Die Yellow Lounge versucht auf dem Berlin Festival Coolness an den Mann zu bringen – an ihren eigenen.
Normalerweise ist es bei Festivalplakaten so: oben groß die Headliner, unten klein die lokalen Helden. Das Berlin Festival gibt sich dieses Jahr egalitär und ordnet die Künstler alphabetisch an. Den Mandolinisten Avi Avital hat es so nach oben gespült, er steht jetzt gleich in der ersten Reihe, zwischen Atari Teenage Riot und Carl Craig. Avi Avital hat gerade bei der Deutschen Grammophon sein drittes Album herausgebracht. Es heißt »Vivaldi«. Auf dem Cover steht er mit seiner Mandoline vor einem Venedig-Panorama.
Seine Plattenfirma Universal hat sich für den Samstag mit der Yellow Lounge in das Glashaus eingekauft, das auf dem Arena-Festivalgelände gleich gegenüber der Hauptbühne liegt. Die Yellow Lounge gibt es seit 2001. Sie ist der Dinosaurier unter den Klassik-im-Club-Formaten. Universal veranstaltet sie gerne an verschiedenen Orten der Berliner Clubkultur. Im Prince Charles, dem Ritter Butzke, Berghain, früher im Cookies. Meistens treten Künstler auf, die gerade ein neues Crossover- oder Potpourri-Album herausgebracht haben. Oft kommen darin die Worte »Journey« oder »Between« oder »Connection« im Titel vor. Vor Ort gibt es dazu ein bisschen nette Visuals und Lounge-Musik in wohltemperierter Lautstärke.

Es ist kurz nach 22 Uhr. Auf der Hauptbühne sind später James Blake und Fritz Kalkbrenner die Hauptacts, im Glashaus macht die Pianistin Valentina Lisitsa den Auftakt. Sie wurde bekannt als »erster Youtube-Star der klassischen Musik« und Unterstützerin der pro-russischen Separatisten in der Ukraine. Während drüben Bonaparte mit Kid Simius rappt, webt Valentina eine Mischung aus Amélie- und Downton-Abbey-Soundtrack, Philip Glass und Richard Clayderman. Chopin kündigt sie etwas entschuldigend mit den Worten an, dass jetzt noch »etwas von einem richtigen klassischen Komponisten« kommt.
Der Zuschauerzuspruch ist moderat. Es gibt die Streuner, die unermüdlich über das Festivalgelände Vagabundierenden. Die Neugierigen, die kurz verweilen. Einige legen sich zum Chillen an den Seiten ab. Diejenigen auf der Suche nach einer Bar ohne Schlange werden jäh enttäuscht, weil die Bar in der Yellow Lounge während der Performance von Valentina Lisitsa geschlossen bleibt. Einer sagt: »Das klingt jetzt ja nicht unbedingt nach Party-Musik.«
Avi Avital erzählt zu Beginn seines Auftritts, wie er in Venedig bei einem plötzlich auftretenden Wetterumschwung endlich Vivaldi verstanden habe. Dann spielt er auf seiner Mandoline und begleitet von der Kammerakademie Potsdam die Vier Jahreszeiten. Als er anfängt, macht ein zum Schweigen gemahnendes »tssss« die Runde. Man weiß nicht genau, ob es Ernst oder Ironie ist, in jedem Fall wird es von einer Gruppe am Boden sitzender Jungs, die trotz des frühen Abends schon etwas angetütert scheinen, belustigt und etwas flegelhaft imitiert.
Die Rezeptionshaltung der Anwesenden wäre vermutlich keine andere, würde jetzt hier die Grassauer Blasmusi auftreten. Das Wahrgenommene oszilliert irgendwo zwischen spleenig und skurril, sorgt für Belustigung oder willkommene Abwechslung zur Erholung des Hörens, Staunen über die technische Virtuosität. Man ist freundlich gestimmt, es gibt zustimmenden Applaus. Man erinnert sich an die jüngste Forsa-Umfrage: »Für 88 Prozent der Deutschen ist klassische Musik ein wichtiges kulturelles Erbe.«

Ein Blick auf die Auswahl der Acts für die Yellow Lounge verrät, dass es Universal nicht darum geht, in einer (Karikatur von) Clubkultur nach neuen Hörer zu fischen. Eher soll eigenen Künstler/innen ein cooler Anstrich gegeben werden durch die Berührung mit einer Welt, in der niemand mehr »cool« sagt. Die »Jahrhundertgeigerin« und Konzertsaal-Aktivistin Anne-Sophie Mutter wurde im Mai in den »angesagten Club« Neue Heimat drapiert, um ihr für August geplantes Yellow Lounge-Live Album aufzuzeichnen. Auf ihrem Blog zum Event lesen wir: »Wahnsinn!«, »Graffiti auf den Mauern!«, »Graffiti auf den Wänden!«. Und ein Bild von draußen: »Wenn man hier steht, ahnt man noch nicht, was einen später drinnen erwartet.« Später drinnen warteten die Vier Jahreszeiten und Schindlers Liste. Auf der Website der Deutschen Grammophon ist zu lesen: »Anne-Sophie Mutter verzaubert die Berliner Club-Szene«.
Eine Yellow Lounge im Konzerthaus wurde jüngst mit den Worten angesagt, dass »man wie immer bei der Yellow Lounge alles darf und nichts verboten ist«. Was danach kam, lässt sich auf der Webseite von Klassik Akzente, der Hauspostille von Universal, nachlesen:
Den Anfang machte der junge serbische Geiger Nemanja Radulović. Mit dem ersten Bogenstrich wurde es flüsterleise im Saal und die virtuosen Kostproben aus seinem Debütalbum „Journey East“ wurden mit begeistertem Applaus aufgenommen. Als nächstes bezauberte der Tenor Piotr Beczała mit Liebesarien wie Bizets „La fleur que tu m’avais jetée“ von seinem aktuellen Album „The French Collection“ nicht nur das weibliche Publikum. Klarinettist Andreas Ottensamer präsentierte echte Stimmungsgaranten: Die mitreißend arrangierten „Ungarischen Tänze“ von Johannes Brahms aus dem neuen Album „The Hungarian Connection“ inklusive einem zum Cimbalom umpräparierten Flügel verbreiteten schlichtweg gute Laune. Eine gute Vorbereitung für die darauffolgende Performance: Das Hiphop-Klassik-Set von DJ-Weltmeister Marc Hype wurde zum überraschendsten musikalischen Moment des Abends, der Einiges an Zukunftsvisionen offenbarte.
In dieser Mischung aus bloß zugeschriebener Wildheit und »Best of Classic Hits«-Musikauswahl zeigt sich die Fratze der Spießigkeit umso toller.

Wie wird klassische Musik wohl wahrgenommen von denjenigen, die sich hier auf dem Berlin Festival ins Glashaus verirren? Vielleicht als eigentümliche Folklore-Kultur, wo aus der Zeit gefallene Paganini-eske Gestalten virtuos auf alten Instrumenten spielen. Vielleicht ein bisschen wie Mittelalterfestival. Vielleicht als gute Musik zum Chillen. Vielleicht als eine parasitäre Musikkultur, die sich in anbiedernder Pose an den Tropf anderer (Sub-)Kulturen hängen muss. Und als letztes Refugium von Enrique Iglesias als Schönheitsideal. Vielleicht als eine Musik, in der vor allem immer dieses eine Stück, Vier Jahreszeiten, vorkommen muss. Und Schindlers Liste.
Daran scheint so viel falsch, dass es einen fast überfordert. Eigentlich möchte man denen die ganze Zeit nur zurufen: „It’s not the real thing!“ Als drüben James Blake anfängt, lichten sich die spärlichen Reihen weiter. Man nimmt Abschied vom wichtigen kulturellen Erbe. Avi Avital spielt jetzt gerade den Sommer. James Blake war übrigens ziemlich gut. ¶