Die Entstehungsgeschichte keiner anderen Puccini-Oper ist derart von Märchen, Legenden und Räuberpistolen umrankt wie die der Tosca. Grund dafür sind etliche unseriöse englischsprachige Biografen, die munter voneinander abschrieben und lieber noch etwas Absurdes hinzuerfanden als Quellenforschung vor Ort zu betreiben. Man muss allerdings zugeben, dass die Dinge kompliziert sind. Der Schriftsteller Helmut Krausser ist ein Verehrer von Puccinis Kollegen und Zeitgenossen Alberto Franchetti — er kommt dem Ganzen auf die Spur.


Gehen wir ins Jahr 1894, ein Jahr, nachdem Puccini mit Manon Lescaut den größten Premierenerfolg seiner Karriere feiern konnte. (Ähnlich überwältigenden Zuspruch erfuhr er nur noch einmal in seinem Leben, für La Rondine, 1917 in Monaco.) Giulio Ricordi, der große Verleger, zugleich so etwas wie ein Adoptivvater für den jungen Puccini, macht diesen schon früh auf Victorien Sardous Erfolgsdrama Tosca aufmerksam, aber Puccini winkt ab. Er hat sich dafür entschieden, La Lupa von Verga zu vertonen, eine derb-brutale, zu der Zeit sehr erfolgreiche Bauerntragödie. Sogar die erste Szene des Librettos – an dem Luigi Illica sitzt, der ungefähr ein Dutzend Komponisten mit Texten beliefert –, in der die Bläue des sizilianischen Himmels besungen wird, hat er schon vertont. Auf einer Schifffahrt zwischen Livorno und Malta begegnet er Blandine von Bülow, der Stieftochter Wagners, und erzählt ihr von seinen Plänen. Sie rät ihm dringend von der Lupa ab, der Stoff sei zu vulgär. Puccini wird ihrem Rat bald folgen, aber aus einem ganz anderen Grund. Ihm ist zu Ohren gekommen, dass der Komponist Leoncavallo sich mit einem weitaus interessanteren Stoff beschäftigt: La Vie de Bohème nach Henry Murger. Er lässt sich das Buch kommen und fällt aus allen Wolken: Das ist sein Stoff! Für ihn und keinen anderen gemacht. Die Studienjahre in Mailand, in all ihrer Ärmlichkeit, das auf vagen Versprechungen aufgebaute, entbehrungsreiche Künstlerleben, tausenderlei Demütigungen, unterbrochen von kurzen Glücksmomenten – keiner hätte darüber mehr zu sagen, als er selbst. Binnen weniger Tage steht der Entschluss fest: Seine nächste Oper wird »La Bohème« heißen. Und dass da nun zufällig ein anderer Komponist dran arbeitet, egal, völlig egal, am Ende wird das Publikum entscheiden. Die Musik, die eben noch den blauen sizilianischen Himmel besungen hat, wird sogleich zweitverwendet, den grauen, rußgeschwängerten Pariser Himmel zu besingen (»nei cieli bigi«). Illica ereifert sich, gibt sich abgrundtief beleidigt. All seine Arbeit an La Lupa soll umsonst gewesen sein? 


Ein Bestseller in guten Händen

Unterdessen sieht sich Puccini noch einmal Sardous Schauspiel Tosca an, nun mit der bereits legendären Sarah Bernhardt in der Titelrolle. Er befindet jetzt doch, dass daraus ein ganz gutes Libretto gedeihen könnte. Aber die Rechte sind nicht mehr frei. Ricordi hat sie an Alberto Franchetti vermittelt, und Illica sitzt bereits an der ersten Fassung. Puccini schüttelt den Kopf, denn Franchetti, der Sohn des reichsten Mannes Italiens, kauft Dutzende Stoffrechte auf. Alles, was irgendwie interessant sein könnte, schnappt er sich und lässt es dann meist unbearbeitet herumliegen – eine Unart (… die Puccini, sobald es sein Vermögen zulässt, von ihm übernehmen wird. Aber während Franchetti einfach nur unsicher ist, wie er weitermachen soll und sich nichts Böses dabei denkt, wird Puccini vielversprechende Stoffe vor allem deshalb ankaufen, um sie etwaigen Konkurrenten zu entziehen.)

Der hochbegabte, zu Unrecht vergessene und heute zaghaft wiederentdeckte Franchetti hatte mit Asrael und Cristoforo Colombo zwei internationale Erfolge gefeiert, dann allerdings mit Fior d’Alpe und Signor Pourceugnac eher durchwachsene Nachfolger abgeliefert. Doch steht er noch hoch im Kurs. Sardou, einer der berühmtesten Dramatiker seiner Zeit, ist heilfroh, dass Franchetti die Tosca machen will, und nicht, wie ursprünglich von Ricordi angedacht, der weniger renommierte Puccini. Illica erstellt eine erste, noch sehr skizzenhafte Rohfassung, die im privaten Kreis vorgelesen wird. Über den Ausgang der Sache schreibt Luigi Illica an Baron Raimondo Franchetti, den Vater von Alberto (von Paris nach Reggio Emilia, 13. Oktober 1894):

Lieber und sehr geehrter Signore,

ich bin seit drei Tagen mit Alberto in Paris. Ricordi hat uns hierhergerufen, damit wir mit Sardou über die Tosca verhandeln – das ist die neue Oper, die Ihr Sohn schreiben wird. Ich werde Ihnen nicht erzählen, welche Freundlichkeiten uns Sardou zukommen ließ. Nur so viel: Als Alberto sich an ihn wandte und sagte: »Sie kennen mich nicht und können nicht wissen, ob Ihr Meisterwerk bei mir in guten Händen sein wird«, da lächelte Sardou und erwiderte: »Lieber Maestro, ob ich Sie kenne? Aber sehen Sie einmal hier!« Und er zeigte uns die Partituren von Asrael und Colombo, die auf seinem Klavier lagen. Ich habe dann meine Skizze vorgelesen (die Tosca auf drei Akte eingedampft, d. Autor), bei der viel von mir selbst stammt, weswegen ich ein Zittern spürte, wie zuletzt bei den Schulexamen vor zwanzig Jahren. Sie sollten wissen, dass ich es zum ersten Mal wagte, auf Französisch zu lesen – und das in Paris, vor dem berühmten Sardou. Eine gewagte, zu gewagte Sache, wie es mir im ersten Moment erschien, aber die Gier, Paris zu sehen, Sardou und die Erstaufführung des Otello, dazu der Gedanke an ein neues Werk von Alberto […] Ich hab’s gewagt! Vom Ausgang wird Ihnen Alberto einen detaillierten Bericht liefern. Nur so viel: Sardou akzeptierte den gesamten Entwurf, hatte nichts auszusetzen, lobte ihn in höchsten Tönen, und als wir ihn fragten, ob er uns die Ehre erweisen würde und wir auf das Libretto auch seinen Namen setzen dürften, ließ er uns gar nicht zu Ende reden, sondern versicherte uns mit großer Lebhaftigkeit, dass er nicht nur seinen Namen zur Verfügung stellen würde, nein, mehr noch, dass er persönlich, ER! – kommen würde, um bei der Inszenierung zu helfen. […]


Im Stoff vergriffen

Verdi, der die Skizzen durchsieht, lässt verlauten, dass er gern selbst die Tosca vertonen würde, wäre er nur etwas jünger. Dennoch wird Alberto Franchetti die schwer begründbaren Zweifel an jenem Stoff nicht los. Er ahnt instinktiv, dass seine musikalischen Mittel dem Gehalt des Textes nicht angemessen sind.
Ein anderes vielversprechendes Libretto, das Illica für ihn geschrieben hat, Andrea Chénier, schenkt er aus reiner Sympathie seinem neuen besten Freund, dem jungen Umberto Giordano; er selbst kann es nicht gebrauchen, denn der Chénier und die Tosca wären sich thematisch zu ähnlich, um vom selben Komponisten vertont zu werden. Franchetti bemüht sich dennoch weiter, und es hält sich das Gerücht, die ersten Takte der Tosca, wie wir sie heute kennen, habe Franchetti komponiert und sie dann Puccini geschenkt. Völlig ausgeschlossen ist das nicht, aber wohl auch ebenso unwahrscheinlich wie unbeweisbar. (Derlei Geschenke unter befreundeten Komponisten kamen allerdings vor. So entstammt zum Beispiel die Melodie zu Leoncavallos Ridi Pagliaccio mit einiger Sicherheit der leider verschollenen Oper Lionella von Spiros Samara. Manche dieser sogenannten Geschenke waren natürlich nichts anderes als Raubzüge, die hinterher vom Bestohlenen zähneknirschend geduldet wurden. Einerlei.) Was wir wissen ist: Ziemlich genau drei Monate arbeitet Franchetti an dem Stoff. Dann gibt er auf. Einfach so. Illica fühlt sich vor den Kopf gestoßen und kündigt dem jungen Baron die Freundschaft. Alberto an Raimondo Franchetti (von Mailand nach Canedole, 20. April 1895):

Wie ich Dir bereits geschrieben habe, habe ich die Tosca aufgegeben und möchte stattdessen lieber die Maria Egiziaca vertonen. Aber diese ist momentan noch nicht in einem vertonbaren Zustand […] 

Aus einem weiteren Brief wird deutlich, dass die Zweifel an der Tosca vielleicht nicht zuerst Alberto kamen, sondern seinem Vater. 

Alberto Franchetti an Raimondo Franchetti (von Mailand nach Canedole, 18. Mai 1895):

Mein lieber Papa,

[…] Ich habe noch nicht wieder mit der Arbeit angefangen, da ich noch kein Libretto gefunden habe, das mir gefällt, die Tosca hingegen – wie Du ganz richtig gesagt hast – ist zu dramatisch und zu wenig melodramatisch für mich. […]

In der englischsprachigen Literatur zum Thema wird stur der Mythos gepflegt, es habe eine Verschwörung stattgefunden: Franchetti sei der Stoff von Ricordi und Puccini so lange schlechtgeredet worden, bis er ihn entmutigt fallen gelassen habe. Das ist alles Quatsch: Franchetti kommt mit der Tosca nicht zurande, verzichtet und gibt die Rechte zurück. Ein recht leidenschaftsloser Vorgang. Viele Jahre später, in einem Brief an Illica, gibt er zu; Alberto Franchetti an Luigi Illica, 1916:

Ich befinde mich heute in derselben Lage, wie damals, als ich die Tosca machen sollte. Du erinnerst Dich, wie Du sie Verdi vorgelesen hast, und wie enthusiastisch er reagiert hat? Ja, schön, und auch ich war mir damals des theatralen Effekts und des Erfolgs des Librettos sicher – und dennoch musste ich darauf verzichten, denn ich habe die Musik dazu einfach nicht gehört. 


Zum Glück gezwungen

Puccini ist zu diesem Zeitpunkt keineswegs wild darauf, diesen Stoff zu vertonen. Erst eine weitere Fassung Illicas, die er weit besser findet als das Originaldrama Sardous, überzeugt ihn schließlich. Er akzeptiert die frei gewordene Tosca als sein nächstes Projekt, und obwohl daraus eine seiner besten und erfolgreichsten Opern entsteht, wird sie ihm nie so recht ans Herz wachsen. Das mag damit zusammenhängen, dass er einen Stoff komponiert hat, den Franchetti ihm überlassen, den er nicht selbst für sich gefunden hat, der nichts mit ihm selbst zu tun hat; er kommt sich als Zweitverwerter einer zweifelhaften Sache vor. Als habe er ein gefundenes Fressen vertilgt, an dem etwas nicht stimmen kann. Franchetti wiederum bleibt der Premiere fern, kann es nicht ertragen, jene Musik zu hören, die ihm partout nicht einfallen wollte. (Wenn eine Quelle behauptet, er sei doch vor Ort gewesen und habe gar, zusammen mit Mascagni und Giordano, »Störaktionen« geplant, so verdankt sich dieser Unsinn vielleicht dem Faktum, dass ein Zuhörer vor dem Beginn der Oper mehrmals »Viva Mascagni!« gerufen hat. Franchetti, Mascagni und Puccini waren zwar Rivalen, aber, zumindest an der Oberfläche, freundschaftlich verbunden.)

Als Ort der Tosca-Uraufführung wird Rom gewählt. Puccini hat offenbar immer noch vor der Mailänder Scala Angst, in der sein Edgar durchgefallen war. Turin und Neapel kommen für ihn auch nicht infrage, nach den dort gemachten negativen Erfahrungen mit der Bohème und den Villi. Viele Häuser ersten Ranges bleiben gar nicht mehr übrig. Und da die Tosca auch noch in Rom selbst spielt, leuchtet die Wahl durchaus ein. Puccini muss am Abend der Premiere eine Achterbahn der Gefühle durchleben. Das Opernhaus ist natürlich ausverkauft, was aber viele nicht akzeptieren wollen. Sie überrennen das hilflose Personal und setzen sich auf den Boden, quetschen sich in jeden freien Winkel. Eigentlich müsste die Vorstellung abgebrochen werden, und tatsächlich klopft der Dirigent Leopoldo Mugnone nach der ersten Arie des Cavaradossi ab; die immer weiter einströmenden Massen verursachen zu viel Lärm. Die Leitung des Hauses erwägt, den Saal zu räumen, denn es ist kurz vor Beginn eine Bombendrohung eingegangen, und das Publikum besteht nicht nur aus der anonymen Masse, sondern auch aus Mitgliedern des Königshauses – allen voran der Königin selbst – und der hohen Politik. An Komponisten mangelt es auch nicht: Mascagni, Cilea, Marchetti und Siegfried Wagner sind anwesend.

Man fürchtet ein Fanal der in jener Zeit sehr umtriebigen Anarchisten. Es wird nie zu beweisen sein, dennoch ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass die Bombendrohung weniger politischen als kindischen Motiven entsprungen ist und von einem Mitarbeiter des mit Ricordi konkurrierenden Sonzogno-Verlags lanciert wurde, um die Künstler, die schon während der Probenzeit anonyme Drohbriefe erhalten haben, nervös zu machen. Leopoldo Mugnone setzt sich schließlich gegen alle Bedenkenträger durch, weil bei einem Abbruch des Spektakels ein Aufstand zu befürchten wäre, gegen den eine Bombe noch relativ hinnehmbar scheint. Das ist als heroisch zu bewerten, denn ausgerechnet Mugnone hatte einmal die sehr seltene Erfahrung gemacht, ein Bombenattentat in der Oper von Barcelona mitzuerleben, bei dem es mehrere Tote gab.

Das Publikum zeigt sich dankbar, erzwingt die Wiederholung beinahe jeder Arie. Gegen alle Vorzeichen gerät die Uraufführung zu einem eindeutigen Erfolg, und es scheint sogar, als wären die Beteiligten durch ihre heroische Entscheidung, jene Bombendrohung zu ignorieren, nur zu noch größeren Leistungen angestachelt worden. Sie singen buchstäblich um ihr Leben. Die Presse nimmt das Werk nicht so vorbehaltlos an, vor allem die Folterszene liegt vielen Kritikern schwer im Magen – für Puccini aber dürfte etwas anderes wichtiger gewesen sein: Siegfried Wagner nennt die Oper am nächsten Tag einen »nie versiegenden Fluss von Melodie«. Für Puccini, der Richard Wagner wie einen Gott verehrt, ist dieser Ausspruch eine Art Ritterschlag und eine wichtige Empfehlung für den deutschen Markt. Tosca wird der dritte Welterfolg Puccinis in Folge.

Franchetti wird erst drei Jahre später noch einmal gleichziehen können, mit einem ähnlichen Triumph seiner großartigen (in Berlin 2006 wiederaufgeführten) Oper Germania an der Mailänder Scala. Auf Dauer hat er gegen das überragende Genie Puccinis keine Chance. Dennoch war er, nicht etwa Leoncavallo oder Mascagni, Puccinis ernstzunehmender Rivale.  ¶


Baron Alberto Franchettis monumentaler Erstling Asrael ist auf Initiative der Freunde Franchettis aufgrund der erhalten gebliebenen Handschriften neu editiert worden, zukünftige Aufführungen sind geplant.


Infos zu Tosca

Tosca, sowohl in Sardous Schauspielfassung als auch Illicas Opernlibretto, ist ein Werk des Verismus; es handelt von realistischen Menschen vor einem historischen Hintergrund: Um 1800 ist Rom keine Tochterrepublik Frankreichs mehr und der ehemalige Konsul Angelotti ist ein flüchtiger politischer Gefangener. Er wird versteckt vom Maler Cavaradossi und dessen etwas eifersüchtiger Geliebten Tosca. Als sie vom Polizeichef Scarpia entdeckt werden, stirbt erst Angelotti und dann, weil Toscas doppelbödiger Handel mit Scarpia fürchterlich schiefgeht, auch Caravadossi und am Ende die Titelheldin selbst.


Aufnahmeempfehlung

Eine Aufnahme, die selbst schon Legende ist, ist die einer Aufführung vom August 1952 im Mailänder Teatro alla Scala mit Maria Callas, Giuseppe di Stefano und Tito Gobbi. Urprünglich bei der EMI erschienen, wird sie von allerlei Superlativen begleitet – die meistverkaufte, die beste Opernaufnahme aller Zeiten. Wenn man sich einmal an das Mono-Klangbild gewöhnt hat, wirkt sie geradezu dämonisch. Dirigent Victor de Sabatas galt als Pedant und schleifte jede Szene bis zur Perfektion; damals ließ sich bei Aufnahmen noch nicht alles kaschieren wie heute. Wir hören eine schmerzhaft glühende Maria Callas im Zenith ihrer Kunst, die Männerstimmen sind ausnahmslos gut besetzt. Die CD ist oft neu aufgelegt worden, empfehlenswert ist vor allem die von Mark Obert-Thorn restaurierte Fassung, die 2004 bei Naxos erschien. 

Hier – exklusiv für alle VAN-Leser:innen – drei Stücke daraus.