Als Laura* ihren Job im Künstlermanagement bei einer großen Londoner Agentur antrat, musste sie nicht nur rund um die Uhr zur Verfügung stehen, sondern zusätzlich noch eine private Belastung aushalten: Ein Freund eines Freundes stalkte sie online. Als sie schließlich zur Polizei ging, riet man ihr, alle Fotos von ihren Social-Media-Seiten zu löschen und sich online eine Weile »bedeckt« zu halten. Etwa zur gleichen Zeit überarbeitete Lauras Agentur ihr Firmen-Branding und wollte ein Foto von ihr auf die neue Teamseite stellen. Laura erzählte ihren Kolleginnen und Kollegen, dass ihr die Polizei von Bildern im Netz abgeraten habe. Ihr Foto ging trotzdem online. »Oh, was soll schon passieren?«, war die einzige Reaktion, erzählt sie mir. Eines nachts im Februar 2016 wartete Lauras Stalker auf sie, als sie gerade das Büro verließ. Er hatte ihr Foto auf der Agenturseite gefunden. Bei einem Geschäftsessen erzählte Lauras Chef einem ihrer Künstler von diesem Zwischenfall. Einen Monat später griff Lauras persönlicher Alptraum vollends auf ihr Berufsleben über, als sie den besagten Künstler bei einer Premiere in Covent Garden traf.
Mit Hinweis auf die drohende Gefahr durch den Stalker, bestand der Künstler darauf, dass Laura in seinem Apartment gegenüber der Oper auf ihr Taxi wartete, statt auf der Straße. Obwohl sie am Ende eines langen Abends unbedingt nach Hause wollte, willigte Laura ein, noch auf ein Getränk mit in seine Wohnung zu kommen und dort auf das Taxi zu warten. Der Abend sollte ein paar Stunden später mit ihrer Flucht über die Treppen des Gebäudes enden.
»Ich hatte gerade angefangen, Uber zu checken, als er fragte: ›Also, würden wir… würdest du mich küssen?‹«, erzählt sie. »Ich dachte: ›Oh scheiße, ich habe diese ganze Situation falsch eingeschätzt.‹ Ich dachte bis dahin wirklich, er wollte nur nett sein und sich um mich kümmern.« Sie macht eine Pause. »Ich bin eigentlich kein naiver Mensch, aber damals war ich einfach ziemlich zerbrechlich. Diese Stalker-Geschichte war ziemlich stressig für mich, ich hielt immer nach ihm Ausschau, wenn ich abends unterwegs war. Deswegen fand ich die ganze Sache erst nicht besonders merkwürdig. Aus heutiger Perspektive frage ich mich: ›Warum habe ich das gemacht?‹« Laura versuchte, die Situation zu entschärfen und entspannt zu reagieren, indem sie dem Künstler erklärte: »Das hast du falsch verstanden, aber Schwamm drüber. Wir haben beide was getrunken, der Tag war lang und du warst heute Abend wirklich sehr gut, aber ich muss jetzt los, mein Taxi wartet draußen.« »Ich wollte dieser wirklich unangenehmen Situation entkommen«, erklärt sie mir. »Uns wurde von der Agentur eingetrichtert, immer zu tun, was die Künstlerinnen und Künstler sagen. Wenn sie das wollen, dann geh mit ihnen nach der Aufführung was trinken, sie sind dann wie berauscht. Auch wenn du müde bist und am nächsten Morgen arbeiten musst, geh mit. Lächle einfach nett, sag ihnen, dass sie großartig sind und geh dann irgendwann nach Hause.«
Aber dieser Künstler wollte Laura nicht gehen lassen. Er versperrte ihr mit seinem Fuß die Tür und gestikulierte in Richtung seines Schlafzimmers. Auch auf ihre Bitte hin, sie gehen zu lassen, weil sie am nächsten Tag früh aufstehen und arbeiten müsse, ließ er sie nicht aus der Wohnung. Vier Uber-Taxis kamen und gingen, während der Künstler immer aufdringlicher wurde.

Laura erinnerte sich an ihren Stalker und wie wichtig es gewesen war, sein Verhalten dokumentieren zu können, um eine einstweilige Verfügung gegen ihn zu erwirken. Sie zückte ihr Telefon. Der Künstler war zu betrunken, um zu realisieren, dass er gefilmt wurde. Diese Videos, die VAN vorliegen, sollte sie später ihrem Chef, der nicht zur Premiere hatte kommen können, schicken, zusammen mit einem Nachweis über die verpassten Anrufe der Uber-Fahrer. Als es ihr schließlich gelang, das Apartment zu verlassen, rief der Sänger ihr auf der Treppe hinterher: »Du wirst es in diesem Job nie zu etwas bringen. Ich erzähle allen, wie schlecht du bist.«
Um ein Uhr kam Laura nach Hause, konnte aber nicht schlafen. Etwa gegen fünf Uhr schrieb sie der Agenturleitung eine Mail und bat um ein Treffen gleich am Morgen. Als sie dort erzählte, was passiert war, wurde ihr gesagt, sie solle nach Hause gehen und sich etwas ausruhen. Ihr Chef, der sich zu der Zeit von einer Operation erholte, rief sie später an, nachdem er auf den Stand der Dinge gebracht worden war, und fragte: »Was willst du machen? Willst du nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten? Willst du, dass wir ihn rausschmeißen? Willst du zur Polizei gehen?«
Laura hatte das Gefühl, dass ihre Vorgesetzten sie mit dem Verhalten des Künstlers alleine ließen und ihr die Verantwortung zuschoben, darauf angemessen zu reagieren. »Er war vorher bei einer anderen Agentur gewesen, hatte dort aber mit seiner Agentin geschlafen, weshalb er gehen musste und zu uns kam. Ich habe gefragt: ›Warum habt ihr wissentlich ein verletzliches Mädchen mit einem Raubtier auf eine Premieren-Party geschickt?‹«, erzählt sie. »Ein Teil von mir dachte, dass er ein bisschen ›ge-Weinstein-t‹ werden sollte, aber der andere Teil von mir wollte sich nicht zu sehr einmischen.« Der Künstler hörte nicht auf ihr zu schreiben und anzurufen und beharrte darauf, dass er einfach nur zu viel getrunken habe. Als eine Reaktion auf seine Kontaktaufnahme ausblieb, ging der Künstler zu Lauras Chef und erzählte, sie hätte bis vier Uhr morgens bei ihm im Apartment gekifft.
Als Laura ihrem Chef die Videos und die Uber-Anrufe zeigte, wurde der Künstler gefeuert. »Ich weiß, dass es für die Firma einen größeren finanziellen Schaden darstellte, die Verträge mit ihm zu kündigen. Aber was ich nicht weiß, ist, ob sie ihn meinetwegen entlassen haben, oder weil sie das Gefühl hatten, dass es aus einer Art PR-Perspektive heraus der richtige Schritt war.«
Die eigentliche Managerin des Künstlers, die sich während des Vorfalls im Mutterschaftsurlaub befand, ging mit dem Künstler zusammen zu dessen neuer Agentur. Laura ging im Jahr darauf, etwa neun Monate, nachdem die Agentur erstmals eine Personalabteilung geschaffen hatte. Sie nahm sich eine Auszeit, um ihre nächsten Schritte zu planen und machte eine Therapie, um das »ganze Pech dieses Jahres« (wie sie es nennt) zu verarbeiten. Soweit Laura weiß, verdient der Künstler mit drei Auftritten noch immer mehr als sie, die für 40 Opernsänger verantwortlich gewesen war, in einem ganzen Jahr.
Am unteren Ende der Künstlermanagement-Karriereleiter kümmern sich überwiegend weibliche Mitarbeiterinnen um alle Einzelheiten des Lebens der Künstler. Offiziell organisieren sie die Reisen und Vorsingen, kümmern sich um die Verträge und erstellen Promo-Material. Inoffiziell regeln sie alles, vom Termin für die neue Frisur über das Einkaufen von Kleidung bis hin zur Ablenkung der Ehefrau, damit diese nicht in das Treffen mit einer heimlichen Liebschaft platzt (manchmal müssen sie sogar Hotelzimmer für eben diese Schäferstündchen buchen). Die Künstlerinnen und Künstler »fangen klein an und sind nett«, erzählt Sabine*, eine ehemalige Mitarbeiterin einer deutschen Agentur. »Sobald sie aber auch nur ein bisschen bekannter werden und beginnen, Geld zu verdienen, fangen sie an, ihre Grenzen auszutesten. Sie brauchen ständig irgendwas.«
Sobald Künstler für die Agentur lukrativ werden, erklärt Sabine, starten die CEOs ein gefährliches Spiel der Kosten-Nutzen-Abwägung. Dies mündet häufig darin, dass die, die in der Agentur-Hierarchie am untersten Ende stehen, die in emotionaler Hinsicht schwersten Bürden zu tragen haben. »Wenn die Künstlerin oder der Künstler wirklich viel Geld reinbringt, dann können sie sich noch mehr rausnehmen.« Außerdem werden Programme immer schon Jahre im Voraus an den Veranstalter oder die Veranstalterin gebracht, die Künstler ändern diese dann gerne auch kurzfristig, was die Agenturmitarbeiter wiederum als die Überbringer schlechter Nachrichten den Veranstaltern erklären müssen. »Als Agentin hast du ein Programm verkauft; und dann musst du den Veranstalter drei Tage vorm Konzert anrufen und ihm sagen, dass etwas ganz anderes gespielt wird. Und du musst sie überzeugen, dass es nur so und nicht anders geht.«

»Es gibt wirklich viele, die wegen Stress pausieren oder ganz aufhören müssen«, erzählt Laura. »Wichtige Personen gehen davon aus, dass du zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar für sie bist. Ich denke, viele Künstlerinnen und Künstler sind einsam und wollen einfach jemanden um sich haben, deswegen behandeln sie dich wie eine Freundin. Aber man ist ja eigentlich die Angestellte, das darf man nie vergessen. Es hat eher etwas von einer Dienerin.« »Du stehst in ihrem Dienst«, meint Sabine. »Du bist für sie verantwortlich, du bist irgendwie Babysitter, irgendwie auch nicht. Und du darfst sie nie um irgendwas bitten. Wenn du sagst: ›Ich komme zu deinem Konzert, hast du eine Karte für mich?‹, wird die Antwort sein: ›Tut mir leid, all meine Freikarten sind schon weg.‹«
Wer im Künstlermanagement arbeitet, hat oft Musik, Musikwissenschaft oder ähnliches studiert. Die Leidenschaft für klassische Musik bedeutet für viele oft auch eine Leidensbereitschaft angesichts niedriger Einstiegsgehälter und unbezahlter Überstunden. »Die Menschen, die sich für einen Job in diesem Bereich entscheiden, haben vielleicht selbst mal mit dem Gedanken gespielt, professionell Musik zu machen, sind dem dann aber nicht nachgegangen«, so Sabine. »Sie arbeiten also mit Menschen, die etwas machen, vor dem sie großen Respekt haben. Sie sind vielleicht ein bisschen eifersüchtig, auf jeden Fall aber ehrfürchtig. Dadurch sind sie oft nicht in der Lage, die Dinge zu sehen, wie sie sind.«
Weil es bei Agenturen im Kern um Organisation und Büroarbeit geht, bieten sie außerdem wenig Aufstiegschancen. Als Laura ihre Agentur verließ, hatte sie nicht das Gefühl, dort irgendwelche sinnvollen Fähigkeiten erworben zu haben. »Ich dachte: ›Was kann ich denn?‹ Wenn du die ganze Zeit von bedeutenden Künstlerinnen und Künstlern von oben herab behandelt wirst, kratzt das wirklich an deinem Selbstvertrauen und du denkst, du bist eine andere Behandlung oder Tätigkeit nicht wert.«
Bald nachdem Jodi Kantor und Megan Twohey in der New York Times und Ronan Farrow im New Yorker Harvey Weinsteins über Jahrzehnte andauernden sexuellen Machtmissbrauch aufgedeckt hatten, erreichte die #Metoo-Bewegung auch die Klassik-Nische. Im Dezember 2016 veröffentlichte die New York Post Details aus einem 2016 veröffentlichten Polizeibericht, in dem James Levine vorgeworfen wird, während seiner Sommer beim Ravinia Festival Studenten im Teenageralter sexuelle Gewalt angetan zu haben. Im Juli diesen Jahres veröffentlichten Anne Midgette und Peggy McGlone in der Washington Post ihre Ergebnisse einer sechsmonatigen Recherche, die unter anderem Interviews mit über 50 Künstlerinnen und Künstlern umfasst. Auf Slate schrieb Ellen McSweeney, VAN-Autorin, Musikerin und Sozialarbeiterin in der Ausbildung, dass vier von fünf Dimensionen sexueller Gewalt in der Klassikwelt allgegenwärtig sind. Ganz oben stehen »Unterdrückung, Objektivierung und festgefahrene Rollenbilder von Frauen«, ungleiche Machtverteilungen und bestimmte Männlichkeitsbilder.
Nicole*, die für eine Agentur in den USA gearbeitet hat, erinnert sich an den schmalen Grat zwischen ›nicht mit einem Dirigenten schlafen‹ und ›es sich nicht mit ihm verscherzen‹ während er mit seinem Orchester auf Tour war. »Der Dirigent flirtete ganz offen mit mir, was gegenüber einer jungen Frau im Musikbusiness im Grunde genommen Standard ist, deswegen hatte ich gelernt, auf der Hut zu sein«, erzählt sie. Nachdem der Dirigent nach einer Rückfahrt zum Hotel verlangt hatte, lud er Nicole auf einen Drink ein, was sie ablehnte. Er schlug vor, dass sie ihre Hotelreservierungen in den folgenden Städten umbuchen sollte, damit sie zusammen unterkommen könnten. Sie tat es nicht.

»In den auf die Tour folgenden Monaten habe ich E-Mails von ihm erhalten mit Einladungen zu verschiedenen Veranstaltungen und in Bars, die ich höflich ablehnte oder unbeantwortet ließ. Unsere Agentur arbeitete oft mit ihm zusammen, deswegen war es schwierig für mich, damit umzugehen. Das noch größere Problem war, dass mein Chef, der mit uns auf Tour gewesen war, als ich ihm von der Sache erzählte, sagte: ›Ich hatte mich schon gefragt, was zwischen euch lief‹, anstatt dass er mir Unterstützung anbot. Er fragte außerdem, ob ich mit dem Dirigenten geschlafen hätte, was ebenso beleidigend wie unpassend war.« Nicole kündigte kurz danach.
»Oh ja, so ist der halt«, ist eine besonders von Berufsanfänger*innen und Angestellten, die nicht in Führungspositionen der Klassikwelt arbeiten, oft gehörte Phrase. Eine Managerin asiatischer Herkunft erinnert sich an einen Künstler, der ihr sagte, er habe »Yellow Fever«. Ich habe früher im Onlinemarketing für klassische Musiker*innen gearbeitet, und obwohl der Job weit von dem Grad an Verfügbarkeit entfernt war, den viele Künstler von ihren Agenturen erwarten, habe ich ähnliche unangenehme Momente erlebt. Als mir ein Künstler nach einer Vorstellung Schokolade anbot und ich wegen meiner Nussallergie ablehnte, zuckte ich nicht mit der Wimper, als er fragte: »Wie steht es denn dann um dein Sexleben?« Derselbe Künstler schrieb mir nachher auf Facebook, er habe »eine Lesbe bekehrt«, und scherzte, er verrichte damit »Gottes Werk«.
Ein anderer Künstler lag zu einem verabredeten Skype-Meeting zur Besprechung seiner Website im Bett, mit nichts als Unterwäsche am Körper. Damals habe ich darüber gelacht. Aber als ich merkte, dass andere Menschen innerhalb meiner Organisation ähnliches erlebten, fragte ich mich, ob mein moralischer Kompass nicht aufgehört hatte zu funktionieren. Eines nachts, als ich dort arbeitete, machte ich eine Bemerkung, die ich wohl am meisten bereue von allem, was ich in über einem Jahrzehnt im Klassik-Business gemacht habe. Jemand fühlte sich sehr unwohl mit einem männlichen Sänger, der nach einigen Drinks sehr aufdringlich wurde. Ich hörte mich antworten: »Find dich einfach damit ab.« Ich hatte die verzerrte Sicht, dass es normal ist, dass eine Künstlerin oder ein Künstler durch die Kunst von jeder Verantwortung gegenüber anderen freigesprochen wird, verinnerlicht. ¶