Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war der Stadtteil Luz das Zentrum São Paulos und gleichzeitig das Tor zur Stadt: Seine zwei mächtigen Bahnhöfe, Luz und Júlio Prestes, waren die Verkehrsknotenpunkte der Metropole und Symbole des Fortschritts. Hier wurde Kaffee aus allen Teilen Brasiliens angeliefert, um von der Hafenstadt Santos aus verschifft zu werden, hier betraten die Immigranten aus Japan und Europa ihr neues Leben. Um die Stationen herrschten die Kaffeebarone über den noch jungen Reichtum São Paulos, an der Turmuhr der Estação da Luz orientierte sich die Zeit der Stadt.

Was danach kam, war stetiger Verfall. Die Kaffeebarone verließen die Gegend, der Gütertransport per Eisenbahn verlor an Bedeutung, der Stadtteil wurde zu einem jener Orte, die vom gefräßigen Weg der Waren und Märkte liegengelassen wurden wie ein ausgetretener Schuh. »Hier sieht alles noch nach Rohbau aus, dabei sind es schon Ruinen«, singt Caetano Veloso in Fora da Ordem. In die »Cortiços verticais«, die verfallenen Hochhäuser des Wohlstands, zog das Rotlichtmilieu ein, außerdem Obdachlose, Zuwanderer aus dem ärmeren brasilianischen Norden, dann in den 1990er-Jahren die Cracksüchtigen der Stadt. Nirgendwo konsumieren mehr Menschen die Droge als in Brasilien, viele sprechen von einer Epidemie. Luz nennt man inzwischen Cracolândia.

Estação da Luz, ein Freitagabend im Dezember. Noch immer ist die Station unter Tage ein wichtiges Transportnadelöhr, hier treffen sich zwei Metrolinien und einige Vorortzüge, und wenn man wie heute inmitten der Rush Hour umsteigt, schiebt man sich in riesigen müden Menschenpulks durch die labyrinthischen Gänge nach draußen oder an die Gleise. Man steigt hier um, aber man steigt hier selten aus. Erst recht nicht, wenn man so aussieht wie wir: weiß, bürgerlich, vom Schicksal privilegiert. Es sei denn, man will in ein klassisches Konzert.
Seit den 1980er Jahren versuchen verschiedene Stadtentwicklungsprogramme unter wechselnden politischen Vorzeichen, das Zentrum São Paulos zu »revitalisieren«: Bewohner aus besetzten Häusern wie dem Prestes Maia, des lange Zeit größten Wohnprojekts in Südamerika, wurden umgesiedelt, der Straßenhandel eingeschränkt, die Polizeipräsenz auf den Straßen verstärkt, aber auch soziale Wohnungsprogramme umgesetzt. Wie so oft ist dabei der Grat zwischen Aufwertung und Verdrängung schmal. Was für die einen heruntergekommenes Niemandsland, ist für andere informelle Stadtproduktion und Lebensraum.

Auch Leuchttürme der Hochkultur erschienen der Stadtverwaltung als gute Beschleuniger der urbanen Aufwertung: In den Verwaltungsräumen der Estação da Luz eröffnete 2006 das Museu da Língua Portuguesa, im Jardim da Luz wurde ein Skulpturenpark geschaffen, gleich daneben die alte Pinakothek renoviert, und in die alte Bahnstation Júlio Prestes der Sala São Paulo hineingebaut, der neue 1.500 Sitzplätze fassende Konzertsaal der Stadt. Hier ist seit 1999 das Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo (OSESP) beheimatet. Heute Abend steht das letzte Konzert der Spielzeit an, dirigiert von der US-Amerikanerin Marin Alsop, die seit 2012 Chefdirigentin des Orchesters ist.
Von der Estaçao da Luz bis zum Sala São Paulo sind es nur zwei Straßenzüge. Der Weg führt vorbei am ehemaligen Hotel Dumont in der Rua Mauá, einem der größten besetzten Häuser in der Gegend, über deren Bewohner und deren Kampf vor zwei Jahren ein bedrückender, beeindruckender Dokumentarfilm erschienen ist.
Leva von Juliana Vicente und Luiza Marques über die Bewohner des ehemaligen Hotel Santos Dumont in der Rua Mauá und deren Kampf für einen eigenen Wohnraum.
Wir sind die einzigen Weißen auf der Straße. In einer bolivianischen Kneipe feiert man den Beginn der Weihnachtsferien, gleich daneben eine Forró-Party, auf der anderen Straßenseite lagern Gruppen Cracksüchtiger auf dem Bordstein, auf abgewetzten Sofas und Autositzen, und rauchen. Crack-Land ist ein offener Drogenbasar, ein Stein kostet um die 5 Reais, umgerechnet 1,50 EUR.
Unsere Kleidung, der Ort, von dem wir kommen, der Ort, an den wir gehen, unsere Sprache, das was wir gerade verdauen – jeder Bestandteil unserer Existenz bildet eine Kluft zwischen ihnen und uns ab. Vielleicht bilden wir uns die Blicke in unserer Scham nur ein, vielleicht gibt es sie wirklich. Wir sind aus einer anderen Welt, aber für einen Moment am selben Ort – den wir durchqueren, der für viele der hier Lebenden aber eine Endstation ist: Jede/r Dritte stirbt innerhalb der ersten fünf Jahre nach Ankunft in Cracolândia.
Uns kommt eine berittene Polizeistaffel entgegen, direkt vor dem Sala São Paulo parken an den Eingängen Mannschaftswagen der Polícia Militar. Ein Konzert unter Polizeischutz. Dabei lassen sich die meisten Konzertgänger entweder mit dem Taxi direkt vor den Eingang absetzen oder sie kommen mit dem Auto und fahren gleich in die Tiefgarage. Von dort führt eine Treppe direkt in das Gebäude.

Durch den Eingang betritt man eine andere, vertrautere Welt der Parkettfussböden, des Weihnachtsschmucks, der Christsterne und der Recyling-Mülleimer: rot für Plastik, gelb für Metall, blau für Papier, grün für Restmüll.
Vor der Pause zwei Stücke von Arvo Pärt, der vielleicht der Paulo Coelho der klassischen Musik ist, und an dessen Musik man sich nur als Kulisse für die eigenen Gedanken erinnern kann, weil sich das Ufo-Gefühl nicht wegschieben lässt. Die Realität des Draußen sickert über die Gedanken unaufhörlich hinein in diesen Saal mit seinen korinthischen Säulen, seiner absenkbaren Decke und seiner klimatisierten Luft zum Atmen. Sala São Paulo könnte auch aus Wien, Kopenhagen, Cincinnati oder Schanghai hier abgeworfen worden sein. Im Guardian wurde er unlängst zu einem der zehn besten Konzertsäle der Welt gekürt.

In der Pause ist im Foyer ein Essensparcour aufgebaut, der die leicht chaotische, sehr sympathische Note einer Garküche versprüht. Man kauft Marken und löst diese an einem der vielen Stände ein. Im Angebot sind Feijoada, am Stand zubereitete Sushi, Crêpes, Empanadas, Eis, Suppen.
Wie klingt die h-Moll-Messe in Dhaka, die Pastorale in Dschibuti, Ein Überlebender aus Warschau in Buenos Aires? Simon Rattle hat einmal auf die Frage, warum er Orffs Carmina Burana auf ein Programm gesetzt habe, geantwortet: »Wir brauchten es für einen Silvesterabend. Die Stücke, die vor einem Massenpublikum und im Fernsehen als Feierlichkeit funktionieren, sind begrenzt.« Inmitten von Cracolândia klingt die Carmina Burana wie Hohn, wie eine penetrante, grobschlächtige Fratze aus Mittealterfolklore, Brot und Spiele und Schenkelklopfen. Strawinski nannte sie »neo-neandertalsche Schule«, und so hört sie sich jetzt auch an.

Nach dem Konzert regnet es draußen in Strömen. Es gibt nicht genügend Taxis, auf dem Bahnhofsvorplatz bildet sich eine lange Schlange von Konzertbesuchern. Um uns herum schleppen sich dürre Gestalten in klamme Decken gehüllt unter das Vordach des alten Bahnhofs, zwischen einigen Obdachlosen bricht ein lauter Streit aus, misstrauisch beäugt von einer mobilen Polizeiwache. Wir warten stumm im Regen, bis wir an der Reihe sind. Dann nimmt uns ein Taxi mit in die Nacht.¶