Die 18. Ausgabe des von der Pianistin Angela Hewitt gegründeten Trasimeno Music Festival im italienischen Dorf Magione nahe des Trasimenischen Sees wird die letzte sein. Nach der Pandemiezeit sei es einfach zu schwer geworden, genügend Tickets zu verkaufen, so die Begründung der Künstlerin, die das einwöchige Festival, bei dem sie als Rezitalistin, Kammermusikerin, Liedbegleiterin und Dirigentin mit von ihr eingeladenen etablierten und jungen, noch unbekannten Künstlerinnen auftritt, nach wie vor maßgeblich organisiert und gestaltet.
Angela Hewitt braucht ihr Publikum. In gewisser Weise hat sie Glenn Gould beerbt – als die herausragende Klavierpersönlichkeit Kanadas. Sie sieht sich aber viel mehr als einen Gegenentwurf zu dem Pianisten, denn als seine Nachfolgerin: »Es wäre traurig, all diese Konzerte zu geben und die Interaktion mit den Menschen nicht zu genießen«, meint sie. Hewitt ist bekannt für ihr tiefes Eintauchen in die Werke von Bach, Beethoven, Mozart, Scarlatti und Schumann – und das bei einem auch darüber hinaus breit gefächerten Repertoire. Sie ist ein Arbeitstier und spielt Dutzende von Konzerten im Jahr, während sie gleichzeitig die administrativen Fäden hinter ihren Konzerten, Festivals und Aufnahmen in der Hand behält. »Der ganze verdammte Computerkram kann einen ganz schön mitnehmen. Auch in den Stunden, die ich am Klavier verbringe, muss ich mich konzentrieren, aber sie sind viel entspannender als die am verfluchten Computer.«
Angela Hewitt wurde 1958 in Ottawa in eine musikalische Familie hineingeboren. Ihr Vater war Domorganist und Chorleiter, ihre Mutter, eine Klavierlehrerin, gab Hewitt im Alter von drei Jahren ihren ersten Unterricht. Für ihre Einspielung sämtlicher Klavierwerke Bachs – 370 Stücke, die sie in 20 Jahren, von 1994 bis 2014, aufgenommen hat – wurde sie gefeiert, 2016 führte sie dann gleichermaßen erfolgreich das besagte Gesamtwerk in 12 Konzerten rund um den Globus auf. Weiter ging es für Hewitt mit Beethovens 32 Klaviersonaten, in jüngerer Zeit hat sie sich Mozarts Klaviersonaten zugewandt. Die erste CD dieser Reihe erschien im November 2022. Mozarts weise Fröhlichkeit wird hier ebenso spürbar wie eine Leichtigkeit, die gut zu dem jugendlichen Alter passt, in dem Mozart diese Kompositionen verfasst hat.
Ich erreiche Hewitt in ihrem Haus in London, kurz zuvor ist sie in der Wigmore Hall (die sie als ihre ›home stage‹ bezeichnet) und in Bad Elster aufgetreten. Am nächsten Tag soll sie ein Konzert in Rhosygilwen in Wales geben. ›Ich bin total in Panik‹, sagte sie, ›weil ich so viel zu tun habe. Ich bin zwei Tage hier, dann fahre ich weg, dann bin ich drei Tage hier, dann fahre ich sechs Wochen weg, dann komme ich zwei Tage zurück.‹ Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht öffentlich kommuniziert, dass das Trasimeno Festival nicht über 2023 hinaus weitergeführt wird.

VAN: Sie haben im April einen Artikel geschrieben über das Gedächtnis, über die Schwierigkeit, Musik im Kopf zu behalten, und darüber, wie sich das Gedächtnis mit der Zeit entwickelt. Da klingt es, als sei das Ohr das Organ, das fürs Erinnern zuständig ist.
Angela Hewitt: Auf jeden Fall. Man sieht das bei Alzheimer-Patientinnen und -Patienten. Ich erinnere mich an einen Besuch bei meinem Vater im Pflegeheim, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbracht hat. Ich ging am Ostersonntag hin und spielte einige Choräle – nicht so wie mein Vater, er konnte das wunderbar –, aber ich fing an zu spielen, und da war ein Mann, der seit mehreren Jahren nicht mehr gesprochen hatte, und er fing an zu singen – er konnte den kompletten Text auswendig. Seine Familie war zu Tränen gerührt. Die musikalischen Erinnerungen aus unserer Jugend sind wahrscheinlich die, die uns am längsten erhalten bleiben.
Was ist Ihre früheste Kindheitserinnerung?
Ich erinnere mich, dass ich als Kind oft Krupphusten hatte. Als ich noch sehr klein war, legten mich meine Eltern nachts in die Küche auf ein Feldbett, mit dem Herd voller kochender Wassertöpfe, als Dampfbad. Das ist ein altes Hausmittel. Ich erinnere mich auch daran, dass mir, als ich vier war, die Mandeln rausgenommen wurden. Ich erinnere mich an die Medizin, die ich im Ottawa Civic Hospital bekommen habe. Und ich erinnere mich an meinen ersten Klaviernotenband, von Boris Berlin, der am Royal Conservatory in Toronto unterrichtete. Das ist aber ein bisschen geschummelt, weil ich eine Aufnahme habe, wie ich als Vierjährige diese Stücke spiele, und ich habe mir diese Kassette oft angehört, das wirkt jetzt wie echte Erinnerungen.
Hören Sie sich oft eigene Aufnahmen an?
Ich habe eigentlich keine Zeit dafür. Aber diese frühe Aufnahme hat schon einen besonderen Wert. Während des Lockdowns habe ich viele alte Aufnahmen von mir gehört – und François Couperin, weil ich neue Musik da nicht hören konnte und irgendwas Triviales auch nicht. Couperin hat da gut gepasst, also hörte ich meine drei Couperin-Platten rauf und runter. An viele Stücke darauf konnte ich mich überhaupt nicht mehr erinnern.
Bei Ihrem letzten Konzert in Bad Elster spielten Sie je zwei Sonaten von Mozart (Sonate D-Dur, KV 576 & Sonate c-Moll, KV 457) und Beethoven (Sonate D-Dur, op. 10 Nr. 3 & Sonate c-Moll, op. 111). Welche Erinnerungen haben diese Stücke hervorgerufen?
Sowohl die D-Dur-Sonate von Mozart als auch die von Beethoven habe ich mit 17 gelernt. Das sind Stücke, die wirklich hängen bleiben. Ich erinnere mich an vieles, was mein Lehrer damals in die Partitur geschrieben hat, und das hat für mich bis heute Gültigkeit.
Die c-Moll-Sonate von Mozart habe ich in Paris gelernt, mit Anfang 20. Den letzten Beethoven [Sonate in c-Moll, op. 111] habe ich erst vor vier Jahren einstudiert, mit 60 Jahren – ein ganz anderer Lernprozess. In gewisser Weise bin ich froh, dass ich es bis dahin gelassen habe, denn es ist ein so erhabenes und reifes Werk, und da ist es wichtig, dass man sich beim Üben keine schlechten Angewohnheiten antrainiert. Nicht, dass ich so viele schlechte Angewohnheiten hätte, aber trotzdem bin ich sehr froh, dass ich es in dieser Phase meines Lebens gelernt habe.
Was ist heute anders am Lernprozess?
Wenn man es erst einmal geschafft hat, etwas neu zu lernen, ist es großartig, weil ich weiß, was zu tun ist; ich habe so viel Erfahrung – ich habe zum Beispiel gerade eins der Bach-Konzerte für drei Cembali gelernt, das d-Moll BWV 1063. Ich dachte, ich hätte keinen Bach mehr zu lernen, aber das hatte ich noch nie gemacht. Es ist ein schwieriges Stück; ich musste viel daran arbeiten. Er muss die erste Klavierstimme für sich selbst geschrieben haben und die anderen beiden für seine Kinder!
Ich weiß, wie ich mit Bach umgehen muss. Ich sehe die Knackpunkte in der Partitur, obwohl da nichts dazu geschrieben steht. Ich sehe die Phrasierung, die Artikulation, die Tempi: All die Dinge, mit denen ich mich mein ganzes Leben lang beschäftigt habe, kann ich für dieses Stück nutzen, darum kommt am Ende, so denke ich, was Gutes dabei raus.
Hat sich Ihre Beziehung zu Bach mit der Zeit verändert?
Ich sage da lieber ›entwickelt‹ als ›verändert‹ – entwickelt und vertieft. Ich hatte das Glück, musikalische Eltern und exzellente Lehrerinnen und Lehrer zu haben, die zuallererst immer betont haben, wie wichtig es ist, Bach zu lernen, und die ihn mir auch mit der richtigen Artikulation, dem richtigen Fingersatz und dem richtigen Stil nahe gebracht haben. Das war ein großes Glück. Die Kirchenmusik ist die Tradition, aus der ich komme. Das ist definitiv der Weg. Man lernt nicht erst Rachmaninow und Liszt und geht dann zu Bach zurück.
Ihr Vater war Domorganist. Wie hat dieser religiöse Hintergrund Ihren musikalischen Ausdruck geprägt?
Wenn man Bach spielt und nicht in der Kirchenmusik aufgewachsen ist und in einem Chor gesungen hat, fehlt die Reinheit des Ausdrucks. Die gibt der Musik einen Sinn, den man sonst vielleicht nicht sehen würde. Man spielt Bach nicht auf triviale Weise. Er ist nicht auf diese ›naaaaah–naaaah‹-Art expressiv. Es ist reiner Klang, reiner Ausdruck.
Es gibt keine Note Bachs, weder in geistlichen noch in weltlichen Werken, die nicht der Ehre Gottes dient. Die Menschen sind heute nicht mehr auf diese Weise religiös. Ich glaube immer noch, dass man Bach auch richtig spielen kann, ohne gläubig zu sein, aber man muss ein Gefühl dafür haben, dass das bei Bach so war.
Die Freude, die in seinen Tanzsätzen, den Menuetten, Bourrées und Gavottes, so präsent ist, ist Ausdruck der Freude auf das ewige Leben. Diese Absicht muss spürbar sein: die Tatsache, dass er sich auf das ewige Leben gefreut hat.
Wie wichtig ist der Kontext, in dem ein Musikstück geschrieben wurde, für Ihre Interpretation?
Total wichtig. Man muss wissen, warum das Werk geschrieben wurde und was die Komponistin oder der Komponist zu dieser Zeit durchgemacht hat. Man kann Beethovens letzte Klaviersonate [Nr. 32 in c-Moll, op. 111] nicht spielen, ohne im Kopf zu haben, dass er da taub war und selbst nie einen Ton des Stückes gehört hat. Der erste Satz ist seine Wut auf die Welt. Der zweite Satz ist ein Lied der Dankbarkeit, der Dankbarkeit für das Leben – das macht die Sonate so bewegend. Ich denke, man muss das alles verstehen, um sie gut spielen zu können.
Ich bin immer ziemlich gründlich in meiner Vorbereitung. Außerdem ist es bei Komponisten wie Mozart und Beethoven sehr hilfreich, wenn man sich mit Bach auskennt. Du gehst dann in die richtige Richtung. Viele Leute gehen den umgekehrten Weg, der meiner Meinung nach der falsche ist. Für den Kontrapunkt und die Betonung der Harmonien, der Farben, des Timings, des Ausdrucks, der Pausen …
Sollte man sich Musik in chronologischer Reihenfolge aneignen?
Es ist nicht so, dass man alles chronologisch lernen muss, aber es ist sehr wichtig, durch Bach und klassische Musik eine Grundlage zu bekommen, bevor man zur Romantik kommt. Man muss lernen, sein Instrument sauber und ordentlich zu spielen. Wenn Kinder im Alter von zehn oder elf Jahren versuchen, Chopin zu spielen, und ihre Hände verdrehen, weil sie nicht so groß sind, schleifen sich nur schlechte Angewohnheiten ein.
Das von Ihnen gegründete Trasimeno Music Festival geht dieses Jahr in die 18. Runde.
Ja, und ich gerate langsam ein bisschen in Panik. Nicht nur wegen des Klavierspiels, sondern auch wegen der ganzen Verwaltung, des Bookings, allen Vorkehrungen, die getroffen werden müssen. Mit der Verwaltung ist nur ein sehr kleines Team betraut, und ich bin Teil davon.

Beim Festival haben Sie eine starke Verbindung zu Film, Theater, Poesie und Literatur geschaffen. Dieses Jahr ist Margaret Atwood unter den Gästen, und es gibt einen Abend mit Poesie und Musik zum Thema Liebe. Was hat Sie zu solchen Kombinationen mit anderen Kunstformen bewogen?
Ich interessiere mich eben auch dafür. Was mir am Festival gefällt, ist, dass ich Programme machen kann, die ich sonst nirgendwo machen kann. Letztes Jahr habe ich Margaret Atwood in Kanada getroffen, und sie sagte, es wäre schön, zu kommen. Das sind Menschen, die ich bewundere und die ich mit anderen teilen möchte. In dieser Hinsicht ist das Festival sehr persönlich. Es ist eher wie eine private Party, die ich jedes Jahr für meine Freundinnen, Freunde und Fans gebe, die ich auf meinen Touren durch die Welt kennengelernt habe.
Ich bin sehr stolz auf das Publikum dort, denn sie kommen – natürlich kommen sie auch meinetwegen, das ist klar – aber sie kommen auch, um wirklich der Musik zu lauschen.
Sie sind gerade dabei, Ihren Mozart-Zyklus mit allen Klaviersonaten aufzunehmen. Wie kam es zu diesem Projekt?
Dieses Repertoire liegt mir einfach, ich habe es mein ganzes Leben lang gespielt. Darum war es jetzt mal Zeit. Viele äußern sich eher verächtlich gegenüber Mozarts Sonaten, sagen, sie seien nicht so interessant wie seine Konzerte. Seine Konzerte sind überwältigend, aber auch die Sonaten sind wunderbare Stücke, sogar die frühen. Es gibt vieles, was faszinierend an ihnen ist, aber man braucht Zeit, um sich in sie hineinzudenken, Zeit, um sie zu formen. Viele Leute wollen das nicht.
Gibt es musikalische Fragen, die für Sie unbeantwortet bleiben?
Ja – was finden Leute so toll an Rachmaninow? [Lacht] So viele Töne, und er endet andauernd mit ›dum-ba-da-dum‹.
Ich weiß nicht … Jedes Stück hat seine Fragen, so kommt nie Langeweile auf. An diesem Punkt in meinem Leben möchte ich einfach so viel Musik wie möglich mit so vielen Menschen wie möglich teilen, bevor es zu spät ist. Wenn mein Leben morgen zu Ende ginge oder wenn ich ab morgen nicht mehr spielen könnte, könnte ich mit dem, was ich getan habe, zufrieden sein. Mit Bachs Gesamtwerk, mit Beethovens Gesamtwerk – vielleicht sogar vor allem mit dem Beethoven, weil das niemand von mir erwartet hat und ich dabei viel gelernt habe. Ich habe so viel gemacht und bin in der ganzen Welt herumgekommen. Okay, man lädt mich immer noch nicht nach Salzburg oder zum Boston Symphony Orchestra ein, aber so ist die Musikwelt nunmal. Ich bin sehr zufrieden, und was jetzt noch kommt, ist ein Bonus. Wenn mir Leute sagen, wie sehr sie eine Aufführung bewegt hat, dann ist es das alles wert. Es ist eine Freude, etwas im Leben der Menschen zu bewirken. Das brauchen wir alle – etwas, das uns durchs Leben bringt. ¶