Ist die Wachstumsparty vorbei? Wie hören wir im Postkonsum? Wie kann und muss Kunst da politisch sein? Wer stellt mir im Überfluss den Fokus ein? Und wie klingt Musik für vier Heißluftballons und Open Air Ensemble?

Darüber sprachen am 15. November 2017 im zum Resonanzraum upgecycleten Bunker auf St. Pauli Niko Paech (Volkswirt, Autor, Postwachstumsökonom und Innovationsforscher), Michael Maierhof (Komponist) und Tobias Rempe (Geschäftsführer des Ensemble Resonanz). Jeffrey Arlo Brown aus der VAN-Redaktion moderierte. Hier der erste, redigierte und gekürzte Teil des Gesprächs.

Michael Maierhof über das Instrument Ballon.

Niko Paech: Michael, würdest du dich als politisch betrachten? Es ist ja radikal, was du machst. Du weichst damit den Strukturen aus, die vermittelt werden als Musik. Wenn ich Musikunterricht habe oder wenn ich eine Ausbildung genieße, selbst, wenn ich Jazz studiere, da werden Strukturen, Regeln vermittelt. Und du brichst alle Regeln. Du bist ein Innovator. Und der Innovator ist ja der letzte Radikale, der sich über Regeln hinwegsetzt. Das ist ein Akt der Befreiung. Ich bin jetzt kein Fachmann für Avantgarde, Neue Musik, Klassik. Aber mich fasziniert das. Du brichst die Grenzen der Notation oder was Metren oder Harmonie und so weiter anbelangt – vor allem aber auch die technischen Grenzen. Würdest du sagen, dass das politische Musik ist, die du machst? Du musst keine Botschaft nennen, darum geht es mir nicht. Aber du bist ja fast ein Stachel im Fleisch.

Michael Maierhof: Ja, aber deswegen lieben wir Experimentelle Musik. Es arbeiten ganz viele so. Und da gibt es natürlich gesellschaftlich viel Gegenwind. Es gibt kleine Strukturen, in denen das gepflegt wird, also richtig undergroundmäßig – international gut vernetzt, aber es sind eher kleine Kreise. Es gibt auch in Hamburg viele, die diese experimentelle Musik nicht direkt politisch, aber im Sinne von ›da werden Grenzen oder Denkmuster oder Strukturen aufgelöst‹ als befreiend empfinden in dieser zusammengezurrten Lebensweise, in der wir stecken.

Schwingende Systeme (mit Nachbesprechung über Motoren und das Finden von Objekten). Zu den Schwingenden Systemen Michael Maierhof: »Da hab ich tatsächlich einmal reale Motoren eingesetzt. Hab ich lange nicht gemacht. Aber ich habe so Kleinmotoren entdeckt, mit denen man noch andere Klangprozesse in Gang setzen kann. Die Motoren sind bestückt mit Folien, die vor die Mikrophone gehalten unglaubliche Frequenzbereiche ergeben. Also eigentlich eine neue Bassqualität. Das ist für mich eigentlich ein neuer Kontrabass.«

Tobias Rempe: Das geht aber bei dir in der neuen oder experimentellen Musikrichtung trotzdem ein bisschen in die Richtung dieses immer geforderte Prinzips von Fortschritt und ›ganz neues Terrain betreten‹, aber du benutzt dann eben Recycling-Objekte, also ganz herkömmliche Dinge, nicht neue Objekte, neue Medien. Das, woraus du deine neuen Klänge bekommst, das ist etwas sehr Vertrautes.

Michael Maierhof: ›Neu‹ interessiert mich nicht. Das Neue finde ich vollkommen uninteressant. ›Neu‹ ist erstens ein ökonomischer Begriff, also geprägt vom Kapitalismus, der eine Ware definiert als in einem Bedürfnisverhältnis, das einem suggeriert, dass man das nun braucht. ›Neu‹ ist für mich gar kein außerhalb eines Kontextes zu denkender Begriff. Insofern gibt es für mich ›neu‹ gar nicht. Es gibt Abfallklänge in der Fabrik, da würde der Arbeiter, der täglich damit umgeht, sagen: ›Ja, kenn ich. Und ihr denkt, das ist neu?‹ Also ›neu‹, das ist überhaupt gar keine Kategorie. Eine Kategorie wäre für mich, Klänge zu finden, die etwas haben, wodurch meine Faszination anspringt und ich denke: ›Das hat was mit jetzt zu tun, das ist irgendwie heutig. Irgendwas britzelt da in dem Klang.‹ Ich gehe nicht so vor, dass ich sage: Wo könnte man jetzt noch was Neues finden? Was war denn noch nicht da? Und mach dann eine Liste. Das ist ein etwas veraltetes Denken, das ich eigentlich nicht mehr verfolge.

Tobias Rempe: Aber wenn man jetzt eine andere Analogie aufmacht und sagt: Guck mal, diese ganze abendländische Kunstmusik kommt daher, dass es irgendwann mal was ganz Einfaches, hauptsächlich im sakralen Raum Stattfindendes gab, gregorianische Choräle, einstimmig, ganz einfach, kaum metrisch geordnet. Und dann kommt die Quinte dazu – Sensation. Und dann kommen andere Intervalle und es werden mehr Töne, mehr Klangfarben, mehr Instrumente, mehr Besetzungen, mehr Möglichkeiten, mehr Lautstärke, mehr Orchesterklang, größere Säle. Diese ganze Musikgeschichte könnte man sehen als an diese Fortschritts- und Wachstumslogik gekoppelt, weil alles immer größer, lauter und komplizierter wurde.

Jeffrey Arlo Brown: Gibt es denn auch einen Überfluss an Musik? Gibt es zu viel Musik?

Tobias Rempe: Ich glaube nicht, dass es zu viel Musik gibt. Aber es gibt natürlich Fragen. Zum Beispiel bei der Beschäftigung mit Neuer Musik, da geht der Trend immer noch zur Einweg-Komposition – Veranstalter machen einfach gerne Uraufführungen und vergeben dann Kompositionsaufträge. Was auf der einen Seite für die Komponisten toll ist, auf der anderen Seite ist es viel schwieriger, solche Werke ein zweites, ein drittes Mal zu spielen. Das ist aber eigentlich etwas, was total interessant ist. Also nicht das nächste neue Stück zum ersten und einzigen Mal zu hören, sondern ein Stück öfter zu spielen und es auch von anderen Ensembles gespielt zu hören, weil sich dann etwas wirklich nochmal ganz anders entwickelt.

Jeffrey Arlo Brown: Niko, wenn ich dich richtig verstehe, ist eine deiner Thesen: Der Überfluss an Sachen, die wir konsumieren können, macht uns unglücklich.

Niko Paech: Nach Erreichen eines Sättigungspunktes. Man darf aus diesem Argument nicht die falschen Schlussfolgerungen ziehen. Menschen, die in Not und Elend leben, die brauchen nichts dringender als mehr von dem, was in unserer Welt zum Überfluss geworden ist – das ist klar. Aber man kann einen Sättigungspunkt erreichen, an dem dann die weitere Expansion der Vielfalt, auch der Reize, der Information, sogar der Ausdrucksmittel, überhaupt nicht mehr verarbeitet werden kann. Und das ist die große Entwertung. Bei Musik ist das extrem. Allein der Umstand, dass ich überall beschallt werde und mich nicht mehr davor schützen kann, Musik zu hören, die ich nicht hören will, führt schon schlicht und ergreifend zu einer Überforderung, einer Beschlagnahmung von sinnlicher Erfahrung, auch der Sinnesorgane. Und gerade bei Musik. Musik ist einfach da, anders als zum Beispiel Theater. Ich kann nicht überall von Theateraufführungen heimgesucht werden. Die muss ich aufsuchen, das ist viel interaktiver. Bei der Musik ist es nicht interaktiv, ich kann beschallt werden. Das ist ein riesiges Problem und ich weiß auch noch nicht, was da die Lösung wäre.

Michael Maierhof: Ich beschäftige mich natürlich auch viel mit Pausen. Das ist ein wesentlicher Formgenerator in meiner Musik. Mindestens 30 bis 40 Prozent der Zeit gibt es Pausen in meinen Stücken. Ich habe es mal sehr weit getrieben und ein Stück geschrieben, da war es 50/50. Ich habe irgendwann gedacht: Warum soll es in einem Stück mehr Klang geben als Pause? Warum ist das nicht gleichwertig? Das hat sich verändert, das Bedürfnis nach Stille im Konzertsaal, nach no input. Ich liebe das immer. Das haben ja schon Cage 1952 mit 4’33 und Rauschenberg 1953 mit seinem Erased de Kooning gemacht. Das Bedürfnis, etwas weg zu kriegen, um Freiräume zu schaffen. Mir tut das selbst als Kunstkonsument sehr gut, wenn sich jemand zurücknimmt, auch in der Bildenden Kunst. Wenn ich merke, da hat jemand als Künstler die anstrengende Aufgabe übernommen, zu reduzieren, Komplexität zu reduzieren. Als Spezialist mit seinem ganzen Feingefühl zu sagen: ›So, ich stelle dir jetzt den Fokus ein.‹ Ich kann dann aus meinem anderen zugemüllten Leben da hin und plötzlich mit der Hilfe dieses Künstlers, der mir auch etwas in die Hand gibt, eine Erfahrung machen. Wenn mir der Künstler aber die Erfahrung mitteilen will, dann mache ich dicht. Ich will keinen Input haben. Ich will von einem Künstler in die Position gesetzt werden, das bei mir was losgeht. Das ist meine optimale Kunstrezeptionshaltung.

Niko Paech: Das finde ich ganz wichtig. Ich benutze immer die Metapher des Ozeans der Möglichkeiten. Wir rasen mit einer immer höheren Geschwindigkeit über diesen Ozean der Möglichkeiten hinweg und je schneller wir sind, desto mehr Möglichkeiten erschließen wir und umso weniger Möglichkeiten haben wir, in die Vertikale zu kommen, also innezuhalten und etwas zu vertiefen und den Gehalt oder auch die mögliche Irritation oder was auch immer in irgendeiner Form aufzunehmen.

Exit F, dazu Michael Maierhof: »Es gibt ein richtig verschwenderisches Stück, das ich mal gemacht habe als Auftrag für vier Heißluftballons und open air Ensemble. Wahnsinnig teuer, ich haben den Auftrag erst abgelehnt und gesagt: Ich mach hier keinen Event-Kram. Und dann meinten die vom Nadar Ensemble: ›Komm doch mal hier nach Antwerpen und hör es dir an. Wir haben hier ein Ballonfestival, das ist super – diese Verbrennungssounds von dem Ballon.‹ Da bin ich hingefahren und hab gesagt: Mach ich sofort. Und das ist das Stück.«

Jeffrey Arlo Brown: 120 Leute nach China zu schicken für eine Tour ist eine riesige Belastung für die Umwelt. Niko, sollen wir das noch machen?

Niko Paech: Ist die Musik in China so schlecht? Gibt es dort so wenige gute Künstler?

Jeffrey Arlo Brown: Eben nicht.

Niko Paech: Das ist eben die Frage. Das ist ja nicht gegen Musik gerichtet. Es ist auch nicht gegen Austausch gerichtet, weil Austausch vielleicht erst dann spannend wird, wenn er limitiert ist, wenn er etwas besonderes ist. Auch die Kunst kann ja gerade inflationiert werden, wenn sie in jeder Form zu jeder Zeit an jedem Ort abrufbereit ist. Das kann man nicht nur durch die Tonträger und MP3s und itunes hinbekommen, sondern auch dadurch, dass der Musiker plötzlich keine Sesshaftigkeit mehr praktiziert. Damit geht natürlich auch einiges verloren. Eine Kunst, die zu einem globalen Schlamassel wird, der überhaupt keine Identifikationsmöglichkeiten mehr bietet, ist natürlich auch ein Verlust an Spannungsmoment oder an Innovationskraft. Wenn irgendwann die Hörgewohnheiten der Menschen in China sich nicht mehr von denen in Mitteleuropa unterscheiden, dann hat Kunst plötzlich eine andere Bedeutung. Ich glaube wirklich, dass Kunst auch was mit Räumlichkeit zu tun hat. Einzigartigkeit und Kunst sind nicht trennbar. Da, wo das nicht mehr der Fall ist, können wir noch über Pop reden oder so, oder wirklich nur noch von einer Kulturindustrie wie Adorno. Aber die Musik ist natürlich für mich als Nachhaltigkeitsforscher nicht nur ein Ausdrucksmittel, sondern dann irgendwann auch ein Industriezweig wie jeder andere auch mit allen Konsequenzen, unter anderem Transporte, Infrastrukturen, Material.

Tobias Rempe: Da müssen wir uns aber auch nichts vormachen: Exzellenz und Erfolg wird gerade an solchen Reisen, solchen Sachen gemessen in unserem Geschäft.

Jeffrey Arlo Brown: Könnte man nicht einfach aufhören, den Ruhm an Reisen zu messen?

Niko Paech: Es hat ja mal die Logik gegeben, dass es auf die Qualität der Kritik und auf die Qualität der Hörerinnen und Hörer ankommt. Die Kunstkritik von bestimmten Koryphäen war besonders wichtig. Das ist eine andere Ökonomie der Aufmerksamkeit. Es ist also ein Unterschied, ob Marcel Reich-Ranicki meinen Roman bespricht oder ob das Buch im Stern für eine Kolumne Erwähnung findet. Ich hatte mal gedacht, dass gerade die Kunst, die sich selbst ernst nimmt, sich eher daran orientiert. An der Qualität der Reaktion und nicht an der Quantität. Also nicht an Kilometern, Metropolen, Einnahmen oder Verkaufszahlen von Tonträgern.

Michael Maierhof: Das Absurde ist ja: Die Musikkritik liegt im Sterben. Die Zeitungen sparen. Musikkritiker, die Neue Musik wirklich kritisieren können, die gibt es kaum noch. Die Musikkritik geht gegen Null. Früher wurde jedes Konzert, das in der Musikhalle stattfand, besprochen. Sogar in der MOPO, da gibt es schon lange keine Musikkritik mehr. Ein bisschen steht noch ab und zu was im Abendblatt, aber nur so Highlight-Konzerte, Zeitgenössische Musik ganz wenig. Das gilt nicht für das Ensemble Resonanz. Aber viele andere haben echt Probleme, überhaupt Öffentlichkeit zu bekommen.

Niko Paech: Irgendwo ist die Kunst dazu verdammt, sich ein Stückweit der Verwertungslogik zu unterwerfen. Der Künstler muss futtern.

Michael Maierhof: Und natürlich haben die Behörden diese Logik mittlerweile vollkommen übernommen. Ich kann mich erinnern, wir hatten diese Kultur-Steinzeit, als die Schill-Partei in der Regierung war. Da haben wir als Verband für Aktuelle Musik, also die organisierte Freie Szene in Hamburg, die Devise bekommen: Unter 100 Besuchern wird hier kein Konzert mehr gefördert. Wir haben dann gesagt: Wir machen Konzerte, da sitzen 10 Leute. Das muss möglich sein im Underground, da, wo Spezialisten sich treffen. Diese Verwertungslogik gibt es also selbst in den Kulturförderinstitutionen behördlicherseits, die eigentlich dafür da sind, den Reichtum in der ganzen Breite zu stützen – und Hamburg ist ja eben auch berühmt für seine Subkultur. Das ist eine Stärke dieser Stadt. Wenn man da nichts mehr hingibt, dann geht der letzte Rest auch noch nach Berlin.

Jeffrey Arlo Brown: Es ist ganz klar, dass wir alle mehr acht geben müssen auf unsere Umwelt, weniger konsumieren müssen, vielleicht weniger reisen müssen. Kann denn die Kunst, wie zum Beispiel Michaels Musik, dazu beitragen?

Niko Paech: Oh ja. Die Kunst kann eine Metapher erschaffen. Das gilt für die Bildende und Darstellende Kunst. Eine Metapher für die Möglichkeiten der Reduktion. Ich meine nicht minimalistische Kunst, sondern die Reduktion der Mittel, indem dem Vorhandenen anderer Sinn eingehaucht wird. Aber die Kunst kann auch sehr politisch sein. Und dann kann die Kunst schlicht und ergreifend auch auf technische Weise nachhaltig sein, indem man sagt: Nein, wir fliegen nicht jedes Jahr nach China. Das ist dann derselbe Nachhaltigskeitsmaßstab, den ich auch an die Produktion eines Jacketts anlege. Equipment, Energieströme und so weiter kann man in gewisser Weise optimieren.

Aber das finde ich langweilig. Wichtiger sind mir die Metaphern, wichtiger ist mir der Umgang mit Sinn und der Umgang mit Umwelt. Auch die Sinne zu schärfen für die Zerstörung von Umwelt, denn die Akustik ist auch Teil der Zerstörung. Sie ist eigentlich eine andere Dimension dessen, was wir auf diesem Planeten falsch machen. Und den Blick auf diese Dimension zu werfen und dieser Dimension den Spiegel vorzuhalten, auch die Anarchie der Klänge mal zu übersteigern, das hat man im Industrial teilweise gemacht in den 1970ern – auch das finde ich total interessant. Da ist das Politische ganz stark, nicht das Politische von: Ich breche Grenzen, sondern im Sinne von: Ich halte dieser Gesellschaft den Spiegel vor. Es muss nicht direkt um Ökologie gehen, es geht einfach um die Überlastung, die fehllaufende, uns zerstörende Steigerung.

Michael Maierhof: Ich vertraue den Künstlern da mehr als allen anderen. Das ist immer wieder eine Strategie gewesen in der Kunst, technologische Entwicklungen zum Beispiel zu konterkarieren. Da brauch ich, glaube ich, gar nicht groß aufzurufen zu neuen künstlerischen Aktivitäten zur Rettung der Umwelt. Gute Kunst hat das eigentlich schon immer gemacht – egal wo, im Untergrund, im Mittelgrund, in der Hochkultur – und wird das auch immer machen.

Frage aus dem Publikum: Ich ändere mein Verhalten nur, wenn die Mehrheit meiner Peergroup das macht – und in meiner Peergroup sind gar keine Künstler. Wie können wir jetzt überhaupt weniger die Welt zerstören?

Niko Paech: Wenn wir wirklich ausgehen von einem Handlungsmodell, das die Prämisse in sich trägt, dass der Mensch nur in der Lage ist, etwas zu verändern, auch in Richtung Nachhaltigkeitsverträglichkeit, wenn die ihn umgebende Sozialstruktur dieser Veränderung einen positiven Sinn zuweist oder in dieser Peergroup schon einige Leute diese neue Praktik ausführen, dann ist immer die Frage des Kommunikationskanals ganz entscheidend. Sprechen wir miteinander, zeigen wir uns Bilder oder machen wir Musik? Und wir können auch die nonverbale Kommunikation sehr schön hernehmen, um in sozialen Gebilden die Anregung, die Irritation, die Inspiration in irgendeiner Form in Gang zu bringen, die tatsächlich eine Veränderung darstellt. Und von daher hat die Kunst da ganz wichtige Funktionen in solchen Veränderungsprozessen.

Was man schon machen kann, ist Folgendes: Einen Lebensstil, der dadurch gekennzeichnet ist, dass der CO2-Fußabdruck des beobachteten Individuums so gering ist, dass er mit 7,3 Milliarden multipliziert werden kann, ohne dass wir das Zwei-Grad-Klimaschutzziel reißen, ein solcher Lebensstil muss kommuniziert werden. Der kann nicht so kommuniziert werden, dass sich einer hinstellt und asketisch sagt: ›Ich lebe zwar ökologisch, aber mir geht’s scheiße.‹ Das ist emotional und symbolisch kontraproduktiv. Wenn aber ein solcher Lebensstil in einer Stadt stattfindet, wo diese Menschen, die so leben, deshalb zum Beispiel auch nicht mehr fliegen, weil tolle Kunst stattfindet … Wenn ich in Hamburg leben würde, dann wäre das Letzte, worauf ich käme, mir ein Flugticket zu kaufen, weil in Hamburg im Vergleich zu Oldenburg, wo ich lebe (Lachen), einfach so viel los ist, auch was Kunst und Musik angeht.

In einer Welt, in der Menschen so nachhaltig leben, dass es wirklich diese Bezeichnung verdient, werden diese Menschen schlicht und ergreifend einen Akt der Deindustrialisierung vornehmen müssen. Und diese Deindustrialisierung verlangt danach, die Zeit anders zu strukturieren, die vormals verausgabt wurde, um entweder an der Industrieproduktion beteiligt zu sein, oder die Industrieproduktion zu konsumieren. Und die Subsistenz, also das Selber-Machen, das nicht industrialisierte Schöpfen von Werten oder Strukturieren von Zeit kennt ganz viele Spielarten. Der Ökonom redet dann von Urban Gardening, von der Nutzungsdauerverlängerung, von der gemeinschaftlichen Nutzung und eben der Kunst. Die Kunst kann tatsächlich ein richtiges Substitut sein für jedes Tätigsein in einer Konzeption der Industriellen Fremdversorgung.

Tobias Rempe: Das ist total toll, weil letztlich Kunst, egal ob Kunstmusik oder welche Art von Kunst auch immer, nicht so politisch sein kann, dass sie sagt: Du musst das machen oder ich stehe für das oder jenes ein. Das kann sie nicht. Dann wäre sie nicht mehr frei und dann würde das viel Wichtigere nicht mehr funktionieren. Das viel Wichtigere ist nämlich, dass letztlich, egal, wo man mit Kunst in Kontakt kommt oder sich damit auseinandersetzt, da immer die Frage drinsteckt: Wie könnte es anders sein, wie könnte es auch sein? Da steckt irgendwas drin, was einen komplett aus den üblichen Mechanismen und aus dem üblichen Leben, aus der üblichen Ordnung herausführt. Genau deshalb sagt man ja: Die Kunst ist frei oder muss frei sein. Und dann könnte die Auseinandersetzung mit Klassischer Musik gerade interessant sein, weil die Kernkompetenz von Klassischer Musik die Auseinandersetzung mit dem Alten ist – nochmal und nochmal. Darin immer wieder etwas Neues zu finden. Insofern ist das vielleicht auch ein ganz tolles Bild für ein kreisförmig organisiertes System.

Ist die Wachstumsparty vorbei? Über Kunst im Postkonsum und das Spiel mit den Zukünften in @vanmusik.

Niko Paech: Da hinten sitzt meine Kollegin Katharina Dutz und gemeinsam haben wir mit dem Dramaturg des Oldenburgischen Staatstheaters eine ganze Spielzeit gestaltet, um einer Postwachstumsökonomie ein Antlitz zu geben. Das war weniger Musik, das war Darstellende Kunst im Sinne von Theater und Inszenierungen, die wir an bestimmten Orten gemacht haben. In Repair-Cafés, wir haben ein Museum für Konsumwahn eingerichtet, ein Amt für materielle Abrüstung mit Schauspielerinnen und Schauspielern und so weiter. Irgendwann hat der Dramaturg gesagt: ›Was wir Künstler euch Wissenschaftlern voraushaben, ist: Ihr könnt Konzeptionen entwickeln, zum Beispiel den Endkommunismus bei Karl Marx oder die Postwachstumsökonomie oder so, aber wir Künstler können weiter gehen. Wir können wirklich eine Welt erschaffen, die noch nicht materiell vorhanden sein muss und die auch nicht gezwungen ist, mathematisch begründet zu werden, die wirklich den freien Blick auf denkbare Zukünfte eröffnet‹, und die genau die Scheuklappen vermeidet, mit denen ich es als Ökonom tun habe. Deswegen haben wir dann auch ein Theaterstück entworfen, das den Namen Utopia trug und haben solche Zukünfte mit Schauspielerinnen und Schauspielern einfach mal durchgespielt. Das Spiel hat es uns erlaubt, viel interessanter und überhaupt nicht weniger plausibel denkbare Zukünfte zu skizzieren. Das ging viel besser, als wenn wir das im Vorlesungssaal, in Büchern oder in Forschungsprojekten machen. Also, ich muss als Wissenschaftler sagen: Jetzt ist die Kunst dran. Wir Wissenschaftler sind, wenn es um Nachhaltigkeit geht, am Ende. Jetzt kommt die Kunst und muss uns helfen. ¶