Accattone: Der Hass auf die Frauen, der Diebstahl an den Kindern, das Drangsalieren des Gefühls, die Verleugnung von Freundschaft, die Scham an der eigenen Hoffnung, kaputte Träume. Accattone ist aber auch die Impulsivität, die zufällige Gemeinschaft, der unverstellte Zorn, Körper, die nichts mehr zu verlieren haben. Accattone ist ein Film von Pier Paolo Pasolini, der bis dato, 1961, Schriftsteller war. Viele Kinos haben Accattone boykottiert, anderswo stürmten die Rechten Filmvorführungen, die Medien bevorzugten das Totschweigen. Vor allem die Römer wollten das nicht sehen: Das strukturelle Elend des Subproletariats vor den Toren ihrer Stadt war in dieser Wucht noch eine ganz andere Nummer als die Fahrraddiebe des Neorealismus. Zur Surrealität des Mangels kommt die Musik: Bach. Matthäuspassion, Brandenburgische Konzerte, erstes Klavierkonzert. Das mag der Provokation die Krone aufgesetzt haben, so ist zu lesen. Pasolini schrieb über die Musik:

Bachs Matthäuspassion, bei Accattones Schlägerei, übernimmt eine ästhetische Funktion. Es entsteht eine Art Kontamination zwischen der Hässlichkeit, der Gewalt der Situation und der musikalischen Erhabenheit. Das ist das Amalgam (oder das Magma) des Schönen und des Komischen, von dem Auerbach spricht […] Die Musik spricht den Zuschauer direkt an und macht ihn aufmerksam darauf, dass er sich nicht einer neorealistischen, folkloristischen Schlägerei gegenübersieht, sondern einem epischen Streit, der im Heiligen, im Religiösen mündet. […] ich habe es gespürt, habe es gewusst, dass inmitten dieser Herabwürdigung etwas heiliges, religiöses ist, im allgemeingültigen Sinn des Wortes »religiös«. Übersetzt von pasolini.net

»Accattone« ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für »Bettler«, die Arbeit gilt für die Hauptfigur, die eigentlich Vittorio heißt, und seine Freunde als Schande, als Sklaverei unter dem Establishment. Der Ausweg sind Zuhälterei, Diebstahl, Wetten, nicht aber: ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das tauchte dafür in der Debatte vor der Eröffnungsvorstellung der Ruhrtriennale auf. Dieser vorangehend hielt der Berliner Philosoph Byung-Chul Han am Nachmittag, die Eröffnungsrede und betonte darin, dass der Mensch nicht für Arbeit gemacht sei, zumindest nicht die, die die meisten Menschen heute machen. Das passt doch wie die Faust aufs Auge: Die neue Ruhrtriennale hat sich Accattone geschnappt, einverleibt; Johan Simons, der Intendant dieses und der kommenden beiden Jahre will Pasolinis Text und Bachs Musik in »ein neues Verhältnis setzen«. »Arbeit stinkt« steht auf den Plakaten und auf dem Programmheft dieser Inszenierung.

Zur einen Seitenwand des Gebäudes hin sitzt das Collegium Vocale Gent. Es wurde von Philippe Herreweghe gegründet als Musterensemble für seine immerwährende Pionierarbeit und Forschung und ist vielleicht eines der besten Bachorchester, die es gerade gibt, technisch und konzeptionell. Am geschlossenen Kopfende ist die Tribüne aufgebaut für die Eröffnungsgäste, nach hinten ist die Halle offen, man sieht Bäume und Sträucher, an der anderen Seitenwand agieren die Schauspieler, unter anderem Sandra Hüller.

Wer den Film nicht kennt, hat keine Chance, der Handlung beziehungsweise »Pasolinis Text« zu folgen: Schauspieler übernehmen mehrere Rollen, allen voran Benny Claessens, dessen Rolle in »Das Gesetz« umgedeutet wurde, Polizist, Zuhälter, Boss vom Schrottplatz, The Man. Die Stimmen sind etwas zu sehr verstärkt, trotzdem wird seltsam deklamierend gesprochen, manchmal wie vor Wrestlingkämpfen, manchmal geschwätzig. Die nicht-dialogische Handlung wird durch Worte ersetzt, die eine/r der Schauspieler/innen jeweils aufsagt (»Sie kommt zurück, die Männer stoßen sie herum, die Männer fahren weg«). »Nur, weil man in einer großen Halle spielt, muss man nicht alle Möglichkeiten nutzen«, sagt ein Zuschauer eher anerkennend nach dem Ende der Vorstellung, andererseits: wenn man eine 10.000 Quadratmeter große Spielfläche hat, kann man vielleicht ein paar Möglichkeiten nutzen, etwas mehr Theater machen.

Liebster Gott, wenn werd ich sterben?
Meine Zeit läuft immer hin,
und des alten Adams Erben,
unter denen ich auch bin,
haben das zum Vaterteil,
dass sie eine kleine Weil
arm und elend sein auf Erden
und denn selber Erde werden.

Die Weigerung, dem Geschehen eine Form zu geben, die über die Menschen, die da unten stehen, hinausgeht, hat aber auch eine Botschaft, sie sagt: Diese Gewalt gibt es in dieser oder ähnlicher Form jeden Tag, jede Stunde, an vielen Orten auf dieser Welt. »Leute, das ist ein universelles Drama, die Story ist egal, schaut doch mal auf diese Situationen, hört die großen Worte«, scheinen uns die Schauspieler zu sagen. Aber unwillkürlich gleitet der Blick immer wieder nach draußen, verjüngt sich im Fluchtpunkt, saugt diese großartige, tiefe Perspektive auf; vor allem dann, wenn Musik ist, hält ihn nichts mehr in der sandigen Arena, so sehr da auch gerungen und geröchelt wird. Die Natur schweigt und atmet im Sonnenuntergang.

»Eine Elegie auf Menschen, die ihr Leben stumpf vergeuden«, schrieb der »Evangelische Filmbeobachter« zu Pasolinis Film. Eine Elegie ist das hier nicht, dafür schleppt es zu sehr. Hätte man locker Pausen einbauen können, wollte man drauf verzichten. Die Inszenierung von Johan Simons hat etwas von einem Kreuzweg: Es gibt verschiedene Stationen, eine Serie von Positions- und Körperkonstellationen. Leute, die sich im Staub wälzen, die würgen, ab und zu aufstehen, um jemand anderen runter
zuziehen, oder kurz wegzurennen, oder sich zu verkriechen, bevor man den eigenen Leidensweg zum Spott der anderen fortführt.

Wer hat dich so geschlagen,
Mein Heil, und dich mit Plagen
So übel zugericht‘?
Du bist ja nicht ein Sünder
Wie wir und unsre Kinder,
Von Missetaten weißt du nicht.

Die Sehgewohnheiten und unsere sinnliche Wahrnehmung haben sich verändert. Pasolinis Film schaut eh kaum noch jemand, Simons übersetzt ihn, will ihn irgendwie ins Jetzt holen. Das ist eine gute Sache. Dabei versucht seine Inszenierung also mit aller Gewalt, die Spannung zwischen Bach und dem Pigneto-Viertel, zwischen Erlösung und Leiden, wieder in ihr Recht zu setzen, neu auszuwuchten.

Und dabei kehrt er das Verhältnis völlig um: Im Film nämlich ist die Musik – auch technisch bedingt – blechern, das Frequenzspektrum ist schmal, deswegen wirkt sie, vor allem für den heutigen Zuschauer, symbolisch: Den Bewegungen der Schauspieler, körperlich, heiß, flüssig, verleiht sie eine höhere Dimension. Auf dem Boden der Kohlemischhalle in Dinslaken-Lohberg ist es umgekehrt: Hier versuchen die Schauspieler einen dramatischen Hintergrund zu schaffen, der aber gleichförmig und symbolisch bleibt. Dafür kommen die Arien aus den Bachkantaten und -Oratorien zu einer praktisch unendlichen Feinheit, Aufgelöstheit, Wärme. Das Collegium Vocale lässt sie souverän fließen und strahlen, wie eine menschliche Hand, die die Legofiguren der Schauspieler aufnimmt. 

Die »Freiheit des Denkens und der Körper«, die Dramaturg Tobias Staab in Pasolinis Film sieht, ist vollständig in die Musik gewandert. Die Protagonisten-Körper wirken in der riesigen Halle verloren, zum Denken ist es zu spät, die Geschichte muss erzählt werden. Der neue Kameramann ist Philipp Herreweghe.

Wie zittern und wanken
Der Sünder Gedanken,
Indem sie sich untereinander verklagen
Und wiederum sich zu entschuldigen wagen.
So wird ein geängstigt Gewissen
Durch eigene Folter zerrissen.

Ansonsten läuft es nebeneinander her, nur wenige Momente sind es, in denen es eine gemeinsame Bewegung gibt, ein Verweben. Hier singt eine Schauspielerin ein paar Verse, dort gesellen sich Klänge aus Städten in Afrika oder Asien zur Soundscape. Was Pasolini bei aller Grimmigkeit schafft, nämlich: die Distanz zu anderen sozialen Räumen zu verringern, die Angst und Arroganz zu durchlöchern gegenüber den Armen, Dreckigen, Groben, die uns immer näher kommen, das gelingt an diesem Abend nicht. Der Blick öffnet sich trotzdem, und sei es auch nur wegen dieser Wetter-Landschaftsleinwand auf der offenen Seite der Halle. Wer noch nicht verliebt ist in die Musik von Bach, wird es nach an diesem Abend sein. Auch wenn das Theater nicht richtig weiß, wohin mit sich. ¶