distanz ein.

In gleicher Weise hat sich das mit den Männern geändert? Statt dich in ihnen zu verlieren, hast du dein Begehren in die Hand genommen?

Ja. Es war eine Entscheidung, ob ich noch leben will oder nicht. Das hört sich dramatisch an, aber so war es. Die Tendenz gibt es heute immer noch, aber ich bin mir darüber bewusster. Ich bin heute viel strenger mit mir selbst. Musik bedeutet heute für mich etwas anderes als damals. Heute wach‘ ich auf und schreibe erstmal. Da bin ich ganz bei mir. Dann mach ich einen Warm-Up für meinen Körper, dann für die Stimme. Ich gehe raus, frühstücke, schreib Emails, treffe Freunde … einfach eine klare Routine. Ich setze mir bestimmte Zeiten, um zu üben, zwischendrin. Natürlich denk ich immer an Musik.

Und in dem Moment begehrst du die Musik wieder?

Nein, heute ist es etwas ganz Anderes. Es ist die Faszination. Ich fahr zum Beispiel viel Fahrrad und denke dann nach: ›Ich frag mich, was in diesem Brief steht, den Schubert an Goethe geschrieben hatte!?‹

Heute ist es also mehr ein historisches Interesse?

Ja, vielleicht. Es ist einfach anders. Ich habe auch noch diese Ohrwürmer. Es ist so schön. Ich kann die heute mit so einer Liebe annehmen. Ich denk dann an die Melodie und fahr aber weiter Fahrrad und denk einfach, ›Das ist so perfekt‹. Das ist die Quelle für Schönheit in meinem Leben. Und wenn ich mit Freunden bin, bin ich einfach mit Freunden. Gestern hatten wir ein Abendessen mit Freunden und wir hatten eigentlich eine seltsame Konversation. Aber das ist jetzt auch Musik für mich. Ich kann das jetzt auch genießen. ¶