Titelbild Wikicommons (Public Domain)

Am Donnerstag, 26.1.2017, berichteten verschiedene Medien über einen Fall innerhalb des Leipziger Thomanerchors. Eltern hatten den Chat ihrer Kinder gelesen, stießen darin auf den mutmaßlichen sexuellen Kontakt zwischen einem »unter 14-Jährigen« und einem »unter 18-Jährigen« und den Konsum von Cannabis. Mehr ist nicht bekannt, vor allem die Bild-Zeitung skandalisierte andeutungsvoll. Unser Autor Mathias Monrad Møller, wie sein Freund Chris Herzog ehemals Mitglied der Thomaner, schreibt: »Chris und ich hatten in letzter Zeit ohnehin öfter die gemeinsame Chorzeit reflektiert. Also gab es auch eine Chat-Unterhaltung zum ›Skandal‹, was ganz gut passt, da dieser auch in diesem Medium ans Licht kam. Uns ist es wichtig, hervorzuheben, dass die Zeit im Thomanerchor für uns weitaus überwiegend von positiven Erfahrungen geprägt war – auch wenn der Chat das vielleicht nicht immer so widerspiegelt, was sich aus der Themenvorgabe ergibt. Das Internat hat uns Freiräume geboten, die ein ›normales‹ schulisches Umfeld nicht hätte bieten können. Neben der außergewöhnlichen musikalischen Ausbildung und Praxis war es für uns auch ein Raum, der von verantwortungsbewusstem und solidarischem Umgang geprägt war. Unsere Erfahrungen decken sich nicht zwangsläufig mit denen anderer Thomaner und wir können nur über die Zeit bis zu unserem Abitur im Jahr 2007 sprechen.«

Über die mediale Berichterstattung

Mathias: Bild … Generell ist die Empörung anstößig. Überrascht mich nicht wirklich, ist aber aber trotzdem traurig.

Chris: Auch dass sie das als ›Drogenskandal‹ bezeichnen, dass sie ›Cannabis-Produkte‹ konsumieren?!

Chris Herzog • Foto privat
Chris Herzog • Foto privat

Mathias: Haha, haben wir ja auch gemacht.

Chris: Also Bild und MDR widersprechen sich ja erwartungsgemäß. Laut MDR ist ja noch nicht mal klar, ob es überhaupt körperlichen Kontakt gegeben hat, und die Bild befeuert die Fantasie der Leser damit, dass bei »Fummeleien« noch lange nicht Schluss gewesen sei. Der MDR stellt es etwas zurückhaltender dar als die anderen Medien, es wird in den anderen Artikeln nicht in Frage gestellt, dass es körperlichen Kontakt gab usw. In allen Zeitungen außer Bild (hier noch der Artikel in der LVZ) wird erwähnt, dass der Stadtsprecher die Gerüchte über eine Beteiligung der Erzieher dementiert hat. Und es gibt bei Bild noch einen impliziten Vertuschungsvorwurf: ›Merkwürdig: Herausgekommen ist das Ganze erst, als sich besorgte Eltern direkt an das Rathaus wandten – und nicht an die Chorleitung!‹

Mathias: Die »Bild« ist so eklig. Wie die schreiben. Es scheint irgendwie so eine Wiederholung vom zu sein.

MATHIAS MONRAD MØLLER • Foto privat
MATHIAS MONRAD MØLLER • Foto privat

Chris: Ja, so wie es aufgemacht wird schon, aber eigentlich weiß man ja nichts, außer dass Eltern die Telefone ihrer Kinder durchsucht haben und dabei auf eine ›engere Verbindung‹ eines ›Unter-18-jährigen‹ mit einem ›Unter-14-jährigen‹ gestoßen sind.

Mathias: Dennoch: Selbst wenn es Missbrauch gegeben hat, würde es mich nicht überraschen.

Chris: Mich auch nicht. Sie hätten den älteren ja wahrscheinlich auch nicht entlassen, wenn nichts wäre, oder?

Über dem Umgang mit dem Körper und Sexualitäten

Mathias: Worüber ich in letzter Zeit öfter nachgedacht hab: wie wenig eigentlich mit Körperlichkeit generell umgegangen wurde im Chor. Das war doch früher auch irgendwie immer dein Thema?

Chris: Dass ich das Gefühl habe/hatte, getrennter von meinem Körper zu sein als andere, bedingt durch die Internatserfahrung? Ja, da hab ich irgendwie länger nicht drüber nachgedacht, das ganz verdrängt.

Mathias: mir ist das auch jetzt erst wieder eingefallen, durch das Singen, durch das zunehmend professionelle Singen habe ich zwangsläufig einen anderen Bezug zu meinem Körper bekommen.

Chris: Mir ist das ja in meinen ersten Jahren in Gießen aufgegangen, mit all den Tänzern und Performern.

Mathias: Wenn ich so zurückdenke, dann war das Klima im Chor in der Hinsicht irgendwie eher eines, in dem so intellektuelle Tugenden hochgehalten wurden, wobei sich das ja auch gar nicht ausschließen muss, aber war ja regelrecht körperfeindlich, auch sich selbst gegenüber. Es ging bei ihm auch immer mit so einer ›Sport ist Mord/Musik ist alles‹-Attitüde einher.

Chris: Aber es waren ja nicht alle sportfeindlich

Mathias: Nein das stimmt. Zum Beispiel hat der Fußball dann so eine Art Machismo befeuert. Ich meine, wir wurden ja auch ›gemobbt‹ für unser Aussehen.

Chris: Obwohl wir ja jetzt nicht superfett waren.

Mathias: Da wurde in Bezug auf Sport dann so eine kumpelhafte Maskulinität gefeiert, mit der ich damals schon nichts anfangen konnte.

Chris: Ja, das ist irgendwie das körperliche Gegenstück zum Schöngeistigen, geradezu elitären Gemeinschafts- oder Chorgeist/Korpsgeist.

Mathias: In der Sporthalle stand doch sogar ›Mens sana in corpore sano‹. Also ich weiß nicht, ob ›Feindlichkeit‹ in Bezug auf den Körper es wirklich trifft.

Chris: Ignoranz …

Mathias: Oder ›Ungeklärtheit‹ im Sinne von nicht klar, trüb. Eine Atmosphäre in der Dinge unausgesprochen bleiben, und das betrifft vor allem natürlich auch Sexualität.

Chris: Verdrängt?

Mathias: Ja, ignoriert-verdrängt-unausgesprochen-verdeckt.

Chris: Aber ist das nicht so ein normales Pubertätsphänomen? Eine komische Beziehung zum unbekannten, sich verändernden Körper?

Mathias: Aber vielleicht haben nur wir das so empfunden? Als Schwule?

Chris: Aber du meintest doch letztens, dass sich das nicht nur auf Homosexualität bezieht, sondern auf Sexualität im Allgemeinen – und da fallen mir auch Leute ein, die mit einem größeren Knacks weggekommen sind als ich. Und dass sich das Begehren in dieser Handlung äußert, ist ja erstmal Ausdruck dafür, dass das leichter zu haben ist als etwas anderes, vielleicht?

Mathias: Ja, sicher, das wäre dann situative Homosexualität … ich hab ja manchmal die vielleicht etwas überhebliche Idee, dass meine Sexualität mich vor vielen Dingen gerettet hat. Also einfach, weil auch gerade im Chor Sexualität für mich als etwas problematisiertes erschien.

Chris: Wie?

Mathias: Na ja, manche Hetero-Thomasser haben vielleicht diesen verklemmten Umgang mit Mädchen gehabt und das als normal angenommen und später nie problematisiert. Für dich und mich war Sexualität dagegen eh problematisch, und wir mussten irgendwie alleine einen Weg finden. Also ich fand: Homosexualität war damals nicht einmal eine Möglichkeit. Und Heterosexualität war möglich, aber nur so als etwas, das verschämt am Rand stattfinden konnte.

Chris: Naja, es gab schon auch Prahlerei. Und Homosexualität war für uns keine Möglichkeit in dem System, aber außerhalb war sie ja möglich. Und auch ideologisch mit dem SPD-nahen Hintergrund nicht verfemt.

Mathias: Aber einen offenen Umgang gab es damit trotzdem nicht.

Chris: Also ich erinnere mich noch, dass unsere Deutschlehrerin in Bezug auf Homosexualität irgendwann so privat meinte, sie habe lange darüber nachgedacht und dann befunden, jeder könne machen was er will und das fand zumindest ich sehr albern, dass man darüber überhaupt nachdenken muss.

Mathias: Ja klar, darüber haben wir uns lustig gemacht, aber geoutet haben wir uns trotzdem nicht, das hätte in diesem männerbündischen System einfach total den Rahmen gesprengt.

Chris: Ja genau; Männerchöre, Jargon, elitäres Traditionsbewusstsein (›seit 1212‹, ›wir sind nüscht besonderes, aber wir tun etwas bedeutendes‹), ›Zucht und Ordnung‹… Also auch da wieder eine Trennung von Schöngeistigem und Körper, Allgemeinem und Konkretem?

Mathias: Scheinbar hatten wir die verinnerlicht… hat auch lange gedauert, das loszuwerden.

Die Möglichkeit von Missbrauch

Mathias: Aber das Problem bleibt doch: Wenn Missbrauch passiert, hat das Erziehungssystem oder -konzept versagt.

Chris: Vielleicht ist das Urteil auch etwas hart angesichts der nebulösen Informationslage.

Mathias: Ja ok, es wäre aber auch nicht das erste Mal und wir sind ja auch nicht wirklich erstaunt.

Chris: Ja, das ist möglich, aber es gab Gerüchte auch zu unserer Zeit, über ähnliche Alterskonstellationen (›unter 14‹ kann ja auch ›13‹ heißen, und ›unter 18‹: ›15-17‹), bei denen man nicht das Gefühl hatte, diese ›engere Verbindung‹ – selbst wenn sie körperlicher Natur gewesen wäre – wäre ein ›Missbrauch‹ im engeren Sinne gewesen.

Mathias: Ja, aber da ist auch eine große Verharmlosungsgefahr.

Chris: Ich weiß. Gerade in diesen Machtstrukturen ist ein gleichberechtigter Konsens kaum möglich, und damit ist es auch nicht vergleichbar mit anderen Beziehungen außerhalb.

Mathias: Abgesehen davon, dass eine offene Beziehung unter Thomanern eh nicht möglich gewesen wäre, jedenfalls zu unserer Zeit.

Chris: War dann das generelle Sexverbot, was damals ausgesprochen wurde, die richtige und logische Konsequenz?

Mathias: Gab es das?

Chris: Ich kann mich daran erinnern, dass das irgendwann, ich glaube beim Mittagessen, offiziell von einem der Chorleiter verkündet wurde … damals fand ich es aber eher lächerlich, weil es sowieso für mich bestanden hat. Zumindest war es eine Unmöglichkeit, Sex zu haben im Internat.

Mathias: Ist aber natürlich ein schmaler Grat für die Erzieher. Kann man es explizit erlauben? Naja ok, vielleicht könnte man sagen: alles Einvernehmliche ist erlaubt, aber das ist eben auch nicht einfach. Vor allem wenn 10-Jährige mit 18-Jährigen zusammenleben, da ist eben immer dieses Machtgefälle.

Autor Mathias Monrad Møller singt ab 2:52 ein kleines Solo im Knabenalt: Schreck, Gustav, _Der Herr ist mein Hirte_ Psalm 23, Op. 42; Georg Christoph Biller & Thomanerchor Leipzig; aus dem Album: _Die Thomaner im 19. Jahrhundert_

Chris: Ja, natürlich, aber da gibt es ja eine klare Gesetzgebung dazu, mit Schutzalter usw. In dieser Hinsicht handelt es sich auf jeden Fall um Missbrauch, wenn ein Über-14-Jähriger etwas mit einem Unter-14-Jährigen hat. Zumindest zu unserer Zeit wäre aber eine ›Erlaubnis‹ unvorstellbar gewesen. Es erscheint mir wahrscheinlicher, dass sie Mädchen aufgenommen oder den Chor geschlossen hätten.

Mathias: … als dass zwei Thomasser ein Paar geworden wären? Ja, denke ich auch. Und ich würde gerne wissen, ob sich in der Hinsicht mittlerweile was getan hat.

Chris:

Mathias: Apropos: Ich bin total dafür, dass man auch Mädchen zulässt!

Chris: Ja, es spricht wenig dagegen.

Mathias: Nichts!

Chris: Damals war ja der einzige halbprivate Raum der eigene Schrank und temporär das Klo.

Mathias: Ja, das Gebäude wurde ja gerade in Bezug darauf umgebaut, Übergriffe zu verhindern, oder? Der Schrank war damals wie ein eigenes Zimmer, eigentlich. Auf eine Art erschreckend. Aber ich muss auch sagen, dass ich es wirklich geliebt habe, im zu wohnen.

Chris: Ja! Aber dadurch, dass alles öffentlich verrichtet wurde, gab es die zumindest potentielle Möglichkeit der totalen Überwachung. So wie im Panoptikum.

Chris: Ich kenne die jetzigen Verhältnisse nur unzureichend, aber dieser Rückzug ins Private, in quasi bürgerlich-kleinfamiliäre Strukturen, ermöglicht (Macht-)Missbrauch möglicherweise noch stärker.

Mathias: Das Problem zu unserer Zeit war doch schon auch einfach, dass die Verantwortung altersmäßig verteilt war, dadurch war ja Machtmissbrauch eigentlich im System verankert.

Chris: Ja, zumindest die ›Strafgewalt‹, die die Älteren innehatten, wurde ja kurz nach uns aufgehoben.

Mathias: Obwohl wir das System damals so krass verteidigt haben …

Chris: Also die Stuben sind ja immer noch altersmäßig durchmischt. Und bei vier Erzieher/innen auf 94 Jungs muss ja noch ein bisschen Verantwortung bei den Älteren liegen.

Mathias: Die sollen ja verantwortungsbewusst werden. Aber Erziehungsgewalt sollte man nicht unbedingt 16-jährigen überlassen.

Chris: Die Älteren sind auch in einer weniger hierarchischen Struktur in einer machtvolleren Position als die Jüngeren.

Mathias: Alleine körperlich.

Chris: Also diese hierarchische Anordnung schafft Gelegenheiten für Missbrauch und das lässt sich nicht durch Überwachung vermeiden. Und das ist auch sehr allgemeines Phänomen, ein Klischee von Internaten, siehe Die Verwirrungen des Zöglings Törleß von Musil.

Mathias: Ich glaube nicht, dass man notwendigerweise das Internat abschaffen muss, aber man müsste irgendwie mehr Gelassenheit reinbringen, Ruhe und Raum. Und ich bin total dafür, dass man auch Mädchen zulässt!

Chris: Ja, es spricht wenig dagegen.

Mathias: Nichts! ¶