Jan Hoet, Künstlerischer Leiter der documenta IX, wollte im Morgengrauen des Eröffnungstages, am 13. Juni 1992, in der ganzen Stadt Kassel Strauss’ Wiegenlied, gesungen von Elisabeth Schwarzkopf, die damals gerade wegen ihrer Verstrickungen in der NS-Zeit umstritten war, erklingen lassen. Das Team hat die Realisierung irgendwann aus technischen Gründen aufgeben müssen. Ein Jahr vor der Eröffnung aber wurde die internationale Kunstpresse nach Weimar zu einem »documenta-Marathon« eingeladen: 24 Stunden am Stück Berichte des Teams  und Hunderte, Tausende von Dias mit Kunstwerken – mal unkommentiert, mal ausführlich erläutert. Zumutungen waren die Stärke von Jan Hoet. Irgendwann am frühen Morgen des zweiten Tages war es uns dann gelungen, einen mitgebrachten Auto-Kassettenrekorder mit dem Saallautsprecher der Weimarhalle zu verbinden … und es erklang knisternd, aber nicht weniger betörend Elisabeth Schwarzkopfs »Träume, träume, du mein süßes Leben…«  

 

Die Beteiligung an der documenta IX hat den weiteren Berufs- und Lebensweg von Alexander Farenholtz geprägt.   Er ist heute Verwaltungsdirektor der Kulturstiftung des Bundes . 

 Wenn ich das Violinkonzert von Ligeti spiele, dann fühle ich mich in einem imaginären Luftschiff. Bartók ist ein anderer Passagier, Ligeti ist Konstruktuer und Bordingenieur. Das Luftschiff ist surrealistisch, bevölkert mit den skurrilsten Bestandteilen der Musikgeschichte und der Weltmusik: 15.000 Jahre alte Okarinas, 800 Jahre alte Gesänge der Nôtre-Dame-Schule, eine ungarische Volksweise, komplexe bulgarische Rhythmen. Die zwei Dutzend Instrumentalisten sind solistisch eingesetzt. Alles ist verdammt schwierig, und man verzweifelt fast am Zusammenspiel. Aber wenn alles zusammengesetzt ist und richtig zusammenwirkt wie komplexe Muster auf einem orientalischen Teppich, dann erhebt sich das Luftschiff und gleitet schwebend und leuchtend durch den weiten Raum.

 

 Patricia Kopatchinskaja ist Geigerin . 

 1956. Die meisten Städte Deutschlands sind wiederaufgebaut, die alten, rekonstruierten Gebäude „erstrahlen in altem Glanz“. Wirtschaftswunderstimmung. „Der Alte“, Konrad Adenauer, seit sechs Jahren erfolgreicher und international respektierter Kanzler der BRD, feiert seinen 80. Geburtstag. Mit über 1 500 Freiwilligen beginnt der Aufbau der Bundeswehr. Es ist Kalter Krieg. Auch der Kölner WDR besitzt für den Fall der Fälle einen „Atomkeller“, in dem aber, solange Frieden herrscht, das Elektronische Studio untergebracht ist mit nagelneuen Magnetophonen und kastengroßen Sinus-, Rausch- und Impulsgeneratoren. Zusammen mit seinem Assistenten Gottfried Michael Koenig nimmt der 27jährige Karlheinz Stockhausen hier wieder und wieder die Stimme eines Jungen auf. Der Arbeitsprozess ist aufwendig. Um jene Klänge zu erzeugen, die sich Stockhausen vorstellt, müssen unzählige Bandschnipsel zerschnitten und neu geklebt werden. Für zehn Sekunden Musik brauchen er und Koenig im Durchschnitt drei Wochen. Die Uraufführung des „Gesang der Jünglinge“ am 30. Mai wird zum Skandal. „Das ist Gotteslästerung!“, ruft ein Mann. Andere lachen. Am 27. September hat der Film „Die Halbstarken“ Premiere. Rock ’n’ Roll lässt Jugendliche verwegen tanzen und Eltern unverständlich den Kopf schütteln. Am 25. Oktober erklärt das Amtsgericht Berchtesgaden Adolf Hitler amtlich für tot. 33 Jahre später, mit 12 Jahren, ein paar Monate vor dem Fall der Mauer, habe ich zum ersten Mal den „Gesang der Jünglinge“ auf Schallplatte gehört.   

 

 Thomas von Steinaecker ist Autor und Regisseur.  

Foto © WDR


Ein Bild. 
Musik. 
Eine Assoziation.