Der Theater- und Opernregisseur Kirill Serebrennikov steht seit anderthalb Jahren unter Hausarrest. Dem künstlerischen Leiter des Moskauer Gogol-Zentrums wird die Veruntreuung von 68 Millionen Rubel bei der Leitung der staatlich geförderten Theater-Werkstatt Plattform zwischen 2011 und 2014 vorgeworfen, das Gerichtsverfahren läuft noch. Mit Sergej Newski, einem Freund und Kollegen Serebrennikovs, sprach VAN im August 2017, zeitgleich wurde Serebrennikov in Moskau dem Untersuchungsrichter vorgeführt.Jetzt bringt Newski uns im aktuellen Bunkersalon auf den neuesten Stand. Mit dabei: die Musikwissenschaftler Friedrich Geiger und Marco Frei. (Eigentlich ging es im Bunkersalon in erster Linie um Schostakowitsch, aber dazu an anderer Stelle mehr.)

Marco Frei: Wie geht es Kirill Serebrennikov denn aktuell?

Sergej Newski: Ich habe ihn nur im Gericht gesehen. Aber ich darf nicht mit ihm sprechen, weil ich noch als Zeuge gehört werden könnte. Wir haben zusammengearbeitet, ich war Kurator bei seinem Projekt Plattform, das jetzt Gegenstand des Gerichtsprozesses ist. Ich habe ein Musikprogramm gemacht und zu einem Theaterstück und zwei Filmen von Kirill die Musik geschrieben.

Marco Frei: Die offizielle Version ist: Er soll Geld veruntreut haben. Er ist bekennender Homosexueller, hat einen Film über Tschaikowsky gemacht …

Sergej Newski: Eigentlich noch nicht. Den wollte er machen, aber die Gelder wurden ihm gestrichen. Er hat immer mit dem Kontext gespielt, aber er hatte auch Freunde unter den Mächtigen, natürlich, unter Putins nächsten Beratern. Er wurde von den Mächtigen eigentlich immer geschützt. Das Plattform-Projekt wurde vom russischen Präsidenten, damals Medwedjew, direkt gefördert. Ich glaube, Kirill hatte nicht geplant, Märtyrer zu werden. Aber die Umstände haben sich eben so entwickelt. Und dahinter steckt der aktuelle Kulturminister, Wladimir Medinski. Es ist nicht der ganze russische Staat gegen Kirill. Der Staat möchte eigentlich auch aus der Situation herauskommen, ohne völlig das Gesicht zu verlieren.

Marco Frei: Es kommen ja immer noch Inszenierungen von ihm auf die Bühne, wie funktioniert das, wenn er doch unter Hausarrest steht?

Sergej Newski: Über USB-Sticks. Die Proben werden aufgezeichnet, die Anwälte bringen ihm die Aufnahmen, er wiederum filmt seine Korrekturen. Kirill ist ein Arbeitstier. Für ihn ist es eine Qual, nicht zu arbeiten. Auch in seinem Theater [dem Gogol-Center in Moskau] hat er gerade eine Premiere rausgebracht.

Friedrich Geiger: Was ich ein bisschen beklemmend finde oder auch nicht richtig einschätzen kann, weil es historisch noch so nah ist: Ich habe manchmal den Eindruck, es findet eine postmoderne Form des Stalinismus statt. Einzelne Elemente aus Diktatur-Kontexten, die wir kennen, werden herausgelöst und tauchen in neuen Kombinationen wieder auf, zum Beispiel dieser Vorwurf, Serebrennikov und die Mitangeklagten hätten Gelder veruntreut. Dass man einer Gruppe bestehend aus jüdischen und homosexuellen Künstlern unterstellt, staatliche Gelder veruntreut zu haben, ist so klassisch stalinistisch. Auch immer dieses Finanzargument: Für diese Art von Kunst würden jetzt öffentliche Gelder ›verschleudert‹. Auch diese Willkür kommt einem sehr bekannt vor…

Marco Frei: In Moskau wurden in den vergangenen 10 Jahren bestimmte Metrostationen, die in der Stalinzeit gebaut wurden, ›historisch rückgeführt‹, da standen plötzlich wieder die alten Losungen drauf, ›Stalin ist unser Führer‹. Was passiert da in Russland?

Sergej Newski: Deutschland ist in diesem Fall wirklich vorbildlich. Wenn Sie in Rom aussteigen und zum Olympiastadion gehen, sehen Sie eine große Stehle, auf der steht: ›Mussolini Dux‹ … Ich glaube, es gibt schon einen bösen Willen dahinter. Putin ist ein Verschwörungstheoretiker und paranoid, er weckt das Schlimmste in den Menschen. Und wenn ein Staatschef denkt, dass er jeden kaufen kann und auch jeden kauft – wir haben hier Nord Stream 2, nicht weit – und das als Hauptidee propagiert wird, dann hilft auch das Internet nicht, um eine Demokratie aufzubauen. Ohne permanente Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Aufarbeitung, kommt man nicht weiter. Das gab es in Russland sehr stark in den 80er und 90er Jahren. Dann geriet das in den Hintergrund. Und deswegen haben wir jetzt einen KGB-Mann an der Staatsspitze. Das ist ein großes Problem.

Ein Besuch bei der Gerichtsverhandlung gegen Kirill Serebrennikov: der erste Verhandlungstag des Strafprozesses »Siebtes Studio« – Moskau, Meschtschanskij Sud, am 7. November 2018. Zum Artikel
Ein Besuch bei der Gerichtsverhandlung gegen Kirill Serebrennikov: der erste Verhandlungstag des Strafprozesses »Siebtes Studio« – Moskau, Meschtschanskij Sud, am 7. November 2018. Zum Artikel

Aber auch das russische Gerichtssystem ist sehr problematisch. Nur ein Prozent der Gerichtsverhandlungen endet mit Freisprüchen. Von Seiten der Staatsanwaltschaft und des Ermittlungskomitees, das Putin gegründet hat und das überhaupt nicht kontrolliert wird, wird dahingehend Druck aufgebaut. Das Ermittlungskomitee hat auch diesen Fall gegen Serebrennikov gestartet – nach sehr sehr sehr vielen Briefen vom Publikum und von anderen Künstlern, die sagten: ›Serebrennikov ist ein Bösewicht.‹ Das hat alles die russische Intelligenzija geschaffen, nicht Putin. Wenn das Publikum und Kollegen von Kirill nicht an die Staatsanwaltschaft geschrieben hätten, hätte es diesen ganzen Prozess nicht gegeben.

»Ich glaube, Kirill Serebrennikov hatte nicht geplant, Märtyrer zu werden.« Sergej Newski erklärt in @vanmusik, wie sein Freund und Kollege aktuelle arbeitet und wer für dessen Anklage verantwortlich ist.

2014 gab es in Nowosibirsk eine Tannhäuser-Inszenierung von Timofei Kuljabin – der auch in Deutschland als Regisseur sehr bekannt ist. In der Inszenierung wurde etwa 30 Sekunden lang ein Bild gezeigt, das das Plakat des Films The People vs. Larry Flynt zitiert: ein Bild von Jesus mit einer Vagina im Hintergrund. Das hatte definitiv mit dem Sujet zu tun. Dieser Skandal wurde dann künstlich aufgeblasen und der Theater-Chef daraufhin entlassen. Das Schlimmste waren aber die Reaktionen von sogenannten gebildeten Leuten, die in Klassikforen Hasseskapaden auf diesen Regisseur losgelassen haben, richtige Shit-Storms. Ein Kollege von mir hat ein zweistündiges Stück geschrieben, das nur diese Texte verwendete. Es heißt Erniedrigte und Beleidigte. ¶

Am 24. und 25. Januar zeigt das Hamburger Thalia Theater das Stück Who is happy in Russia? nach einem Poem von Nikolai Nekrasov unter der Regie von Kirill Serebrennikov. Auf dem Sperrsitz verlosen wir Karten für die Vorstellung am 25. Januar.