Ans Hintergrundrauschen von Mahan Esfahanis unzähligen Verlautbarungen hatte man sich inzwischen gewöhnt. Streng monothematisch ging es ihm immer um dasselbe: Feindliche Mächte haben sich gegen ihn, das unschuldige Opfer, verschworen. Nun wird das Rauschen lauter; er wird persönlich beleidigend. »Eine verrückte Frisur zu haben oder ein bisschen Jazz spielen zu können macht einen nicht zu einem Ikonoklasten, wenn das eigene Cembalospiel absolut orthodox ist.« Er nennt zwar keinen Namen, aber es ist unzweifelhaft, wen er hier meint: Jean Rondeau. Ich kenne Rondeau nicht persönlich; dennoch möchte ich mich hierzu äußern.
Das erste Mal hörte ich von Mahan Esfahani im Jahr 2006, als er sich – so berichteten es mir einige Mitglieder der Jury – im Leipziger Bachwettbewerb partout nicht damit abfinden wollte, es nicht ins Finale geschafft zu haben und die Jury, Gott und die Welt dafür verantwortlich machte – nur sich und sein Spiel nicht. In den folgenden Jahren legte er eine glühende Verehrung für Gustav Leonhardt an den Tag. Sie ging so weit, dass er sich als Leonhardts Jünger ausgab, obwohl er nie eine Unterrichtsstunde bei ihm genommen hatte, ihm überhaupt nur ein paarmal kurz begegnet war. Einen Nachruf auf Leonhardt hatte er für alle Fälle schon in der Schublade; 24 Stunden nach dessen Tod 2012 war der »First Tribute by a Disciple« im Internet.
Nicht lange danach änderte er seine Haltung: Bereits 2014 charakterisierte er Leonhardts Spiel als . Dies war der Auftakt zu immer schärferen Attacken gegen Leonhardt und seine Schule. Sollte es musikalische Gründe für diesen Paradigmenwechsel geben, wäre ich neugierig, sie zu erfahren. Bis dahin dürfen wir davon ausgehen, dass hier einfach eine Marketing-Strategie ausgetauscht wurde.
Seit nunmehr drei Jahren soll die Welt in ihm den Retter erblicken vor dem verderblichen Einfluss von Leonhardts Schule, die er mit untrüglichem Analytikerblick als eine Verschwörung der Großbourgeoisie entlarvt, etwa unlängst in der Welt:
Wenn man sich an die Glanztage des Cembalos als Soloinstrument erinnert, waren die meisten der großen Cembalisten Juden, viele von ihnen – wie Wanda Landowska und Zuzana Růžičková – waren zudem Frauen. Oder es waren Kleinstadtkinder mit einfachem Hintergrund, die es geschafft haben, in der klassischen Musik erfolgreich zu werden – etwa Ralph Kirkpatrick oder George Malcolm. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das. Es entstand eine neue Bewegung, die untrennbar verbunden war mit Geld und Klasse.
Zusammengefasst: Reiche nicht-jüdische Männer verdrängten jüdische Frauen und arme Schlucker. Diese Verallgemeinerung ist natürlich völlig unsinnig. Weder Ton Koopman noch Bob van Asperen – um nur die beiden prominentesten Vertreter von Leonhardts erster Schülergeneration zu nennen – kommen aus begütertem Hause. Koopman stammt aus Zwolle, einer Kleinstadt. George Malcolm dagegen wurde in London geboren. Ersetzt man »Geld und Klasse« durch »Gustav Leonhardt«, fängt es an, (sehr wenig) Sinn zu ergeben. In diesem Falle will Esfahani uns also mitteilen, dass Landowska eine jüdische Frau, Leonhardt dagegen ein nicht-jüdischer wohlhabender Mann war. Wer hätte das gedacht. Warum wird Leonhardt nicht genannt, obwohl es doch um ihn geht? Weil ein einzelner Name nicht ausreicht, um eine Verschwörung zu suggerieren.

Zu Beginn des vorliegenden VAN-Interviews erfahren wir, dass Esfahani nach Brügge reist, wo ihm Erkenntnisse von unabsehbarer Tragweite zuteil werden. Als erstes findet er heraus, was niemand je für möglich gehalten hätte: dass es engstirnige Musiker gibt. Er fühlt sich ausgegrenzt und weiß sofort: Schuld kann nur der Nationalismus sein.
Besonders bösartig verhält sich »das niederländische und das französische Lager«. Was genau soll das sein? Handelt es sich um ein Lager oder zwei? Der Kontext legt nahe, dass damit wiederum die Leonhardt-Schule gemeint ist. Nun kommt aber Frankreich hinzu und dadurch wird alles noch unklarer. Frankreich hat seine eigene Historie der Wiederbelebung des Cembalos, durchaus verschieden von der holländischen. Das einzig Konkrete, was wir über dieses »Lager« erfahren: Es ist gegen Esfahani und es ist hermetisch und orthodox, wofür Rondeau als abschreckendes Beispiel dient.
Doch lesen wir weiter, spielen wir das Spiel einmal mit und tun so, als ob es hier um Fakten ginge. Schauen wir uns dazu Rondeaus pädagogische Ahnenreihe an. Sie führt von Blandine Verlet über Huguette Dreyfus und Ralph Kirkpatrick zu – Wanda Landowska, Leonhardts Antipodin! Das hätte Esfahani zum Nachdenken bringen können – zum Beispiel darüber, dass seine Rede von sich gegenüberstehenden Lagern eine krude Vereinfachung ist. Die Traditionsstränge sind vielfältig miteinander verwoben. Die beiden Gallionsfiguren Landowska und Leonhardt haben vielleicht mehr gemeinsam, als man bei oberflächlicher Betrachtung vermuten würde. Leonhardts vehemente Ablehnung Landowskas machte schon immer hellhörig. Oft fühlt man sich gedrängt, sich von denjenigen am stärksten abzusetzen, denen man das meiste verdankt. Wieviel Landowska steckt also in Leonhardt? Dies ist zweifellos eine interessante Frage. Geht Esfahani ihr nach? Nein. Gibt er im Weiteren irgendeine genauere Auskunft darüber, was er unter den unterschiedlichen nationalen Traditionen im Bereich der Alten Musik versteht, wie er sie charakterisiert, voneinander abgrenzt? Nein. Warum redet er so verschwommen? Er muss es! Sonst würde man seinem Humbug schneller auf die Schliche kommen.
Esfahanis Suada funktioniert folgendermaßen: Man nehme ein Blatt Papier und lege zwei Listen an: Links einige politische Reizwörter, rechts die (vermeintlichen) Attribute seines augenblicklichen Lieblingsfeindes; also links zum Beispiel Fremdenhass, Nationalismus, Weltverschwörung (je gravierender desto besser) und rechts: zuviel Artikulation, dickes Bankkonto, barfuß herumlaufen (je disparater desto besser). Dann ziehe man willkürlich Verbindungslinien zwischen den Wörtern auf der linken und rechten Seite, hole tief Luft (»Wie viel Zeit hast Du?«) – und rede! Ganz wichtig, siehe oben: keine Namen nennen, die Terminologie so vage als möglich halten! Wem nach der Lektüre des Interviews der Schädel brummt, wer sich fragt, ob er denn auch alles richtig verstanden hat, der kann aufatmen: Es gibt über weite Strecken nichts zu verstehen. Die Schlagwörter sind nur rein grammatikalisch, nicht logisch miteinander verknüpft.

Ich habe Mahan Esfahani ein einziges Mal im Konzert gehört, beim York Early Music Festival 2015: Seine Generalbass-Realisierung war der Komplexität der englischen und französischen Musik des 17. und 18. Jahrhunderts nicht gewachsen. Hiermit meine ich nicht Verspieler, die jedem passieren können, sondern: falsche oder ungeschickte Stimmführungen, falsche Akkorde, Vergröberung der polyphonen Textur. Ich betone: Dies ist kein Geschmacksurteil, sondern ein Konstatieren objektiv vorliegender Fehlerhaftigkeit. (Ob mir persönlich etwas gefällt, ist in diesem Zusammenhang irrelevant.)
Ist es nicht gewagt, einem Kollegen unfruchtbare Orthodoxie vorzuwerfen, wenn das eigene Musikverständnis auf einem Niveau ist, auf das die Begriffe »orthodox« oder »unorthodox« noch gar keine Anwendung finden können? Rondeaus Talent zur Improvisation wird abgetan. Nun gut, Jazzimprovisationen auf dem Cembalo mögen nicht nach Esfahanis Geschmack sein, er zieht ja Hip-Hop und Bluegrass vor. Das ist auch besser so: Denn würde er versuchen zu improvisieren – er könnte es nicht, da sein harmonisches Verständnis dazu nicht ausreicht. Um die Differenz zwischen Rondeau und Esfahani zu beschreiben, braucht man nicht von Nationalismen zu schwadronieren. Es geht viel einfacher und kürzer: Rondeau ist ein kompetenterer Musiker als Esfahani. Rondeaus Continuo-Spiel lehrt einen nicht das Fürchten.
Esfahani kritisiert »die Besessenheit von der Artikulation«. Soll man anfangen, von der Wichtigkeit der Artikulation in den Traktaten des 18. Jahrhunderts zu sprechen? Nein, es lohnt sich nicht, Esfahani hat ja selbst den gegenteiligen Standpunkt in seinem Nachruf auf Leonhardt bereits vertreten. Dort berichtet er von ganzen Nächten, die er mit dem Studium von Leonhardts Artikulation zugebracht habe. Alles wird beliebig, alles austauschbar. Der rhetorische Höhepunkt ist sein Bekenntnis zur Aufklärung: »Die Aufklärung hat Sklaven befreit, die Aufklärung hat Frauen gleiche Rechte gegeben!« Großartig. Wenn nur der Kontext nicht wäre, der von nichts handelt als Verschwörungstheorien und Geschichtsklitterung.
Für ein bisschen Publicity würde er seine Großmutter verkaufen. Es wäre so schön, wenn er einfach mal Ruhe gäbe. Aber genau das kann er sich nicht leisten. Seine Bekanntheit und seine Karriere beruhen mehr auf seinem Gerede als auf seinem Musizieren. Die Presse spielt mit; in keinem der hier zitierten Interviews wird auch nur ein einziges Mal kritisch nachgefragt. Zudem haben die Medien heute ein so kurzes Gedächtnis, dass Widersprüche und Ungereimtheiten nicht mehr auffallen, wenn sie nur wenige Wochen auseinanderliegen.
Mit Mahan Esfahani findet das Postfaktische Eingang in den Diskurs der klassischen Musik. ¶

Andreas Staier, geboren 1955 in Göttingen, war zunächst drei Jahre Cembalist der Musica Antiqua Köln, seit 1986 ist er als Hammerklavier- und Cembalo-Solist unterwegs mit allen guten Alte-Musik-Ensembles, kammermusikalischen Freunden wie Jean-Guihen Queyras und Christoph Prégardien und mit liebevoll kuratierten Programmen voller Entdeckergeist und Tiefenschärfe. Für seine Konzerte und Einspielungen bei harmonia mundi wurde er mit Preisen (vom Diapason d’or bis zum Gramophone Award), Titeln (»Großmeister des Hammerklavier«, siehe auch: »Hidden Champion«) und Einladungen auf die großen internationalen Bühnen und Festivals eingedeckt. Er kriegt Musik auf diesen alten, stolzen, zartbesaiteten Instrumenten farbenreicher hin als die meisten. Und er ist einer, der sich nicht scheut zu versuchen, das, was ihn an Musik fasziniert, in Worte zu packen. Im Januar 2016 interviewte Hartmut Welscher Andreas Staier für VAN.
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