VAN: In deinem Buch beschäftigst du dich mit Skandalen in der und um die Neue Musik. Wie bist du darauf gekommen?

Anna Schürmer: Ich hatte schon länger die Beobachtung gemacht, dass in der Neuen Musik – ob es große oder kleine Aufführungen sind – bis heute dieser Provokationsgedanke spürbar ist. Buhrufe, Türenschlagen, Handgemenge, Kontroversen und vernichtende Kritiken sind konstante Begleiter der musikalischen Avantgarden seit dem frühen 20. Jahrhundert. Und da ich sowohl studierte Historikerin als auch Musikwissenschaftlerin bin, hat mich dieses vielschichtige Phänomen des Eklats im Musikleben gereizt. Ein Konzertsaal ist ja eine Art öffentlicher Versammlungsort. Und wenn sich dort die Gemüter erhitzen, ist das wie eine kleine Laborsituation der Gesellschaft und ihrer aktuellen Debatten: Worüber regen sich die Menschen wann auf, und warum?

Ich verwende übrigens bewusst den Begriff ›Eklat‹, da er sehr viel schillernder ist als ›Skandal‹. Das französische Wort ›éclat‹ bedeutet ›Knall‹, ›Sprengung‹ oder ›Splitter‹ und ich finde, diese Begriffe treffen die Eigenart solcher Störfälle sehr genau: Ein Eklat ist ein Moment, der eine besondere Intensität und Ausstrahlungskraft besitzt, der uns packt und mitreißt, und in dem sich polarisierende Kräfte entladen. Und gerade Musik ist ja diese Kunstform, vor der man nicht flüchten kann, wenn man im Konzertsaal sitzt. Wenn einer ›Buh!‹ ruft und der nächste ruft ›Bravo!‹, dann gibt es häufig diesen Dominoeffekt: Alle steigen mit ein und die Situation eskaliert.

Anna Schürmer • Foto mit freundlicher Genehmigung von Anna Schürmer
Anna Schürmer • Foto mit freundlicher Genehmigung von Anna Schürmer

Eines der berühmtesten Beispiele für Musikskandale im 20. Jahrhundert ist Igor Strawinskys Ballett Sacre du Printemps. Heute gehört das Stück zum populären Repertoire der Konzerthäuser, aber zur Zeit seiner Entstehung – vor über hundert Jahren – löste es einen Eklat aus. Bei der Premiere 1913 war das bürgerliche Konzertpublikum von den martialisch-dissonanten Klängen mehr als irritiert. Anfängliche Buhrufe arteten in ein Handgemenge und schließlich in eine Saalschlacht aus. Dieser Musikskandal findet in deinem Buch zwar Erwähnung, aber den Hauptfokus richtest du auf eine andere Zeit: auf die Jahre der Nachkriegsavantgarde.

Genau, denn in den 1950er und 60er Jahren gab es besonders viele Skandale im Musikleben. Man muss sich vorstellen: Unmittelbar davor lag mit der NS-Zeit ein Kahlschlag von fünfzehn, eher zwanzig Jahren. Da hatte die Avantgarde keine Chance, sich weiterzuentwickeln. Und nach dem Krieg waren dann diese Versatzstücke aus der frühen Moderne da – mit Igor Strawinsky und Arnold Schönberg zum Beispiel. Was macht man da? Man wusste: Die Tradition ist vergiftet. Beethoven wurde zum Angriffskrieg gespielt, daran konnte man nicht mehr anknüpfen. Den jungen Komponisten blieb also nur ein radikaler Sprung in die Zukunft, das aktive Herbeiführen eines epochalen Bruchs. Und so entwickelte sich der Serialismus, zu dessen bekanntesten Vertreten Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono gehören.

Am deutlichsten zeigte sich die ästhetische Skandalträchtigkeit der damaligen Kunstmusik wohl im Aufkeimen der Elektronik. Hier wurden sämtliche Tabus gebrochen. Auf den Bühnen standen plötzlich Lautsprecher statt Instrumentalisten. Und das Publikum war mit bis dato ›unerhörten‹ Klängen konfrontiert. Stockhausens Tonbandstück Gesang der Jünglinge zum Beispiel sorgte bei seiner Uraufführung 1956 für vernichtende Pressestimmen.

Elektronische Eklatanz: Lautsprecher bevölkerten die Bühne bei der Uraufführung von Karlheinz Stockhausens Gesang der Jünglinge 1956 - das Publikum reagierte mit lautstarken Protesten • Foto © Historisches Archiv des WDR: Bildnummer 1426933
Elektronische Eklatanz: Lautsprecher bevölkerten die Bühne bei der Uraufführung von Karlheinz Stockhausens Gesang der Jünglinge 1956 – das Publikum reagierte mit lautstarken Protesten • Foto © Historisches Archiv des WDR: Bildnummer 1426933

Man gewinnt ein bisschen den Eindruck, die jungen Komponisten hätten damals mit ihren radikalen Innovationen einen Skandal nach dem anderen ausgelöst …

Ja, das stimmt auch. Gerade in den frühen 1950er Jahren empörte sich das Konzertpublikum regelmäßig über diese ›fremden‹ Klänge aus zersplitterten und scheinbar bezugsfreien Einzeltönen. Zwischenrufe und Tumulte in den Konzerten standen an der Tagesordnung. Man könnte sagen: Die Serialisten produzierten ›Skandale in Serie‹. Sie hatten eine gemeinsame Sprache gefunden, die sie über Eklats etablierten. Interessanterweise ist irgendwann dieser Innovationswille selbst in Dogmatismus umgeschlagen. Plötzlich wurde der Serialismus zum einzig geltenden Prinzip, und jeder, der in eine andere Richtung komponierte – zum Beispiel mit tonaler Harmonik –, war diskreditiert.

Musik ist ja nie per se skandalös. Sie wird es erst im Kontext ihrer Zeitgeschichte und der herrschenden gesellschaftlichen Normen. Eine simple und universelle Eklat-Formel wird es also kaum geben. Konntest du trotzdem etwas wie epochenübergreifende, kollektive Eigenschaften von Musikskandalen ausfindig machen?

Ja, auf jeden Fall. Eines der eklatantesten Merkmale ist, dass der Musikskandal in den meisten Fällen positiv konnotiert ist. Er verschafft dem Künstler Ruhm und Aufmerksamkeit, während Skandale in Wirtschaft oder Politik meist mit schwerwiegenden Sanktionen einhergehen. Außerdem fällt auf, dass viele Musikskandale einer ähnlichen Verlaufsform folgen: Oft finden sie im Rahmen gesellschaftlicher Umbruchprozesse statt. Ihnen gehen Verdichtungen von öffentlich geführten Diskursen oder Kontroversen voraus, die sich beispielsweise über Zeitungsartikel rekonstruieren lassen. Und natürlich haben Eklats immer auch ein Nachspiel, das ebenso in den Medien reflektiert wird – meistens über eine Konfrontation von Pro und Kontra.

Das heißt also: Einmütigkeit ist bei Musikskandalen prinzipiell ausgeschlossen?

Ja, es ist immer ein Gegeneinander verschiedener Meinungen oder Lager. Sonst wäre es kein Skandal. Denn würden alle einträchtig ›Buh!‹ rufen, könnte das Ganze schnell wieder verpuffen. Und Musikgeschichte lebt ja von diesen Clashs zwischen Tradition und Innovation. Und wenn es jemandem gelingt, genau in diese Schneise hineinzuschlagen und etwas zu erfinden, das die Zukunftsstürmer begeistert und die Traditionalisten empört, dann hat er wahrscheinlich wirklich den Zeitgeist getroffen.

Ein solches Beispiel, in dem sich ein Musikskandal tatsächlich als revolutionär erwiesen hat, nennst du auch in deinem Buch: Nam June Paiks Opera Sextronique von 1967, bei der die US-amerikanische Cellistin Charlotte Moorman halbnackt auftrat. Noch auf der Bühne wurde sie von der Polizei verhaftet und anschließend sogar verurteilt.

Das ist eines meiner Lieblingsbeispiele! Denn es spielte sich natürlich zu einer Zeit ab, in der ohnehin eine gesellschaftliche Emanzipationsbewegung stattfand: die sexuelle Befreiung. Charlotte Moorman aber wurde als die unsittliche Frau betrachtet, die mit nackten Tatsachen aufwartet und provoziert. Daraufhin wurde sie angeklagt, denn das Stück wurde schlichtweg nicht als Kunst anerkannt. Es gab dann ein Gerichtsverfahren und unmittelbar nachdem das Urteil gesprochen war, hat ein Gouverneur den Gesetzesparagraphen geändert. Seitdem ist Nacktheit im Rahmen von Kunstaktionen in den USA erlaubt. Hier hat sich also ein Skandal tatsächlich nachhaltig auf die Gesetzeslage ausgewirkt.

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Diesen Skandal hat Nam June Paik ja ganz bewusst provoziert. Sein Motiv war, der reaktionären Prüderie in der Neuen Musik eine Kampfansage zu machen. Muss man also unterscheiden zwischen Musikskandalen, die Empörung und Gegenwind direkt mit einplanen und jenen, die nicht intendiert sind?

Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass bei mindestens neunzig Prozent aller Musikskandale eine klare Absicht dahinter steht. Oft haben solche Ereignisse ja einen Inszenierungscharakter, der durchaus ästhetisch sein kann. Man muss nur mal an die Futuristen in den 1910er Jahren denken: Sie haben ihre Soirees explizit wie Skandale aufgebaut und genau das war Teil des Kunsterlebnisses. Genauso sagte auch der Choreograf Vaslav Nijinsky nach der Premiere von Strawinskys Sacre, er habe genau die Reaktion bekommen, die er wollte. Denn natürlich schwingt immer der Wunsch nach medialer Aufmerksamkeit mit. Dadurch hat sich ein spezielles Narrativ entwickelt: Wenn etwas schockiert, ist es ein Ausweis für die Kunst von morgen.

Nacktheit – wie bei Charlotte Moorman in den 60ern – ist inzwischen in jeder zweiten Datingshow im Fernsehen Gang und Gäbe. Damit würde man also kein Konzert mehr zum Schlachtfeld machen. Ohnehin scheint in der Neuen Musik mittlerweile so gut wie alles erlaubt zu sein. Da müsste man schon das gesamte Budget eines Jahrgangs der Donaueschinger Musiktage dafür ausgeben, Hansi Hinterseer in der Baarsporthalle auftreten zu lassen – das würde möglicherweise einen massenmedientauglichen Skandal hervorrufen.

Das würde wahrscheinlich funktionieren, ja. Aber in der Tat sind in der Neuen Musik die Skandale deutlich seltener geworden. Das liegt sicherlich auch daran, dass sie gesamtgesellschaftlich längst nicht mehr so wahrgenommen wird, wie noch in der Nachkriegszeit. Sie ist zur Nische innerhalb des Klassikbetriebs geworden und ihre Anhänger wissen oft schon ungefähr, was sie erwartet. Allerdings gibt es auch hier immer wieder überraschende Momente: Als zum Beispiel Karlheinz Stockhausen 2001 die Anschläge auf das World Trade Center als ›das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat‹ bezeichnete, versetzte das die Massen in Aufregung. Oder auch 2016 gab es diesen Vorfall in der Kölner Philharmonie: Der iranische Cembalist Mahan Esfahani trat mit Steve Reichs Piano Phase von 1967 auf. Es war allerdings weniger die repetitive Ästhetik der Minimal Music, die das Publikum in Rage versetzte; vielmehr bot das Konzert aktuellen Streitfragen im Zuge der Flüchtlingskrise eine Bühne – einer Zeit, in der die allgemeine Stimmung im Land umschlug von einer Willkommenskultur in eine Kultur der Angst vor dem Anderen. In dem Konzert entluden sich die Ressentiments während der englischen Werkeinführung des iranischen Solisten, als ›besorgte Bürger‹ im Auditorium forderten: ›Sprechen Sie gefälligst Deutsch!‹ – unmittelbar gefolgt von zustimmenden Reaktionen und empörten Buhrufen. Dieser Begebenheit widmete sich die regionale, überregionale und sogar die internationale Presse ausgiebig (und auch VAN). Da stellt sich nun die Frage: Schafft es die Neue Musik nur in die Massenmedien, wenn der Skandal über das ästhetische hinausgeht und massenpopulärere Felder anspricht? Vielleicht.

Inwieweit ein Eklat neue Debatten entzündet und in der Gesellschaft widerhallt, lässt sich natürlich durch die heutige Medienvielfalt leicht beobachten. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Dokumentationsmöglichkeiten noch deutlich bescheidener. Wie hast du Skandalgeschichten ausgewertet, die schön länger zurückliegen?

Das ist in der Tat ein interessanter Punkt, der mir – und hier spreche ich als Historikerin – besonders wichtig bei der Arbeit an dem Buch war: Schaut man sich heutzutage historische Quellen an, bestehen die zu neunzig Prozent aus Schriftdokumenten. Wenn man aber überlegt, dass es Anfang des 20. Jahrhunderts schon Aufnahmegeräte gab und im Laufe der Zeit immer mehr mitgeschnitten wurde, dann scheint es mir völlig absurd, dass diese akustischen Quellen bei geschichtlicher Forschung nur so marginal zum Einsatz kommen. Denn auf der akustischen Ebene können ja viel mehr Komponenten (auch viel objektiver) festgehalten werden, als wenn ein einzelner Kritiker eine geschmäcklerische Rezension verfasst. Atmosphären und unmittelbare emotionale Reaktionen vermitteln sich über Tonbänder oft sehr deutlich und es lässt sich mitvollziehen, an welchen Stellen eines Konzerts die Leute unruhig werden und die Aufführung stören. Diese Momente können sehr aufschlussreich sein. Insofern war es mir wichtig, so viele Audioquellen wie möglich auszuwerten.

Dein Ansatz, mit dem du dich dem Thema näherst, ist aber dezidiert kein genuin musikwissenschaftlicher, sondern ein medienkulturwissenschaftlicher. Wieso?

Ich persönlich sehe im transdisziplinären Arbeiten einfach eine sehr gewinnbringende Strategie, gerade bei Themen wie diesem. Für einen Historiker wäre es schwierig, einen so musikbasierten Gegenstand wie den klingenden Eklat in Gänze zu verstehen. Für einen Musikwissenschaftler wiederum wäre das Thema problematisch, da er mit musiktheoretischen Analysen allein nicht weiter käme. Meine Zielrichtung war es aber ohnehin, die sozioästhetischen Zusammenhänge zu untersuchen, in denen die Musik jeweils angesiedelt ist. Und dann bin ich irgendwann in die Ecke der Medienkulturwissenschaften gerutscht. Hier bedient man sich grundsätzlich Theorien aus ganz verschiedenen Fachrichtungen, was mir sehr zugesagt hat. Aber natürlich macht das die Arbeit auch schwer, da in jeder Disziplin Abstriche gemacht werden müssen.

Was beim Lesen des Buchs aber durchweg auffällt: Es ist lebendig und ohne gestelzten Fachjargon geschrieben. Die Geschichten sind sehr plastisch erzählt. Es macht Spaß zu lesen und wirkt in meinen Augen fast wie ein journalistisches Projekt.

Das ist es auch. Ich wollte schon lange ein Buch über dieses Thema, das mir sehr am Herzen lag, schreiben. Mir war es wichtig, etwas zu kreieren, dass jeder lesen kann, der sich für die Musik oder die Epoche interessiert; ob Experte oder nicht. Und da kam mir sicherlich zu Gute, dass ich nebenbei viel als Journalistin arbeite. Allerdings habe ich auch die Erfahrung gemacht, dass es einem in den harten Wissenschaften zum Vorwurf gemacht wird, wenn man zu schön schreibt … ¶