Vitali Alekseenok lebt normalerweise in Weimar und München und dirigiert Klangkörper wie das MDR Sinfonieorchester, die Lucerne Festival Strings, die Staatskapelle Weimar, die Karlsbader Symphoniker und die Philharmonischen Orchester Jena, Gotha und Lviv. Den August verbringt er in Belarus, wo er 1991 geboren ist, um an den Wahlen teilzunehmen und die Proteste zu unterstützen. Für VAN schildert er seine Eindrücke aus Minsk.
Ich schreibe diese Zeilen in einem angesagten Café im Zentrum von Minsk. Heute ist es hier eher leer, außerdem schließt das Café im Moment jeden Tag um 18:00 Uhr statt, wie sonst, um 22:00 Uhr. In letzter Zeit war hier in der Umgebung in den Abendstunden oft Chaos ausgebrochen, man wollte damit keine Probleme bekommen. Jetzt, nach den Wahlen und drei schrecklichen Abenden, sind die Proteste der Zivilbevölkerung »hell« geworden, sie beginnen früh morgens und dauern den ganzen Tag. Unzählige Menschen sind auf den Straßen, weiß gekleidet, mit weiß-rot-weißen Blumen und Plakaten. Fast alle Autos hupen ununterbrochen, tagelang. Stille ist ein schlechtes Zeichen, denn sie bedeutet Polizeigewalt in unmittelbarer Nähe.
Hier in Minsk erlebt man aktuell in ein paar Stunden so viel wie sonst in mehreren Monaten. Niemals in der modernen Geschichte war die Zivilbevölkerung in Belarus so solidarisch, gar liebevoll im Umgang miteinander. Blumengeschäfte senken die Preise, obwohl die Nachfrage explodiert, Taxifahrer:innen fahren die freigelassenen Demonstrierenden gratis vom Gefängnis nach Hause. Automechaniker:innen berechnen nichts, wenn sie Hupen reparieren – sie wollen, dass das akustische Symbol der Befreiung und Solidarität hörbar bleibt. Tausende von Freiwilligen in ganz Belarus engagieren sich auf alle denkbare Arten. Medizinische Zentren bieten kostenlose Hilfe an.
Den Wahlabend am 9. August habe ich mit meinen Freund:innen und Bekannten vor den Türen verschiedener Wahllokale in Minsk verbracht. Wir haben auf die Auszählungsprotokolle mit den Wahlergebnissen gewartet. Einige Wahlkommissionen zögerten stundenlang mit der Herausgabe der offiziellen Auszählung, in der Hoffnung, dass die Menschenmengen auf den Straßen müde werden und nach Hause gehen. Einige Kommissionen versuchten ungesehen zu entkommen. In den Nachrichten habe ich gehört und gelesen, dass manche Wahllokale schließlich die tatsächlichen Stimmzahlen herausgaben, ich persönlich habe das an jenem Wahlabend aber nicht erlebt. Spezielle Einsatzkommandos der Polizei kamen zu jedem Wahllokal, um die Protokolle und Kommissionen und deren Transport zu schützen. Allerorten skandierte die Menschenmenge »Schande« und »Protokoll«. Vor einem Wahllokal wurde sogar eine Straßensperre errichtet und der Weg erst freigegeben, als die Ergebnisse der Auszählung gezeigt wurden.
Wir waren in der Nähe der Akademie der Wissenschaften (Akademia Navuk) – einer der Vorsitzenden einer Wahlkommission, die sich weigerte, die Wahlergebnisse zu zeigen, ist übrigens ein renommierter Doktor für Physik dieser Akademie. Von der Akademie ist es weit bis zum Schauplatz der Protestdemonstration am Minsker Heldenstadt-Obelisk und sowohl die U-Bahn als auch die Hauptstraßen, die dorthin führen, wurden von der Regierung gesperrt. Das ganze Land hatte seit Mittag keinen Zugang mehr zum Internet – diese Blockade sollte für drei Tage andauern. Die meisten führenden Köpfe der Protestbewegung waren da bereits inhaftiert oder im Ausland. Die Regierung erhoffte sich, durch die Internet-Sperre auch die letzten wirkmächtigen Stimmen, die kritischen Medien und Blogger:innen, zum Schweigen zu bringen. Wir befanden uns in einer Informationswüste, wir wussten nicht, wie viele Protestierende es bis zum vereinbarten Versammlungsort geschafft hatten, wo die anderen blieben, was mit allen Beteiligten passierte. Erst später erfuhren wir durch Telefonate und Nachrichten im immer wieder für wenige Sekunden funktionierenden Internet, wie heftig und aggressiv die Protestbewegung unterdrückt worden war.
Den ganzen nächsten Tag, den 10. August, habe ich im Zentrum von Minsk verbracht. Besonders merkwürdig war für mich die Tatsache, dass die Menschen hier nach einer so gewalttätigen Nacht ganz normal zur Arbeit gingen und die Grausamkeit scheinbar keine Spuren hinterlassen hatte. Erst abends begannen die Proteste wieder – und diese Nacht wurde noch schrecklicher. Ein paar befreundete Komponist:innen und ich wollten zum Versammlungsort gehen, was abermals nicht möglich war – das ganze Zentrum war gesperrt. Die U-Bahn fuhr wieder fünf Stationen einfach durch ohne anzuhalten. Allerdings waren wir diesmal dem Zentrum ziemlich nah, so erlebten wir ganz unmittelbar die Brutalität der Einsatzkommandos der Polizei. Wie eine bis dato unbekannte Macht, ganz in schwarz gekleidet, mit Sturmhauben und in dunklen Autos ohne Kennzeichen fuhren die Polizisten durch die Stadt, packten scheinbar zufällig Passanten (meist kräftige Männer) und zogen sie ins Auto. Wir entgingen dem nur knapp: Drei Männer, die an uns vorbeiliefen, wurden direkt hinter unseren Rücken, ein bis zwei Meter von uns entfernt, ergriffen. Wir wurden nicht festgenommen, wahrscheinlich, weil in unserer Gruppe auch Frauen waren. Ich persönlich habe mir während der wenigen Sekunden so viele Gedanken gemacht – was ist eigentlich passiert? So sehen diese Banditen also aus? Sollen wir helfen und diese Verbrecher einfach schlagen und dafür eventuell verhaftet werden wegen eines »Angriffs auf die Polizei«? Was bleibt uns sonst, wegrennen? Und so sind wir gelaufen, langsam, widerwillig, denn wir haben ja nichts getan, warum sollen wir dann fliehen? Aber so ist leider die belarusische Realität: Du kannst nichts beweisen, du bist von vornherein schuldig. Ich kenne unzählige Fälle, bei denen auf offener Straße Menschen festgenommen wurden, denen dann später vor Gericht Schimpfen, aggressives Benehmen und Trunkenheit vorgeworfen wurden. An diesem 10. August war es sehr belastend, den Festgenommenen nicht helfen zu können, um selber frei zu bleiben und weiter einen Beitrag leisten zu können.
Den ganzen Abend verbrachten wir bei Freund:innen, die mit uns ihren Internetanschluss und eine Antiblockierungsapp teilten, in der unmittelbaren Nähe eines der Epizentren des Abends, der U-Bahn Station »Puschkinskaya«. Wir hörten Explosionen von Lichtgranaten und Schüsse nicht weit entfernt und lasen die schrecklichen Nachrichten, lasen und lasen bis drei Uhr nachts. Seit 35 Stunden hatte ich zum ersten Mal eine Internetverbindung, sodass ich meinen Freund:innen und Bekannten weltweit mitteilen konnte, dass ich noch lebe und nicht festgenommen bin.
In diesen drei Tagen, vom 9. bis zum 11. August, funktionierte die Kommunikation zwischen den Menschen innerhalb Belarus und im Ausland ausschließlich über Anrufe und SMS. Wir alle haben ein paar wichtige Telefonnummern auswendig gelernt, falls uns unsere Handys weggenommen werden sollten. Da SMS manchmal später ankamen, habe ich immer die Uhrzeit des Absendens mit in die Nachrichten geschrieben. In den drei Tagen sind wir in einer Zeitmaschine 20 Jahre zurück gereist, zu den Kommunikationswegen am Anfang der 2000er.
Am Mittwoch früh, nach drei sehr heftigen Abenden, kam endlich eine Veränderung, auf die ich schon lange gewartet hatte – die Proteste wurden »hell«, sie starteten jetzt morgens früh und in weißen Farben. Da die meisten an den Demonstrationen beteiligten Männer bereits im Gefängnis saßen, hatten die Proteste nun ein weibliches Gesicht: Frauen, in weiß gekleidet, mit Blumen in den Händen demonstrierten in der ganzen Stadt. Selbst die Polizei wagt es in Belarus nicht immer, Gewalt gegen Frauen anzuwenden und so begann eine friedliche Protestwelle, die jeden Tag nur noch stärker wurde.
In den letzten Tagen haben wir in Belarus eine sehr breite Emotionspalette erlebt: Empörung, Hass, Angst, Hoffnung und Euphorie. Die ersten drei Tage nach den Wahlen, an denen abends praktisch bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, wachte ich immer mit einem merkwürdigen Gefühl zwischen Verzweiflung und Entschlossenheit auf und fragte mich: Warum gehen die Menschen zur Arbeit, als ob nichts passiert wäre? Was wird heute Abend geschehen? Was kann ich persönlich tun? Seit den »Tageslichtprotesten« ist die Stimmung eine ganz andere, hoffnungsvoll und optimistisch. Die zahlreichen Streiks in Fabriken in ganz Belarus gaben uns unfassbar viel Unterstützung, wir wussten: Nun sind alle soziale Schichte auf unserer Seite. Ich bedauerte seitdem vor allem Eines: dass ich irgendwann schlafen muss.
Seitdem passiert etwas Unglaubliches – das ganze Volk wird durch die Hoffnung und Suche nach Freiheit auf eine friedliche und liebevolle Art vereint. Unbekannte Menschen grüßen und umarmen sich auf den Straßen und fast alle drücken nun ihre Haltung auf eine klare, oft auch sehr kreative Art aus.
Der Polizeigewalt haben wir unter anderem Kunstaktionen entgegengesetzt. An nur einem einzigen Tag erlebten wir zum Beispiel vier Performances von Musiker:innen aus der ganzen Stadt: neben der Philharmonie, neben der Musikakademie, beim Opernhaus und als Spaziergang mit Gesang im Stadtzentrum. Das Repertoire reichte von belarusischen Volksliedern bis zu Va, pensiero. Ich habe nie so eine Version des Gefangenenchors erlebt: im freien, mit lautem Autohupen und einer Menge Nationalsymbolik – Risorgimento auf belarusische Art.
Fast alle Künstler:innen unterstützen die friedlichen Veränderungen. Selbst wenn die Institutionen es auf der offiziellen Ebene noch nicht wagen, sind deren Mitglieder längst dabei und äußern sich konsequent und hörbar. Es gibt natürlich auch einige, die sich, wie früher, für den Staat engagieren. Es sind aber wenige, meistens Pop-Musiker Lukaschenkas Geschmacks. Sie singen ihre Proregime-Lieder und versuchen damit, wenn nicht Popularität, dann wenigstens staatliche Loyalität und Geld zu bekommen.
Viele Künstler:innen bleiben bei politischen Entwicklungen oft im Abseits, das habe ich auch in Belarus erwartet. Außerdem werden sie hier stets eingeschüchtert. Momentan beobachten wir jedoch so viele Initiativen von Künstler:innen aller Sparten, dass ich jeden Tag staune, wie kreativ, vielseitig und stark die belarusische Kunstwelt ist.
Eines der jüngst entstandenen Projekte heißt Symphonie der Solidarität – eine Collage von musikalischen Klängen, die von Dutzenden unterschiedlichster Musiker:innen aufgenommen wurden, zusammen mit den Originalklängen der Autos, der Polizei und der Zivilbevölkerung während der Proteste. Bildende Künstler:innen haben bereits Ausstellungen mit Fotos von Opfern von Polizeigewalt organisiert, auch vor dem Zentralgebäude der Polizei. Kulturschaffende aus allen möglichen Bereichen haben Video-Statements veröffentlicht, unter dem Hashtag #KultProtest (Kulturprotest). Am Sonntag, den 17.8., hatte ich die große Ehre, eine Urauffühung der belarusischen Komponistin Olga Podgajskaja vor der Philharmonie zu dirigieren – eine Hymne der Solidarität, die Vertonung des Gedichts Auf dem Strand der Freiheit vom belarusischen Dichter Andrej Khadanovitch, welches dieser zwei Tage zuvor geschrieben hatte.
In der ganzen Zeit der Proteste haben Belarussen kein einziges Schaufenster zerstört, keine Gewalt initiiert. Menschen bringen für ihre Mitstreiter Wasser und Essen, warten bei Rot an der Ampel, skandieren »Aufräumen!«, wenn sie einen Versammlungsort verlassen. Noch nie habe ich das belarussische Volk als eine Gruppe so intelligenter, höflicher und hilfsbereiter Menschen erlebt. Selbst wenn der Wendepunkt noch nicht in den nächsten Tagen kommt, wird es nicht mehr lange dauern. Jeden Tag begegnen wir der menschlichen Würde, welche ich so intensiv noch nie erfahren habe. Jetzt brauchen wir eine Regierung, die unserer würdig ist. ¶