Was das Kulturmanagement von freien Ensembles lernen kann und warum die Einspielungen von freien oder unabhängigen Ensembles bei der SRF-Radiosendung »Diskothek« meistens gewinnen.

Text · Titelfoto STEVE SNODGRASS · Datum 26.8.2015

Ein Moderator, zwei Musikexpert/innen, drei Runden und fünf Aufnahmen eines Werkes – das sind die Zutaten für die Sendung »Diskothek« im Schweizer Radiosender SRF 2 Kultur. Die beiden Experten hören und diskutieren die Aufnahmen ohne zu wissen, wer die Interpret/innen sind. Nach jeder Runde scheiden Einspielungen aus, bis am Ende ein oder zwei Favoriten übrig bleiben. Oftmals gelangen Orchester und Dirigenten in die letzte Runde, die sich jenseits der eingelaufenen Trampelpfade des Klassikbetriebs bewegen: John Eliot Gardiner und das Orchestre Révolutionnaire et Romantique kamen mit ihren Einspielungen der Brahms-Sinfonien No.1 und No.3 aufs Siegertreppchen, während die Aufnahmen der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle und dem Gewandhausorchester Leipzig unter Riccardo Chailly früh aussortiert wurden. In der Sendung zu Schumanns 2. Sinfonie machte das Chamber Orchestra of Europe unter Nikolaus Harnoncourt das Rennen. In der Ausgabe zu Berlioz’ Les Nuits d’été blieb Philippe Herreweghe mit dem Orchestre des Champs-Elysées am Ende übrig. Auch mit Mahlers Wunderhorn-Liedern schaffte Herreweghe es in die letzte Runde, wo es allerdings zum Patt mit Claudio Abbados Interpretation kam.

ORCHESTRE RÉVOLUTIONNAIRE ET ROMANTIQUE
ORCHESTRE RÉVOLUTIONNAIRE ET ROMANTIQUE

Die Ergebnisse der »Diskothek« sind nicht das einzige Indiz, dass der »Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern« nicht den idealen Rahmen für »unerhörte« Interpretationen des sinfonischen Repertoires bietet. Auch bei einem Blick auf die Aufsehen erregenden Beethoven-Zyklen der letzten 30 Jahre haben freie Ensembles die Nase vorn: Wieder sind John Eliot Gardiner und das Orchestre Révolutionnaire et Romantique zu nennen. Des Weiteren Roger Norrington und die London Classical Players, Nikolaus Harnoncourt und das Chamber Orchestra of Europe oder Paavo Järvi mit der Kammerphilharmonie Bremen. In allen Fällen handelt es sich um Orchester mit besonderer Struktur und Arbeitskultur. Traditionsorchester konnten an diese Erfolge anknüpfen, wenn sie sich von der historisch informierten Aufführungspraxis inspirieren ließen. Wie beispielsweise David Zinman bei seinem Zürcher Beethoven-Zyklus, Claudio Abbado bei seiner zweiten Gesamteinspielung mit den Berliner Philharmonikern oder Riccardo Chailly mit dem Gewandhausorchester Leipzig. Bei Mozart verhält es sich nicht anders: Aktuell beweisen zum Beispiel Teodor Currentzis und sein Ensemble Musica Aeterna mit ihren Aufnahmen der Da-Ponte-Opern, dass diese ebenfalls hundertfach eingespielten Werke immer noch erstaunlich neu klingen können. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Orchestre des Champs-Elysées
Orchestre des Champs-Elysées

Aber worin unterscheiden sich diese freien Ensembles von den öffentlich oder gebührenfinanzierten Sinfonieorchestern? Warum sind ihre Interpretationen oftmals origineller und aufregender als die der Klangkörper, die sich mit öffentlichem Geld finanzieren? Wird dieses Geld nicht gerade aufgewendet, um die besten Musiker zu gewinnen und sich ohne ökonomischen Druck dem unangepassten, experimentellen Umgang mit dem Repertoire zu verschreiben? Nicht ohne Neid meint Louis Dupras, Geschäftsführer der Camerata Bern, mit Blick auf die finanzielle Situation dieser Orchester: »Eigentlich müsste man bei ihnen von der ›freien Szene‹ sprechen«. Es scheint aber, dass Geld, Tradition und Exzellenz allein nicht reichen, wenn nicht auch eine starke gemeinsame Idee von Zusammenarbeit und künstlerischen Zielen existiert. Anders formuliert: Wenn die Arbeit nicht von Unternehmergeist getragen wird.

Allerdings ist dieser aus der Ökonomie stammende Begriff belastet. Der Schritt zu »Wettbewerb«, »Markt«, zum Primat des Geldes oder zum Ausverkauf der Kunst scheint nur ein kleiner zu sein. Zumal der Begriff in der Kulturmanagementlehre in den letzten Jahren Konjunktur hatte und als Allzweckwaffe gegen schrumpfende öffentliche Etats und Besucherstämme, steigenden Konkurrenzdruck im Freizeitmarkt und wachsende Anspruchshaltung von Besuchern und Sponsoren propagiert wurde. Dazu kommt, dass unter dem Label des Unternehmertums auch zunehmende Selbstausbeutung der Künstler/innen und prekäre Arbeitsverhältnisse im Kulturbereich euphemisiert werden. Die Vorbehalte sind also durchaus verständlich und es nützt wenig, dass die Kulturmanagementlehre stets die strikte Trennung zwischen Kunst und ihren administrativen Belangen betont. Kulturmanagement wie Kulturunternehmertum werden dort als die Kunst definiert, künstlerische Arbeit zu ermöglichen, ohne sie aber selbst zu leisten oder auch nur auf sie einzuwirken.

In der Praxis bilden diese beiden Bereiche jedoch keine Emulsion, sondern eine Lösung. Die organisatorische, unternehmerische Kulturarbeit ist nicht nur dienende Hilfsfunktion für das eigentliche Kunstmachen. Sie löst sich vielmehr rückstandslos in den Gesamtaktivitäten auf, an deren Ende ein Kunstwerk oder -ereignis steht. Bei jungen Kulturunternehmer/innen ergibt sich dieses Zusammengehen von künstlerischer und organisatorischer Arbeit oftmals allein aus den begrenzten Ressourcen. Für viele Komponisten war diese Personalunion von Künstler und Unternehmer ohnehin der Normalzustand: Händel, Mozart, Beethoven, Verdi und ganz besonders Wagner, um nur einige Beispiele zu nennen. Der »Großvater« des heutigen Intendanten ist der Impresario, der alle Merkmale des prototypischen Unternehmers aufweist: Bei ihm liefen alle künstlerischen, finanziellen und organisatorischen Fäden zusammen.

Chamber Orchestra of Europe
Chamber Orchestra of Europe

Von dieser selbstverständlichen Einheit von Künstler- und Unternehmertum hat sich die Kulturmanagementlehre entfernt, sie verneint jene zumeist sogar explizit. Der Kunst erweist sie damit allerdings einen Bärendienst, wie eine kurze Sequenz aus der Eingangs erwähnten Sendung Diskothek veranschaulicht. In der Ausgabe zu Arnold Schönbergs »Verklärte Nacht« wurde die Aufnahme des Ensemble Resonanz als beste Interpretation ermittelt. Der Studiogast Patrick Jüdt kommentierte die Aufnahme – ohne in dem Moment bereits zu wissen, welches Ensemble dort spielte – mit den Worten: »Es klingt für mich nach einem Ensemble, wo viel Enthusiasmus von jedem Beteiligten dabei ist. Auf jeden Fall ist dieses Ensemble, was da spielt, dieses Orchester, gewöhnt, eigeninitiativ zu arbeiten«. Das war völlig richtig gehört. Die Musiker/innen sind auch die Gesellschafter des Ensembles. Sie agieren sowohl im wirtschaftlichen und juristischen Sinne als Unternehmer als auch im künstlerischen. Die unternehmerische Struktur des Ensembles ermöglicht so nicht nur die Kunst, sie wirkt in sie hinein. Sie konstituiert die künstlerische Individualität und Klasse des Ensembles.

Kammerphilharmonie Bremen
Kammerphilharmonie Bremen

Viele Unternehmen haben inzwischen verstanden, dass Management sich heute nicht mehr auf die Allokation von Arbeit, Technologie und Kapital und des Weiteren aufs Planen, Umsetzen und Kontrollieren beschränken kann. In der Ideenwirtschaft gewinnt das kreative Moment massiv an Bedeutung, Management wird zu kreativer Arbeit. Es geht immer mehr darum, Ideen und Konzepte schlüssig zu entwickeln und auszuarbeiten (in Analogie zur »motivisch-thematischen Arbeit« eines Komponisten) und Bestehendes neu zu kombinieren. Im Kulturmanagement ist dieser Gedanke noch sehr ungewohnt, die scharfe Trennlinie zwischen Management und künstlerischer Arbeit wird zumindest noch behauptet. Bei den Ensembles, von denen eingangs die Rede war, existiert sie allerdings nicht mehr. Unternehmertum ist dann die Synthese aus organisatorischer und künstlerischer Arbeit. Davor muss man keine Angst haben. Im Gegenteil, die Kultur braucht mehr davon. Nicht nur im Sinne wirtschaftlicher Stabilität, sondern vor allem im Sinne der Kunst selbst. ¶