Reicher und größer

Neulich Anruf in der Pressestelle der Berliner Philharmoniker: Ein befreundeter brasilianischer Musikjournalist ist zwischen den Jahren in der Stadt und würde sich gerne ein Konzert in der Philharmonie anschauen. »Mit südamerikanischen Journalisten haben wir schlechte Erfahrung gemacht«, beschied mich die freundliche Pressedame der Philharmoniker. Bei denen wisse man nie, ob sie nun was schreiben oder nicht, man könne das nicht so genau nachverfolgen. Und überhaupt, in der Zeit seien so viele Touristen in der Stadt, da könne man jede Karte teuer verkaufen. 

Vielleicht ist es das FC-Bayern-Syndrom, die werden ja auch immer reicher und größer, übersprudelndes Festgeldkonto, mitgliederstärkster Verein, eine halbe Milliarde Umsatz. Die Allianz Arena haben sie jetzt schon 13 Jahre vor der Frist abbezahlt. Die Philharmonie brauchten die Philharmoniker erst gar nicht bezahlen, die wurde ihnen quasi geschenkt. Premiummarke, Hochzeit im Himmel mit der Deutschen Bank, und im Reiseführer stehen die Philharmoniker unter den Top 10 der Berliner Sehenswürdigkeiten. 

Heute Abend ist Martha Argerich zu Gast im ausverkauften »Sonderkonzert«. Auf dem Programm steht Mendelssohns Ouvertüre Ruy Blas, Schumanns Klavierkonzert a-Moll und Rachmaninows 3. Sinfonie. Die billigste Sitzplatzkarte kostet 43 Euro, die teuerste 132. Wie überall gehört eine teure Karte aber nicht automatisch einem großen Fan. Vielleicht schlägt hier hinten, auf den Stehplätzen hinter Block D, das wahre Herz des Vereins Berliner Philharmoniker. Auf jeden Fall steht man hier heute dichtgedrängt, fast wie im Fußballstadion, also in einem, wo es noch Stehplätze gibt. In England hat man sie abgeschafft, weil man jede Sitzplatzkarte ja teuer verkaufen kann. Seitdem ist die Stimmung im Eimer und man guckt jetzt neidisch in die Bundesliga, wo sich noch echte Fans den Stadionbesuch leisten können und nicht nur VIP-Sponsoren und der Großcousin des Scheichs von Dubai, der eigentlich eher auf Pferderennen steht. 

»When did you last see her?«

Hier hinten bei den Ultras auf den Stehplätzen herrscht also freudige Erwartung, »When did you last see her?«, »Ist es wirklich schon 7 Jahre her«? Links neben mir steht ein Hüne mit leuchtturmdicken Beinen, der aussieht wie William Fitzsimmons. Er beklatscht die Philharmoniker schon beim Auftritt so aufmunternd als wäre es ein Schulorchester, das sich nicht recht raus traut. Rechts erzählt ein asiatischer Besucher von den beiden vorangegangen Abenden mit Argerich. »Amazing, every time she played completely differently.« 

Argerich spielt dann auch heute ganz großartig und losgelöst. Im Orchester rücken selbst die alten Hasen noch etwas konzentrierter an die Stuhlkante. Jeder legt sich auf eine sehr rührende Art für den seltenen Gast ins Zeug und bemüht sich, ihren eigenwilligen Wegen zu folgen.

Das Schöne am Stehplatz ist, dass man sich auch ein wenig bewegen kann und darf. Es werden einem weder vom Sitz noch vom Sitznachbarn Grenzen gesetzt. Ich habe das einmal auf den guten Plätzen in Block A erlebt, als ich in irgendeiner Schostakowitsch-Sinfonie unbewusst eine kleine Pendelbewegung machte und mich plötzlich zwei Hände von hinten in mein Sitzkorsett zurückpressten. Seitdem habe ich Angst, mich überhaupt zu rühren, und wenn der Körper noch so sehr will. Der stehende Hüne nehmen mir wankt an einigen Stellen im finalen Allegro Vivace wie eine Eiche im Sturmtief, aber ich kann das gut haben, weil sein Körper und Geister so vollkommen gebannt von der Musik sind.

»This time was the best.«

Argerich triumphiert, selbst das gesamte Orchester klatscht mit, also nicht mit diesem obligatorischen Bogenwippen bei den Streichern, das immer entweder verklemmt oder unbeteiligt aussieht. Der Asiate neben mir bekundet fachmännisch: »This time was the best.« Der Hüne applaudiert so tief empfunden und imposant, dass ich mir kurz wünsche, Martha könnte diesen schönen Anblick von dort unten sehen.

Eine Besucherin unmittelbar vor uns, in der letzten Reihe vom Block D, verlässt bereits frühzeitig ihren Sitz. Sie war vorher damit aufgefallen, während der Mendelssohn-Ouvertüre in einer der »Top-10-Sehenswürdigkeiten« der Stadt Selfies von sich zu machen. Ihr Platz wird nun von einer neben mir Stehenden eingenommen. 

Nach der vierten oder fünften Verbeugung spielt Argerich dann als Zugabe Von fremden Ländern und Menschen aus Schumanns Kinderszenen. Wurde man während des a-Moll-Konzerts schon langsam porös, lauscht man nun mit sehr feuchten Augen diesem zarten Stück, weil es unter Argerichs Händen so viel erzählt, vom zu kurzen Leben, der vergangenen Zeit, von der Wehmut einer nie erfüllten Sehnsucht. Weil einem in den Sinn kommt, dass Schumann die Kinderszenen als »Rückspiegelung eines Älteren für Ältere« bezeichnete, und weil man sich dann an den wundervollen Dokumentarfilm ihrer Tochter Stéphanie erinnert, in der Argerich manchmal so verloren scheint im Leben und Älterwerden. Weil ihr Spiel immer etwas ungezügeltes, kindlich extremes hat, Natur statt Kultur, und weil man in Argerich deshalb schon so lange ein bisschen verliebt ist und weil sie diese kleine, zweiminütige Miniatur so wunderbar spielt.


Aufnahme von Von fremden Ländern und Menschen
(Robert Schumann: Kinderszenen, op. 15) von Martha Argerich


Nach etwa anderthalb Minuten bahnt sich plötzlich von hinten die flüchtige Besucherin einen Weg durch die Stehenden. Offensichtlich hat sie gemerkt, dass es doch noch irgendwie weitergeht, vielleicht hat sie sich geirrt, und diese Pianistin spielt noch ein Klavierkonzert hinterher? Da stand ja auch noch was »3.« von Rachmaninow und auf dem Programm. Kennt man das nicht aus dem Film mit dem Pianisten, der ne Schraube locker hat? 

Panik und Entsetzen

An ihrem Platz angekommen, stellt sie fest, dass dieser bereits besetzt ist. Statt sich leise nebendran zu stellen, beginnt sie nun, lauthals ihren Sitz zurückzufordern. Die dort Sitzende versucht peinlich berührt abzuwimmeln. Von fremden Ländern und Menschen dauert jetzt vielleicht noch 20 Sekunden. Aufstehen, Platz räumen, und das Stück ist zu Ende. Um mich herum macht sich pure Panik und Entsetzen breit. Einige kommen von weit her, haben in der Kälte angestanden, sind echte Argerich-Fans, und es laufen die letzten Sekunden der Verlängerung. Wenn jetzt jemand eine Waffe dabei hätte,
man weiß es nie, die Philharmonie kontrolliert ja sowas nicht. Es sind vielleicht noch zehn Sekunden. Der Hüne versucht durch energisches Tippen auf die Schulter der lamentierenden Frau zu retten was zu retten ist, aber es ist zu spät. Von fernen Ländern und Menschen endet im Lamentieren der Frau, die ihr gutes Recht einfordert, noch ein paar Sekunden auf dem für 43 Euro teuer erkauften Platz zu sitzen. 

Ich wünsche mir manchmal ein Philharmonie-Konzert ganz ohne teuer verkaufte Karten und nur mit dem Stehplatz-Publikum von hinter Block D.



Notiz aus Berlin
Von fremden Ländern und Menschen

29. November 2014, Philharmonie Berlin:
Berliner Philharmoniker, Riccardo Chailly (Dirigent),
Martha Argerich (Klavier)