Am 12. Mai 2016 sprach sich der brasilianische Senat für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT) aus. Rousseff selbst ist nun zunächst für 180 Tage suspendiert und musste ihren Amtssitz räumen, Übergangspräsident wurde der 75-jährige Michel Temer. Unter den ersten Amtshandlungen seines Kabinetts, das ausschließlich aus (weißen) Männern besteht, war die Ankündigung wirtschaftsliberaler Reformen und die Auflösung der beiden Ministerien für Kultur und für Frauen, Gleichstellung und Menschenrechte – ein Zeichen dafür, dass es beim Impeachment gegen Rousseff, die während der Diktatur Anfang der 1970er Jahren fast drei Jahre im Gefängnis saß, auch um die Rückeroberung der Macht durch eine konservative Gesellschaftssicht geht, zu deren Stützen alte politische Seilschaften, die weißen Eliten und Massenmedien und die mächtigen evangelikalen Kirchen gehören. Gegner des Impeachment bezeichnen diesen als Putsch, weil es Zweifel an der verfassungsrechtlichen Legitimität des Verfahrens gibt: Der seit 2011 regierenden und vor zwei Jahren knapp wiedergewählten Rousseff ließ sich keine Korruption nachweisen, weswegen im Vorwurf geschönter Haushaltszahlen eine Ersatzbegründung gefunden wurde. Hingegen ist laut Transparency Brasilien die Mehrzahl der für die Amtsenthebung votierenden Abgeordneten und Senatoren, auch Übergangspräsident Temer, wegen Korruption, Stimmenkauf, Geldwäsche, Entführung und diverser andere Delikte angeklagt. Gegen die Übergangsregierung und die Abschaffung der Ministerien formierte sich schnell eine Protestwelle: im ganzen Land besetzten Künstler/innen und Intellektuelle die Gebäude der zum Kulturministerium gehörenden Kunststiftung (Fundação Nacional de Artes – Funarte), in Rio de Janeiro außerdem den Palast Gustavo Capanema, das Gebäude des Kulturministeriums. Dort veranstalten Mitglieder der NGO Música pela Democracia seit einer Woche spontane Protestkonzerte: umgedichtete Versionen von Orffs Carmina Burana und Händels Messias mutierten über Social Media Kanäle schnell zu einer Art Soundtrack des Protests. Claudio Alves, Kontrabassist am Theatro Municipal in Rio de Janeiro, ist mittendrin. Kurz bevor wir mit ihm sprachen, verkündete die Übergangsregierung, die Abschaffung des Kulturministeriums wieder rückgängig zu machen. Außerdem musste der von Temer eingesetzte Planungsminister Romero Jucá seinen Hut nehmen, nachdem die Zeitung »Folha de São Paulo« ein Telefongespräch zwischen ihm und einem Petrobras-Manager, dem halbstaatlichen Mineralölunternehmen, veröffentlicht hatte, in dem beide darüber reden, die alte Regierung zu stürzen und Temer als Übergangspräsidenten einsetzen zu wollen, um Ermittlungen in einem Korruptionsskandal lahmzulegen.

VAN: Wie ist Música pela Democracia entstanden?
Claudio Alves: Wir Musiker kennen uns alle von den Musikhochschulen und Festivals. Während der Orchesterproben reden wir backstage viel über die aktuelle politische Situation. Es wuchs das Gefühl, dass wir etwas unternehmen mussten, die Frage war nur, was? Schauspielerinnen, Bildende Künstler und Filmemacher protestierten schon auf ihre Art, mit Performances und Videos. Wir Musiker haben auch eine Waffe, die wir nutzen können, die Musik. Demonstrationen von Orchestermusikern gab es aber noch nicht. Angesichts des komplexen Problems gab es irgendwie den Wunsch, gemeinsam als Gruppe aufzutreten. Wir dachten zunächst daran, etwas kleines zu spielen, Kammermusik auf der Straße, vor dem Konservatorium, auf einem Platz oder so. Je schlimmer aber die politische Lage wurde, desto größer wurde das ganze. Am Anfang waren nur die linken Aktivisten dabei, dann wurden wir immer mehr.
Wann und wie fingen eure Aktionen an?
Unser erstes Treffen hatten wir vor der Abstimmung des Abgeordnetenhauses am 17. April. Wir ahnten damals schon, was passieren würde. Als sich dann an diesem verhängnisvollen Tag im Parlament der Putsch formierte und live im Fernsehen übertragen wurde, mit all dem Unsinn, der von den Abgeordneten gesagt wurde, hat das die Leute aufgeweckt. Viele haben da erst realisiert, was eigentlich passiert. Wir Musiker haben uns dann entschlossen, ein öffentliches Konzert zu geben. Die ursprüngliche Idee war eigentlich, ein Streichquintett mit Verstärker auf dem Platz São Salvador in Rio de Janeiro zu spielen. Zunächst war es eine total intime Atmosphäre, dann wuchs es zu einem Sinfoniekonzert an: am Ende hatten wir 25 Violinen, zehn Bratschen, sieben Kontrabässe.
Euer zweites Konzert, das auf das finale Votum des Senats und die Suspendierung von Dilma Rousseff folgte, ist dann viral gegangen. Wie ist es dazu gekommen?
(Übergangspräsident) Temer hatte in seiner Antrittsrede verkündet, im Rahmen von Haushaltseinsparungen das Kulturministerium schließen zu wollen. Aber wir sind keine kleinen Kinder. Angesichts des ohnehin eher symbolischen Budgets, das dem Kulturministerium zur Verfügung stand, war uns klar, dass es eigentlich um Vergeltung ging, weil fast alle Künstler/innen von Anfang an geschlossen gegen die Putsch waren. Die Entscheidung, das Ministerium zu schließen, hat uns nur noch weiter geeint. Wir spielten dann unser zweites Konzerte im Palast Gustavo Capanema, dem besetzten Gebäude des Kuturministeriums in Rio. Es war gigantisch, man konnte alle Instrumente gar nicht zählen. Die Übergangsregierung hat vor ein paar Stunden im Zuge des öffentlichen Drucks die Entscheidung widerrufen, aber die Kulturwelt will nicht beschwichtigt werden, wir akzeptieren Temer nicht.
Wie kam es zu der Musikauswahl und Umtextung von Händels Halleluja und der Carmina Burana?
Ich glaube, es war eine der Geigerinnen, die bei einem Treffen vorschlug, den Refrain von Händels Halleluja in ›Fora Cunha‹ umzudichten (›Hau ab, Cunha‹; Parlamentspräsident Eduardo Cunha war der Hauptstrippenzieher hinter dem Amtsenthebungsverfahrens gegen Rousseff, d. Red.). Und am Tag, als wir es spielten, musste er zurücktreten (der Oberste Gerichtshof suspendierte ihn wegen Korruption, d. Red.). Als wir sangen, stürzte er. Auf Facebook schlug einer dann vor, das ›O Fortuna‹ aus Carmina Burana entsprechend in ›Fora Temer‹ umzudichten. Schließlich hatte es auch bei Cunha so gut funktioniert. (lacht) Als ich den Vorschlag sah, nahm ich zu Hause gleich die Partitur der Carmina Burana, schrieb über die Noten den neuen Text und postete das auf Facebook. Danach legten wir eine Aufnahme der Carmina Burana auf. Allein bei der Vorstellung, wie die Leute den neuen Text dazu singen würden, kriegten wir eine Gänsehaut.
Wie geht es nun mit den Protesten weiter?
Sie wachsen weiter, es gibt viele Ideen, aber was als nächstes kommt, kann ich auch nicht genau sagen. Ich bin zwar einer, der am längsten dabei ist und kann einiges voranbringen, aber alleine entscheiden kann ich nichts, das machen wir alle gemeinsam im Kollektiv. Im Moment müssen wir niemanden motivieren, das schafft Temer ganz alleine. (lacht)
Manchmal habe ich trotzdem die Sorge, dass die Bewegung an Moment verliert. Die Taktik der Übergangsregierung ist es, erst alles, wofür wir jahrelang gekämpft haben, zu zerstören und uns dann ein paar Brocken Zugeständnisse hinzuwerfen, um uns zu beschwichtigen. So machen sie es in allen anderen Bereiche auch (Umweltorganisationen protestieren zum Beispiel gegen die Berufung von Blairo Maggi, genannt »König des Soja«, der für große Abholzungen im Amazonas-Gebiet verantwortlich ist; d. Red.) Alle müssen sich darüber im Klaren sein, dass man mit einer Putschregierung und deren Anführer nicht verhandelt.
Wie würdest du die Atmosphäre im besetzten Ministerium und unter deinen Kolleg/innen beschreiben?
Es gibt gemischte Gefühle. Einige sind sehr engagiert und wütend. Andere eher ängstlich, erschrocken. Besonders die älteren Menschen, die bereits einmal miterlebt haben, was passiert, wenn die Demokratie angegriffen wird, wie hart die Folgen sein können, wie lange sie andauern, sind emotional durchgeschüttelt. Wenn du eine Rede hältst oder eine Aktion machst, kommen viele Menschen und umarmen dich oder weinen, weil sich gerade vieles im Leben der Leute verändert.
Gibt es unter deinen Kolleg/innen viele, die protestieren?
Ich möchte über oder für meine Kolleg/innen ungern sprechen, aber nach der Carmina-Burana-Aktion kamen viele nach der Probe unseres Orchester zu mir und haben gefragt, ob sie mitmachen können – darunter einige, die politisch eher konservativ eingestellt sind oder sich ungern politisch äußern wollen.

Klassische Musik hat den Ruf, elitär zu sein. Es ist auch ein Feld, wo viele eine Scheu haben, sich politisch zu äußern. Wie schaust du darauf, als Aktivist und Musiker?
Es ist eine merkwürdige Sache, die Art und Weise wie klassische Musik verkauft wird, mit diesem Pomp und Elitismus. Das ist ein bisschen außerhalb unserer Kontrolle. In Brasilien gibt es aber schon lange inklusive Musikprojekte auf lokaler Ebene, bei denen es sich sozial mehr mischt. In einer unserer Protestgruppen spiele ich mit einer älteren Cellistin, die schon 1964 als Guerillera gegen den Putsch kämpfte. Sie hat uns erzählt, wie sorgfältig sie als klassische Musikerin und Kommunistin ihre politischen Überzeugungen für sich behalten musste. Heute ist es anders, die Leute sind offener gegenüber unterschiedlichen politischen Meinungen.
Am Theatro Municipal spielen wir für die Elite, die Leute applaudieren uns, rufen Bravo. Sobald das Konzert aber zu Ende ist und wir unsere Anzüge ausziehen und in die U-Bahn steigen, spricht niemand mehr mit uns. Jetzt haben wir aber eine Stimme, und die Elite muss uns zuhören. Wir existieren nicht nur im Theater, um den Leuten eine gute Abendunterhaltung zu bieten. Jetzt haben wir auch ihr Ohr. ¶