Wir sitzen in der ›John-Cranko-Lounge‹ eines Stuttgarter 5-Sterne-Hotels, die auch als Mad-Men-Kulisse gut funktionieren würde. Die wenigen Gäste werden diskret mit Namen begrüßt, es herrscht eine schummrige Gediegenheit, die verflossene Behäbigkeit der Bonner Republik. Antoine Tamestit hat am Abend zuvor das erste von sechs Konzerten mit Schnittkes Bratschenkonzert, Teodor Currentzis und dem SWR Symphonieorchester gespielt. Es war sein erster Auftritt mit dem Orchester als dessen ›Artist in Residence‹ in dieser Spielzeit. Trotzdem fokussiert sich die Aufmerksamkeit vor und nach dem Konzert auf Currentzis, den selbst noch frischen Chefdirigenten des Orchesters, und Tchaikovskys Fünfte, die er in der zweiten Programmhälfte dirigiert. (Wie lange wohl die heavy rotation des Currentzis-Narrativs – Ural, rote Schnürsenkel, Messias – noch anhält?) Dabei ist das Schnittke-Konzert das größere Ereignis des Abends. Currentzis und Tamestit finden darin eine dunkle Unbestimmtheit, eine surreale Landschaft, deren Topologie zwischen nackter Kälte, Zartheit, entstellter Hässlichkeit, Zynismus changiert, und in der der verwundete Held ständig droht verloren zu gehen. Später erwähnt Tamestit Yuri Bashmet, dem Schnittke sein Konzerte widmete – die ›Bashmet-Momente‹, die Fähigkeit, innerhalb eines Lagenwechsels, von einem Ton zum anderen eine komplett neue Stimme zu finden. Tatsächlich aber gibt es in Konzerten Antoine Tamestits mittlerweile auch viele ›Tamestit-Momente‹.

VAN: Du spielst das erste Mal mit Teodor Currentzis. Wie ist es?

Antoine Tamestit: Ich war zuvor in ein paar Konzerten von ihm, unter anderem in Salzburg in einer Aufführung von Schnittkes Konzert für Chor. Das fand ich großartig, wegen der Farben, der Intensität, dem Feuer, die er für diese Musik empfindet. Dasselbe habe ich in dieser Woche wiedergefunden. Ich habe selten einen Dirigenten erlebt, der so leidenschaftlich an dem Schnittke-Konzert arbeitet … eigentlich überhaupt an einem Bratschenkonzert, an jedem Takt, jeder Phrase. Und im Konzert selbst hat er diese fesselnde, elektrisierende Kraft. Ich habe natürlich vorher viele Dinge über ihn gehört, weshalb ich nicht genau wusste, was mich erwarten würde.

Was war dein Bild von ihm?

Seit ein, zwei Jahren bekommt er sehr viel mediale Aufmerksamkeit. Klar, dass ich deshalb erstmal etwas vorsichtig war. Es ist nicht immer ein gutes Zeichen, manchmal ist es allein Resultat eines gut bezahlten Marketings. Letzten Endes kommt es für mich aber darauf an, wieviel Arbeit ein Dirigent in ein Solokonzert investieren möchte. Das ist das, was ich mache. Ich spiele im zweiten Teil des Programms ja nicht mit. Jetzt habe ich den idealen Dirigenten für das Schnittke-Konzert gefunden. Currentzis hat die ganze Woche so hart gearbeitet. Ich möchte jetzt gar nicht mehr lesen, was andere Leute über ihn schreiben.

Ist das etwas, was du mittlerweile von Dirigenten erwartest, dass sie dich herausfordern und sich der ersten Hälfte eines Programms genauso widmen wie der zweiten? Solo-Konzerte werden ja von einigen Dirigenten in der Probenarbeit stiefmütterlich behandelt.

Letzteres kann manchmal ziemlich frustrierend sein. Ich bin jetzt seit 15 Jahren solistisch unterwegs und möchte, dass jedes meiner Projekte mich noch tiefer führt, mich weiterbringt. In letzter Zeit kann ich mich aber diesbezüglich wirklich nicht beklagen. Gerade habe ich mit John Eliot Gardiner an Berlioz’ Harold en Italie gearbeitet. Jeder weiß, wer Gardiner mit jetzt 75 Jahren ist, was er geleistet hat. Aber sein Wissen über Berlioz, den Menschen, seine Geschichte, die Partituren ist unglaublich. Und er hat mich nicht einfach nur für ein weiteres Konzert eingeladen, sondern wollte mit mir wirklich in das Stück eintauchen, es gemeinsam studieren, vielleicht ein Stück weit neu erfinden, neue Ideen suchen. Sowas ist für mich ein Traum. Das ist etwas, was ich mehr und mehr will.

Ist das die Regel oder die Ausnahme?

Ich hatte in letzter Zeit diesbezüglich auch einige unangenehme Erfahrungen. Wenn ein Orchester mich zum Beispiel nur für zwei Tage einlädt, ein Konzert und eine Probe am Tag zuvor, und du weder den Dirigenten noch das Orchester kennst. Dann kommen da oft halbe Sachen bei raus, es ist einfach nicht gründlich genug. Als Solist musst du dein Bestes geben, stehst unter irrsinigem Druck, weil alle dich beobachten und gucken, ob du Fehler machst. Gestern war ich nervös, so wie ich es eigentlich vor jedem Konzert bin. Aber als ich auf die Bühne kam mit Teodor und dem Orchester, fühlte ich mich sicher: Wir kennen das Stück, wir wissen, was auf uns zukommt und was wir wollen, wir haben hart daran gearbeitet. Deshalb wusste ich, dass wir das rüberbringen würden. Wir, nicht ich alleine, so wie ich mich manchmal fühle, wenn ich nur für zwei Tage komme.

Lass uns ein wenig über das Schnittke-Konzert sprechen. Du hast es vermutlich niemals zuvor so oft hintereinander gespielt, oder?

Nein, du hast Recht.

Gibt es da eine emotionale Abfolge bei dir, wenn du ein Stück mehrmals hintereinander spielst? Du sagst, dass du beim ersten Mal immer nervös bist. Wie ist es dann beim zweiten, dritten, vierten Mal?

Ich habe eine Art zu arbeiten, die solchen großen wellenartigen Ausschlägen zwischen Aufführungen, glaube ich, entgegensteht. Ich versuche, etwas beim nächsten Mal nicht ›ganz anders‹ oder ›insgesamt viel besser‹ zu machen. Stattdessen arbeite ich immer weiter an kleinen Details. Ich notiere mir nach einem Konzert Kleinigkeiten, die falsch waren, die aber vielleicht für die Zuhörer gar keinen so großen Unterschied machen. Gestern haben wir im Konzert zum Beispiel alles gegeben im Ausdruck, ohne zu stark darauf zu achten, dass wirklich jedes Detail gelingt. Aber ich habe dann für mich meine kleine Küche, in der ich verschiedene Dinge ausprobiere. ›Dies hat nicht funktioniert, hier war es ein bisschen unsauber, dort möchte ich ein bisschen weicher klingen.‹

Du schreibst dir diese Sachen auf?

Manchmal mache ich mir nur mentale Notizen, manchal schreibe ich es auch auf, wenn ich das Gefühl habe, dass ich es sonst vergesse. Glücklicherweise nimmt der SWR hier alles auf, selbst die ersten Proben. Sie haben mir schon die Aufnahme von gestern Abend geschickt. Ich werde sie mir später anhören und dann ein bisschen an diesen Kleinigkeiten arbeiten. Davon abgesehen spiele ich jedes Konzert mit der Imagination eines Zuhöreres, der in diesem Jahr in nur in dieses eine Konzert geht.  

Du spielst im Schnittke-Konzert fast ununterbrochen, 30 Minuten lang. Insbesondere der zweite Satz, Schnittke nennt ihn ›eine hastige Jagd durchs Leben‹, hat dabei eine starke körperliche Intensität. Wie teilst du dir die Kräfte ein?

Ich habe etwas Angst davor, was es rein physisch bedeutet, das Schnittke-Konzert sechs Mal hintereinander zu spielen. Die Frage der Ausdauer ist auf jeden Fall eine Herausforderung in diesem Stück, das habe ich gestern Abend wieder gemerkt. Es hinzukriegen, dass man am Ende, im letzten Satz immer noch genug Erdung hat, genügend Kraft im rechten Arm, ist nicht so einfach. Ich mache sehr viele Übungen wie Stretching, um ›fit‹ zu bleiben. Körperlich muss ich mich auf das Schnittke-Konzert mehr vorbereiten als auf jedes andere.

Von den physischen zu den emotionalen Herausforderungen. Das Stück durchzieht eine düstere, teils makabere Ausweglosigkeit. Schnittke hat den letzten Satz als ›langsame und traurige Lebensüberschau an der Todesschwelle‹ bezeichnet. Zehn Tage nach Vollendung erlitt er seinen ersten Schlaganfall. Rückblickend bezeichnet er das Konzert als ›vorläufigen Abschied vom Leben‹. Gibt es da auch eine Gefährdung, vor der du dich als Solist schützen müsst?

Interessant, dass Du das erwähnst. Gestern haben mich nach dem Ende des Stücks tatsächlich ein bisschen meine Gefühle überwältigt. Als ich mit Teodor wieder zum Verbeugen auf die Bühne kam, war ich kurz davor, anzufangen zu weinen. Ich bin froh, dass meine Lehrer mir beigebracht haben, dass meine Verpflichtung als Solist auch nach dem Spielen weitergeht. Das Publikum ist glücklich, möchte gratulieren, möchte auch spüren, dass du den Applaus entgegennimmst. Also habe ich mich ein bisschen zusammengerissen und versucht, mich auf die Wertschätzung zu konzentrieren, die mir entgegengebracht wurde. Aber ich war ziemlich nah am Abgrund und auch ein bisschen am Zittern. Ich habe später zu ein paar Leute gesagt, dass ich mir manchmal wünschte, einfach Zuhörer zu sein. Als Solist kann ich mich nicht einfach von meinen Gefühlen überwältigen lassen. Ich muss sie soweit zulassen, dass sie stark genug sind, um den richtigen Ausdruck zu finden. Aber ich darf mich ihnen nicht einfach komplett ausliefern. Bei Schnittke ist dieser schmale Grat gar nicht so leicht zu finden. Anschließend an das Thema von eben – das sind auch Details, an denen ich weiter arbeite: Wann lässt mich zu viel Gefühl zu laut oder mit zu viel Druck spielen? Wann gerät vor lauter Emotionen die Intonation ins Wanken, wann konzentriere ich mich zu sehr auf mich, wenn ich eigentlich mehr mit den Bässen spielen müsste? Natürlich habe ich starke Gefühle und weiß Dinge über das Stück, die ich teilen will. Aber ich möchte das Publikum in das Stück ziehen, ich möchte, dass es zu dem Stück kommt, ohne dass ich es stoße oder drängel.

Du hast das Stück vor zehn Jahren aufgenommen. Wie hat sich dein Blick darauf seitdem verändert?

Ich glaube, die spirituelle und metaphysische Seite, das Subtile und Fragile, verstehe ich jetzt besser. Damals war mein Ansatz direkter, konkreter, ein wenig virtuoser. Ich hatte außerdem ein anderes Instrument. Meine eigene Bratsche von Étienne Vatelot hatte ein anderes Klangspektrum. Die Stradivari, die ich heute spiele, ist sehr anders. [Als Dauerleihgabe einer Stiftung spielt Tamestit seit 2008 die sogenannte ›Mahler‹-Stradivari von 1672, die vermutlich erste von Stradivari gebaute Bratsche.] Sie gibt mir mehr Ideen, ein größeres Farbspektrum. Die Strad kann nicht so gepushed werden wie die Vatelot. Das heißt nicht, dass sie leiser ist. Sie kann durchaus laut sein, aber du musst ihr den Raum lassen, es aus sich selbst heraus zu werden.

Das Stück endet im Tod, im Verstummen, im Ausbluten …

… ist es wirklich der Tod? Oder nicht vielleich eher Schmerz? Klar, mit all dem immer langsamer werdenden morendo …, aber dann endet er mit c – cis als letztem Intervall. Auf jeden Fall bleibt Hoffnungslosigkeit. Es gibt keine Erlösung.

Spielst du danach eine Zugabe?

Schwierig, oder? Die Entscheidung fiel mir nicht leicht. Natürlich gibt es sehr viel Bach in dem Stück, die ganzen entstellten, ins Geschmacklose verzerrten Barockzitate. Anschließend an den Beginn des dritten Satzes könnte man den ersten Satz aus Bachs 1. Sonate für Violine solo spielen, aber irgendwie hat das für mich nicht gepasst. Ich habe mich dann für die Sarabande aus der 2. Cellosuite entschieden, die mit dem unisono d–d auf zwei Saiten anfängt, ein sehr komischer Beginn, nicht besonders typisch für den Barock. Gestern hat das gut funktioniert, fand ich. Auch die c-Moll Sarabande wäre eine Option. Ich weiß, Bach machen irgendwie alle als Zugabe. Aber ich habe bisher nichts passenderes gefunden. Ich könnte Hindemith spielen, aber dann würde ich mir meinen Arm nur noch weiter ruinieren (lacht).

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Wie bereitest Du Dich auf so eine ›Tour‹ jenseits des Musikalischen vor? Gibt es andere Inspirationsquellen, Bücher, Filme, Ausstellungen?

Es kommt darauf an, wie vertraut ich mit einem Stück bin. Beim Schnittke-Konzert habe ich zum Beispiel anfangs Bulgakows Der Meister und Margarita gelesen, das eine Inspiration gewesen sein soll für das Stück. Aber nicht immer findest du dabei alle Antworten, nach denen du suchst. Ich lese gerade ein Buch über die Psychologie von Familienrollen, bei der ich viel über meinen Platz im Leben nachdenke – als Vater von zwei Kindern, dessen eigene Eltern noch leben. Die Tatsache, dass du die Kinderrolle nie richtig los wirst, aber gleichzeitg als Vater auch eine neue Rolle und Verantwortung übernehmen musst. Ich finde das sehr inspirierend und dachte, ich lese es während der Tour weiter. Ich habe das Gefühl, dass ich dieser Zeit mit dem Schnittke-Konzert auch mit einer gewissen Erdung begegnen muss. Ich verbringe viel Zeit alleine, ziemlich verschlossen, was ich normalerweise gar nicht bin, bleibe ein bisschen in meiner Blase. Es gibt in dem Stück diese große Verlorenheit, für die man gewappnet sein muss. Ich darf selbst innerlich nicht zu zerfranst sein.

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Du spielst Bachs Cellosuiten auf der Bratsche, du hast Schubert-Lieder und Belcanto-Arien aufgenommen. Gibt es ›eine heilige Kuh‹, an die du dich nicht herantrauen würdest?

Es gibt zum Beispiel eine Transkription des Dvořák-Cellokonzerts, es gibt sogar eine vom Komponisten abgesegnete Bearbeitung des Elgar-Konzertes von Lionel Tertis. Ich habe ein bisschen das Gefühl, dass das ›heilig‹ ist, zumindest bin ich immer etwas frustriert, wenn ich die beiden auf der Bratsche höre, weil das nicht gut funktioniert. Anders sieht es aus bei Mozarts Klarinettenkonzert. Die Klarinettisten sagen mir ›das ist heilig, das darfst du nicht anrühren‹, aber ich bin mir da nicht so sicher, auch weil es eine Transkription aus Mozarts Zeit gibt. Überhaupt gab es bis Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts diese Scheu vor Transkriptionen viel weniger. Gerade habe ich Bachs Gambensonaten aufgenommen, ich sehe nicht, warum das nicht gehen sollte, ebenso die Cellosuiten, die Partiten und Violinsonaten – so lange etwas zur Farbe des Instruments und seiner Persönlichkeit passt. Bach hat die Bratsche außerdem geliebt. Das Sibelius-Violinkonzert hingegen, das ich immer geliebt habe, sehe ich nur auf der Geige, das würde ich nie machen.

Die Bratsche hat sich extrem emanzipiert in den letzten Jahrzehnten. Hast Du trotzdem noch ein bisschen ein ›missionarisches‹ Gefühl, dass das Instrument Deine Fürsprache braucht und mehr Wertschätzung?

Es ist unglaublich, was sich in den letzten Jahrzehnten getan hat, nicht nur im Repertoire, auch wenn man die große Zahl toller Bratschisten anguckt. Wir haben gezeigt, was mit diesem Instrument möglich ist. Und es geht weiter, neue Klänge, neue Sprachen, Komponisten, die das Instrument erweitern. Ich würde mir aber wünschen, dass die Zuhörer, vor allem aber die Veranstalter sich noch ein bisschen mehr öffnen. Es gibt immer noch diese Hemmung, Bratschisten als Solisten einzuladen. In den USA, zum Beispiel, passiert das fast gar nicht. In Deutschland ist man offener, in Skandinavien auch, in Frankreich hingegen schon weniger. Ab und zu bin ich enttäuscht, wenn ich das Gefühl habe, das Hauptkriterium für viele Veranstalter ist der berühmte Name. Ich würde mir wünschen, wenn umgekehrt jemand sagt: ›Ich würde gerne mal das Schnittke- oder Bartók-Konzert hören, wen könnten wir dafür einladen?‹ Selbst jetzt, bei Bachs Gambensonaten, sagten einige Veranstalter zu mir: ›Leider sind das nicht die berühmtesten Stücke von Bach.‹ Was ist das denn für ein Argument?!

Du hast einige Residencies gehabt in den letzten Jahren. Gibt dir das die Möglichkeit, das Publikum ein bisschen an das Instrument und seine Bandbreite heranzuführen?

Genau! Dieses Mal, mit dem SWR Symphonieorchester, treibe ich es noch ein bisschen weiter. Eigentlich soll es keine Residency von Antoine Tamestit sein, sondern eine Residency der Bratsche. Ich möchte, dass das Publikum nach einem Jahr sagt: ›Wow, was für ein großartiges Instrument.‹ Wir spielen die Solo-Konzerte von Hoffmeister, Bartók und Schnittke, für das Kammermusikkonzert im Februar habe ich aber ein Programm nur für Bratschen zusammengestellt, wir wollen zeigen, wie gut die SWR-Bratschengruppe ist, wie Brahms in seiner Kammermusik für Bratsche geschrieben hat, wieviel Bach in Hindemith ist, wie sechs Bratschen miteinander klingen. Das Publikum hat so die Möglichkeit, sich in das Instrument zu verlieben, so wie ich es getan habe, als ich 10 Jahre alt war. Ich spielte damals Geige, wollte aber viel lieber auf dem Cello die Bach-Suiten spielen. Aber irgendwie habe ich mich mit dem Instrument nicht wohlgefühlt. Mein Lehrer hat dann gesagt: ›Weißt du, es gibt noch ein anderes Instrument, auf dem du die Suiten spielen könntest.‹ Ich hatte keine Ahnung, was die Bratsche für ein Instrument ist. Sie haben dann einfach Bratschensaiten auf meine Geige gezogen – ich bin mir sicher, es klang schrecklich, aber es war trotzdem ein Schlüsselerlebnis. Das war der Moment, in dem ich mich verliebt habe. Mein Vater, ein Geiger und Komponist, hat zu meiner Mutter gesagt: ›Ich weiß nicht, Bratsche? Es könnte schwierig werden, damit einen Job und Repertoire zu finden.‹

Was Eltern halt so sagen …

Ja, aber glücklicherweise haben sie zu mir nichts gesagt. Niemand hat irgendwas gesagt. Ich habe zehn Jahre studiert und hatte keine Ahnung von den vermeintlichen Grenzen des Instruments. Ich glaube, das war ein großartiger Weg, sich das Instrument anzueignen, so ganz vorurteilsfrei. Tabea [Zimmermann] hat ganz jung mit Bratsche angefangen, weil es alle anderen Instrumente in ihrer Familie schon gab. Das erste Stück, das ich spielen wollte, war Hindemiths Sonate 25/1. Wieso in aller Welt gerade das Stück? Weil ich den Klang liebte, den es auf der Bratsche schuf. Oder Schuberts Arpeggione-Sonate. Ich hatte keine Ahnung, was der Arpeggione war oder dass das Stück meistens auf dem Cello gespielt wird. Ich dachte nur: ›Oh, dieses erste Thema klingt absolut wundervoll auf der Bratsche.‹ Ich habe mich dem Instrument genähert mit der Haltung ›wow, was für ein tolles Instrument, das ist genau das, wonach ich suche.‹

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Du wirst nächstes Jahr 40, macht das was mit Dir?

Ah, ich habe immer noch Ideale, Ziele, Träume.

Noch nie das Gefühl gehabt, zu viel zu früh erreicht zu haben?

Nein, ich habe das Glück gehabt immer Leute um mich herum zu haben, die mich ein bisschen gebremst haben – auch wenn ich das früher nicht immer verstanden habe. Mein erster Lehrer in Frankreich hat mich zum Beispiel eine Jahrgangsstufe wiederholen lassen, obwohl ich die Abschlussprüfung bestanden hatte. Ich habe es erst als Scheitern empfunden, aber er sagte: › Du bist noch zu jung für das Konservatorium, du brauchst noch Zeit.‹ Also ich mit 20 das Konservatorium abschloss, bekam ich zwei interessante Jobangebote, vom Orchester der Pariser Oper und dem Ensemble intercontemporain. Das war verlockend, es hätte ein guter Einstieg in die Berufswelt sein können. Aber mein Lehrer meinte: ›Besser du studierst noch weiter.‹ Also ging ich für zwei Jahre nach Amerika zu Jesse Levine, habe angefangen, Wettbewerbe zu spielen, zwei sogar gewonnen. Von dort hätte die Karriere starten können, aber mein Lehrer meinte: ›Besser du studierst noch weiter, wen bewunderst du?‹ ›Tabea.‹ Also bin ich für vier Jahre zu ihr nach Berlin gegangen. Natürlich gab es dann diesen Moment, an dem man sich selbst aufmacht. Aber dann wurden einige Dirigenten und Kammermusikpartner meine Lehrer, mein Trio, Frank Peter Zimmermann und Christian Poltéra, Isabelle Faust, Gardiner, Tabea …

Mit Tabea Zimmermann hast du gerade einige Konzerte in Japan gespielt. Fällst du dann automatisch in die Rolle des ›Schülers‹ zurück?

Das tue ich, und ich kehre trotzdem, oder gerade deshalb, immer wieder dahin zurück. Es ist etwas, was ich immer noch will. Ich bin nicht an dem Punkt, mich damit nicht mehr auseinandersetzen zu wollen. Und, ehrlich gesagt, fordert sie mich ziemlich heraus. Ich weiß, dass sie mich respektiert, das hat sie immer getan. Sie unterstützt mich, hat mir immer gezeigt, dass sie denkt, dass ich gut bin. Aber wenn wir gemeinsam proben, sagt sie mir immer noch Sachen, bei denen ich denke: ›Ah, ich bin noch so ein Student im Vergleich zu ihr.‹ Und manchmal nervt mich das, für einen Moment werde ich ein bisschen wütend, manchmal schlucke ich es runter, manchmal fange ich an, mit ihr zu streiten. Aber am Ende kommt immer etwas dabei raus, das mir weiterhilft. Es ist kompliziert mit Tabea, weil sie nicht nur meine Lehrerin war, sondern auch mein Idol. Und in vielerlei Hinsicht ist sie das immer noch. Ich glaube nicht, dass irgendjemand sehr viel weiter gehen kann als sie. Nicht nur was die Virtuosität angeht, sondern auch die Mühelosigkeit, bestimmte Dinge zu tun. Ich habe also immer zu ihr aufgeblickt, gleichzeitig brauche ich, um das zu tun, was ich tue, auch mein eigenes Ego, meine eigenen Vorstellungen. Seit einigen Jahren gibt es also immer wieder Situationen, in denen wir wirklich unterschiedlicher Meinung sind, und das ist gut so. Das ist genau der Spiegel, den ich brauche, und ich bin glücklich, ihn zu haben.  

Was mir aufgefallen ist, beim Blick auf deine Karriere: Du hast sehr wenig ›Bullshit‹ gemacht. Was waren die absurdesten Angebote, die du abgelehnt hast?

Ich habe schon sehr viele schräge Angebote bekommen, die Concertante [Mozarts Sinfonia concertante für Violine und Viola] mit den unterschiedlichsten Menschen an sehr merkwürdigen Orten für viel Geld mit sehr wenig Proben zu spielen. (lacht) Als Bratschist muss man immer ein bisschen aufpassen. Insbesondere bei Festivals geht es oft um die großen Namen, und als Bratschist kann man sich nicht aussuchen, mit wem man spielt, sondern wird irgendwo ›dazu gesetzt‹, weil du nicht die Hauptstimme bist, nicht der Geiger oder die Pianistin. An die Bratschistin oder den Bratschisten wird nicht als erstes gedacht. Damit habe ich oft ein Problem, weshalb ich da mittlerweile sehr entschieden bin. Einige Veranstalter haben mich schon abgelehnt, weil ich ›zu kompliziert‹ sei. (lacht) Nur weil ich mir ein paar Mal nicht sicher war, ob die Zusammenstellung einer bestimmten Kammermusikformation so wirklich funktionieren würde, ein Programm mit dramatisch-spätromantischem russischen Repertoire zu besetzen mit Experten für feingliedrigen Mozart, oder andersherum. Ich möchte Sachen machen, die etwas bedeuten. Für mich bedeutet es am meisten, wenn ich tief in ein Stück eintauche, mit Menschen, die das auch wollen, die ähnlich ticken. Dann können wir zusammen arbeiten und etwas besser machen. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com