Nach allem, was wir heute wissen, wurde die erste Musikkritik in Brasilien auf Deutsch verfasst und erschien im Juli 1820 in der »Allgemeinen Musicalischen Zeitung«. Gegenstand war eine Aufführung von Mozarts Requiem unter der Leitung von Pater José Maurício Nunes Garcia in der Kirche der Geburt in Rio de Janeiro. Der Autor des Textes, Sigismund von Neukomm, stammte aus Salzburg, wo er einer der Lieblingsschüler Haydns gewesen war. In seinem Artikel lobt er überschwänglich die herausragenden Qualitäten des in Rio geborenen »Kapellmeisters« als Komponist, Dirigent und Erzieher:»Ich meinerseits rechne es mir zur Pflicht, diese Gelegenheit zu benutzen, um unsere europäische Kunstwelt auf einen Mann aufmerksam zu machen, der es nur seiner großen Bescheidenheit zuzuschreiben hat, wenn seiner vielleicht erst bey dieser Gelegenheit zum erstenmale öffentlich gedacht wird. Er hat umso mehr die gerechtesten Ansprüche auf ehrenvolle Auszeichnung, da seine Bildung blos sein eigenes Werk ist.«
Über das Requiem schreibt Neukomm: »der Eifer, mit dem Hr. Garcia allen Schwierigkeiten entgegengearbeitet hat, um endlich auch einmal hier ein Meisterwerk unseres unsterblichen Mozart’s zur Aufführung zu bringen, verdient den wärmsten Dank der hiesigen Kunstfreunde.«
Allerdings würde erst die nächste Generation – die Schüler von Neukomm und Pater Garcia – den Beginn der ersten privaten Konzertvereinigungen erleben, wie die 1834 gegründete Sociedade Filarmónica do Rio de Janeiro. Diese Vereinigungen, die sich vor allem an die wirtschaftliche Elite mit europäischer Bildung wandten, spielen bis heute eine wichtige Rolle in der Entwicklung und Förderung eines institutionellen Umfelds für klassische Musik in Brasilien. Anspruchsvolle Aufführungen klassischer Musik konnte man lange Zeit jedoch nur in den großen Zentren – vor allem São Paulo und Rio de Janeiro – besuchen.
Konzerte mit internationalen Künstlern waren bis vor Kurzem ohnehin eine unbezahlbare Ausnahme: Das Zentrum der einen Welt ist die Peripherie einer anderen.
Den Bemühungen, eine eigene Orchesterlandschaft zu etablieren und damit über die Grenzen des Landes hinaus Aufmerksamkeit zu erregen, fehlte lange ein professioneller Standard. Trotz einiger »guter Zahlen« mündete der Mangel an künstlerischer Planung und administrativer Autonomie nicht selten in einer musikalischen und institutionellen Krise. Der Bruch mit dieser Tradition vollzog sich mit der Ankunft des neuen Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo (OSESP), das zumindest São Paulo aus der Peripherie in das Zentrum des internationalen Klassikdiskurses geführt hat.
Im 20. Jahrhundert entstanden in São Paulo wegweisende Kunstbewegungen: 1922 die Semana de Arte Moderna (Woche der Modernen Kunst), die den Komponisten Heitor Villa-Lobos berühmt machte, 1951 die Biennale von São Paulo, nach Venedig die zweitgrößte Kunstbiennale der Welt. 1958 erschien das Manifest der Konkreten Poesie der Künstlergruppe Noigandres, die 1960er Jahre brachten den Tropicalismo und Teatro Oficina, die 1980er die Musiker der Vanguarda Paulista hervor. Dies sind nur einige Beispiele der wichtigen kulturellen Rolle São Paulos.
Das OSESP besteht seit 1954, wurde aber ab 1997 unter der Leitung von John Neschling grundlegend reformiert. Der Bau des Konzertsaals Sala São Paulo, in dem es seit seiner Eröffnung 1999 eine Heimstatt gefunden hat, gab einen zusätzlichen Schub auf dem Weg zu einem Spitzenorchester. Die Stiftung, die heute das Orchester verwaltet, hat die Leitung auf drei Personen verteilt: die US-Amerikanerin Marin Alsop als Chefdirigentin und musikalische Leiterin sowie den Brasilianer Arthur Nestrovski als künstlerischen Leiter und Marcelo Lopes als Geschäftsführer.
Das Jahresbudget des Orchesters beträgt derzeit 98 Mio. Reais (ca. 32 Mio. Euro), von denen fast 60 Prozent vom Staat kommen; die Eigenkapitalfinanzierung wächst jedoch stetig und hat sich in sieben Jahren fast verdreifacht. In der vergangenen Saison besuchten 238.000 Menschen die 242 Konzerte; man zählte über 12.000 Abonnenten. An Bildungsprojekten wie Kinderkonzerten und öffentlichen Proben nahmen 120.000 Kinder und Jugendliche teil. Die künstlerischen Leistungen der letzten Jahre suchen in Lateinamerika ihresgleichen: die Aufführung aller Sinfonien von Mahler, Bernstein und Sibelius; Kompositionsaufträge für Komponisten unterschiedlicher Generationen und Stile; ; Gesamtaufnahmen der Sinfonien von Villa-Lobos und Prokofjew sowie Tourneen mit Konzerten im Musikverein Wien, dem Concertgebouw Amsterdam, bei den BBC Proms und in der Berliner Philharmonie.
Der Aufschwung des OSESP kann als wichtigste Entwicklung in der Geschichte der klassischen Musik in Brasilien betrachtet werden. Er hat die Möglichkeit eröffnet, nunmehr wöchentlich und zu einem erschwinglichen Preis Konzerte mit einem anspruchsvollen und sorgsam kuratierten dramaturgischen Konzept und einigen der weltweit besten Musiker zu besuchen. Der Klang des Orchesters wurde zu einem festen Bestandteil des kulturellen Alltags in der Stadt.
Von dieser Umgebung profitieren auch musikalische Sozialprojekte wie die Sinfônica Heliópolis (siehe Artikel in dieser Ausgabe), deren Mentoren sich vor allem aus Musikern des OSESP rekrutieren. Andere Städte und Bundesstaaten beginnen langsam, dem Beispiel des OSESP zu folgen. Hierzu gehören zum Beispiel die Reform der Sinfônica Brasileira in Rio de Janeiro sowie die Gründung des Orquestra Filarmónica in Minas Gerais, das administrativ und künstlerisch beginnt, über den nationalen Status quo hinauszuwachsen.
Zeitgleich scheint sich auch die Musikkritik weiterentwickelt zu haben: Wo Journalistinnen und Journalisten Woche für Woche auf hohem Niveau mit einem breiten musikalischen Repertoire konfrontiert werden, bildet sich ein tieferes Wissen über Aufführungspraktiken und Interpretationsschulen heraus, man zieht Vergleiche zwischen Aufführungen, die Qualität der Texte in Zeitungen und Musikzeitschriften steigt.
Investitionen und effizientes Management sind nur ein Teil der Gleichung; sie können den Erfolg dieser Bewegung nicht vollständig erklären: Es ist, als habe sich über lange Zeit ein künstlerisches Potenzial aufgestaut, welches nun freigelassen wurde.
Damit klassische Musik auch in Zukunft eine kulturelle Rolle spielen kann, reicht es nicht, das Alte zu bewahren, sondern es bedarf einer ständigen Erneuerung. In dieser Herausforderung unterscheidet sich Südamerika nicht von der sogenannten Alten Welt.
Bis vor einem Jahrzehnt beschränkte sich der Beitrag Brasiliens auf der Bühne der klassischen Musik vor allem darauf, einige vielversprechende Talente hervorzubringen: Die Sopranistin Eliane Coelho, der Pianist Nelson Freire, der Cellist Antonio Meneses, das Assad-Duo an der Gitarre, der Bariton Paulo Szot und die Komponisten Marlos Nobre und Almeida Prado – nur um einige der aktivsten Protagonisten der jüngsten Zeit zu nennen – traten an wichtigen Opernhäusern auf oder spielten mit führenden Orchestern.
Die Arbeit dieser Künstler steht aber kaum für eine »brasilianische Kultur« der klassischen Musik. Ließe sich diese – über die regelmäßige Präsenz brasilianischer Komponisten im Konzertprogramm hinaus – aus den Aufführungen und Interpretationen des OSESP ableiten?
in Konzert des OSESP mit Marin Alsop und David Fray im Sala São Paulo mit Musik von Assad, Mozart, Schumann, Borodin und Schostakowitsch.
Unter Brasilianern gibt es die gebräuchliche Redewendung, sich – selbstironisch – als den »Hinterhof der Welt« zu bezeichnen. In Brasilien ist der Hinterhof im herkömmlichen Sinne die Rückseite eines Hauses, seine Peripherie, ein Ort, an dem all das versammelt ist, was sonst keinen festen Ort hat, was Besuchern nicht gezeigt werden sollte. Im Hinterhof gibt es Gebrauchsgegenstände, er verlängert so das Innere des Hauses nach außen hin – und ist zugleich immer auch Gemüsegarten, Obstgarten, Veranda und Terrasse; alles zusammen auf demselben Raum, ohne dass eine dieser Funktionen ihm eine klare Identität verleihen würde.
Der Hinterhof kann – woran der brasilianische Philosoph Benedito Nunes erinnert – als eine Art Ersatzgarten bezeichnet werden. Aber anders als für Europäer und Amerikaner schließen sich für Brasilianer das öffentliche Leben auf den Plätzen und die Intimität privater Häuser, die sich auch auf die privaten Gärten erstreckt, nicht aus. Unsere Städte sind ungeordnet und verschachtelt, unsere Häuser besitzen in der Regel keine Gärten. Aber es mangelt nicht an Hinterhöfen, diesem typischen brasilianischen Wohnraum.
Der Hinterhof öffnet sich nicht zur Straße hin; stattdessen nähert er das Haus nach hinten der Natur an, indem er gleichzeitig die Rationalität des Gartens leugnet. Er ist ein Ort der Verschmelzung und intimen Kontemplation, des »Trainings für die Poesie«, so der Dichter Manuel Bandeira.
Während es die Homogenität und Disziplin der besten Orchester der nördlichen Hemisphäre anstrebt, besitzt das OSESP gleichzeitig die Möglichkeit, das Andersartige zu integrieren, sich mit dem Widersprüchlichen auseinanderzusetzen. Es hat weder Angst, sich der Tradition zu stellen, noch mit Neuem zu experimentieren.
Allein, dass es jetzt in Brasilien einen Ort gibt, von dem aus man dem Kanon der klassischen Musik mit einem kritischen Blick begegnet, ist etwas Neues. Mehr ein Hinterhof als ein Garten, scheut der Klang des OSESP weder Brüche noch zwingt er den Werken eine Identität auf. Der Klang der Hinterhöfe nimmt das Publikum ohne zu zögern mit zu Mahler, Luciano Berio und Camargo Guarnieri und lässt Mozarts Requiem mit einem Enthusiasmus erklingen, in dem die Interpretation nachschwingt, die vor fast 200 Jahren ein Priester, Enkel von Sklaven, bot. ¶