Seit den Anfängen der Musikwissenschaft als akademischer Disziplin im 19. Jahrhundert haben nur wenige Wissenschaftler_innen das Feld so nachhaltig beeinflusst wie Susan McClary. Sie ist vielleicht am besten bekannt für ihre zentrale Rolle in der »New Musicology«, der Bewegung der späten 1980er Jahre, die dafür kämpfte, soziale, politische und kulturelle Analysen in die Musikwissenschaft einzubinden. Und so ist sie sicherlich keine Unbekannte in Kritik und Kontroverse. Obwohl auch die Namen anderer Musikhistoriker_innen und – Theoretiker_innen eng mit der Bewegung verknüpft sind, ist es McClarys Buch Feminine Endings: Music, Gender, and Sexuality, das oft als bahnbrechender Text angesehen wird, der eine »disziplinäre Explosion« ausgelöst hat, wie McClary es selbst beschreibt. Seitdem hat sie die westliche Musik immer wieder aus verschiedenen Perspektiven kritisch hinterfragt, angefangen bei ihrer kontrovers aufgenommenen Behauptung über sexuelle Spannung in Beethovens Neunter bis hin zu Geschlechterdarstellungen in der Musik von Kaija Saariaho und Beyoncé. Heute ist das, was damals »New Musicology« war, einfach Musikwissenschaft. War es einst eine Disziplin, die innerhalb der Grenzen des Empirismus und des historischen Positivismus gefangen war, hat der Mainstream der Musikwissenschaft endlich – wenn auch nicht ohne Kontroversen – die kulturwissenschaftlichen Methoden integriert, die McClary und andere vor drei Jahrzehnten eingeführt hatten. Sie und ihre Kolleg_innen haben nicht nur einige der am meisten gelesenen und zitierten Texte auf diesem Gebiet geschrieben, sondern auch eine ganze Generation von Musikwissenschaftler_innen inspiriert, die die Musik in ihre jeweiligen politischen und sozialen Kontexte einordnen wollen. McClarys Arbeit hat für sich genommen einen wesentlichen Beitrag zur akademischen Auseinandersetzung mit Musik geleistet – sie hat jedoch auch einen tiefgreifenden Einfluss auf die musikalische Performance und Interpretation. McClary hat uns gezeigt, dass Musik tanzen kann, atmet, spricht und sich in unseren eigenen, subjektiven Realitäten bewegt; dass sie immer an ihre historischen Kontexte und die menschliche Erfahrung gebunden ist und war.

Susan McClary • Foto Via Case Western Reserve University, Department of Music
Susan McClary • Foto Via Case Western Reserve University, Department of Music

VAN: Sie haben einmal gesagt, dass ihr Vater Ihnen früher immer Aufnahmen von Werken des klassischen Kanons vorgespielt hat und dass sie jetzt sein ›Frankenstein‹ seien. Wie ist ihre Beziehung zum Kanon westlicher Musik, nachdem Sie ihn jahrelang kritischen Betrachtungen unterzogen haben?

Susan McClary: Für meinen Vater war klassische Musik eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Es gab nie eine Zeit, in der ich nicht alle Sinfonien von Brahms oder von Beethoven kannte oder alle Mozart-Opern – bei uns zuhause passierte das einfach so. Es war seine Art sicherzugehen, dass seine Kinder ein anderes Leben führen konnten als er selbst. Früher vermied ich populäre Musik, weil ich ein komisches Gefühl hatte, wenn ich sie hörte: Ich hatte Angst, dass alles, wofür wir gekämpft hatten, den Bach runtergehen könnte. Elvis tauchte auf, als ich elf Jahre alt war; die Beatles kamen, als ich im letzten Jahr der High-School war. Das hätte meine Musik sein sollen, aber sie war es nicht. Ich kannte nichts davon. Ich machte einfach weiter und marschierte durch die klassische Musik meiner Karriere entgegen. Ich war enorm dankbar und bin es immer noch, dass ich den Kanon kannte und kenne; es hat mir unwahrscheinlich geholfen, mich aber auch daran gehindert, Kontakt mit Studierenden aufzunehmen, die meinen Hintergrund nicht teilten. Erst als mein Vater starb, realisierte ich, wie lächerlich das alles war. Ich wusste, dass ich in einer Vorlesung im 21. Jahrhundert nicht so tun konnte, als fände die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts auf der klassischen Konzertbühne statt – das war nicht die Musik, die im 20. Jahrhundert wichtig war! Ich musste mich hinsetzen und Jazz und Rock pauken, so, als würde ich ein Seminar über die Motette des 13. Jahrhunderts geben – es war mir komplett fremd, aber in ethischer Hinsicht erschien es mir die einzige Möglichkeit. Nachdem ich angefangen hatte, Jazz und Rock zu unterrichten, merkte ich, dass die Beschäftigung mit zeitgenössischer Popmusik mir ganz neue Einsichten in die klassische Musik verschaffte, die ich anders nie bekommen hätte.

Haben Sie immer noch aktives Interesse am Kanon? Sind das Werke, die Sie immer noch hören?

(Lacht) Ich liebe den Kanon! Nächstes Jahr ist möglicherweise das letzte, in dem ich unterrichte und ich will es damit verbringen, den gesamten historischen Überblick zu vermitteln. Alles, was ich gerade unterrichte, ist meine Lieblingsmusik, ob das nun die Streichquartette von Beethoven sind, Mahler, oder die Analyse vortonalen Repertoires. Alle diese Dinge sind für mich immer noch extrem wichtig. Das ist eine Sache der Inklusion und nicht der Exklusion.

Seit Einstein on the Beach gebe ich auch Seminare zu Opern. Wir haben einige Zeit mit Du Yuns Oper Angel’s Bone verbracht und mit Missy Mazzolis Breaking the Waves. Das sind alles brandneue Werke. Sie müssen kontrovers sein; das müssen Werke sein, über die sich alle intelligenten Musiker_innen unterhalten und über die man nachdenken muss, das ist mir enorm wichtig. Diese Werke sind noch nicht kanonisch, aber ich hoffe, dass sie es bald sein werden. Ich habe das Gefühl, dass Musikwissenschaftler_innen immer noch von alten Sachen angezogen werden. Ich glaube fest daran, dass man die Leute für die Musik begeistern muss, die gerade im Moment passiert, ganz egal, ob das klassische Musik ist oder Popmusik.

Ihre Dissertation an der Harvard University behandelt Ideen, die Sie 40 Jahre später in Genderzusammenhängen neu betrachtet haben (Desire and Pleasure in Seventeenth-Century Music). Wussten Sie schon damals, in den 1970er Jahren, dass der Einbezug von Ideen der Gendertheorie in die Musik ihr zukünftiger Weg sein könnte?

Nein, überhaupt nicht. Aber ich wusste, als ich meine Dissertation schrieb, dass niemand außer mir diese Art von Fragen stellte. Meine grundlegende Frage an die Musik des 17. Jahrhunderts war: Wie funktioniert diese Musik? Wie geht man es an, die Erwartungen an und die Grundannahmen hinter einem ganzen Repertoire zu verstehen, das so weit von uns entfernt ist? Es funktioniert nicht so, wie Bach funktioniert – das bringt uns nicht weiter. Mein Projekt erschien vielen Leuten ziemlich verrückt. Und ich war damals schon verheiratet, also dachten alle, ich würde ohnehin bald von der Bildfläche verschwinden, das war, was damals alle von verheirateten Frauen erwarteten. Als ich an der University of Minnesota war, habe ich angefangen mit Leuten zusammenzuarbeiten, die sich für Kritische Theorie interessierten. Ich begann mich zu fragen, ob Gender in der Musik wohl eine Bedeutung habe. Ich brauchte nicht lange, um zu realisieren: Na klar! Das ist nicht zu übersehen. Man begann, mich zu feministischen Konferenzen einzuladen und meine Vorträge kamen gut bei Film- und Literaturwissenschaftler_innen an, doch niemand dachte, dass das irgendwie radikal war. Als ich dann Feminine Endings veröffentlichte, dachte ich: Naja, ich stelle bloß die Fragen, die in den Sozial- und Geisteswissenschaften alle schon lange stellen. Ich wollte nur verstehen, welche Rolle Musik an bestimmten Punkten in der Geschichte spielt und mich der Musik dabei so nähern, wie Literaturwissenschaftler_innen Theaterstücke oder Romane lesen – ich wollte darüber sprechen, wie Musik kulturell Sinn ergibt. Ich hatte aber falsch eingeschätzt, wie isoliert die Musikwissenschaft war. Von Gender einmal ganz abgesehen, gab es einfach extrem wenig Interpretationsarbeit. Der Feminismus ist nur eine der Perspektiven, die ich einführte, aber es ist mit Sicherheit diejenige, die die größte Aufmerksamkeit bekam.

Ja, es scheint ganz so, als ob die Musikwissenschaft eines der letzten Felder war, die sich dem Poststrukturalismus und der Kritischen Theorie verwehrt haben. Warum dauerte es insbesondere in der Musikwissenschaft so lange, bis die disziplinären Grenzen durchlässiger wurden?

Seit dem 19. Jahrhundert, angefangen mit Eduard Hanslick, existierte die Vorstellung, dass Musik nur mit Musik selbst zu tun hat, dass sie keine Verbindung zur Außenwelt hat. Diese Position entstand zum Teil dadurch, dass all diese utopischen Bewegungen in Europa, mit denen sich die frühromantischen Komponisten 1848 sehr intensiv beschäftigt hatten, zusammenbrachen, zu Staub und Asche zerfielen. Viele Musiker_innen und Künstler_innen flohen in die USA – einer der Gründe dafür, dass es dort auf einmal so viele Sinfonieorchester gab. Diejenigen, die blieben, fanden, dass es in ihrem Interesse war, gerade nicht das radikale Potenzial der Künste zu betonen, sondern so zu tun, als seien sie autonom. So viel von unserer Art Musik zu analysieren oder über sie zu sprechen ist in dieser Annahme begründet. Ich bin übrigens eine ziemlich gute Analytikerin – ich weiß, wie das Spiel funktioniert. Ich will Heinrich Schenker und all den anderen auch gar nicht abstreiten, dass sie ein außergewöhnliches, tiefes Verständnis der Musik hatten, nein, das hatten sie ganz sicher. Aber nur diese Methoden zu verwenden wäre das Äquivalent dazu, in einem Roman nur einzelne Sätze zu analysieren und die übergeordneten Ebenen komplett zu missachten, den Plot nicht zu verstehen, die Figuren und die kulturellen Spannungsverhältnisse. Am Anfang war die New Musicology – übrigens ein Begriff, der nicht von mir selbst stammt – damit beschäftigt, Musik und Geschichte zusammenzubringen; man wollte eine Brücke bauen, die uns helfen sollte, die Noten selbst in ihrem kulturellen Zusammenhang zu verstehen. Das war immer mein Hauptanliegen, eher noch als der Feminismus oder irgendetwas anderes: Wie kann man Musik als historischen Text behandeln, ihren Rang, ihre Ansichten und Gefühlsstrukturen zu verschiedenen Zeiten verstehen? Das war für die Autonomieideologie ein Schlag ins Gesicht. Es hat sehr lange gedauert, bis die Leute verstanden haben, dass man tatsächlich Analyse betreiben kann, man kann tiefer in musikalische Strukturen eindringen und in historischen und interpretativen Zusammenhängen über sie nachdenken.

Hat der Einbezug sozialer und politischer Sichtweisen auf die Musik Grenzen? Werden so am Ende vielleicht andere mögliche Sichtweisen und Interpretationen ausgeschlossen?

Ich denke nicht, dass meine Interpretation die eine Interpretation ist. Wenn es mehr Leute gäbe, die sich diesen Fragen widmeten, hätten wir mehr Debatten, mehr Perspektiven. Genau wie wir uns Hamlet anschauen und uns darüber unterhalten können, wie darin Fragen der Thronfolge behandelt werden; welche Rolle Gender spielt; was das Stück mit Metaphysik zu tun hat. Wir können uns über all diese Sachen unterhalten und Tausende haben dazu etwas geschrieben. Dasselbe gilt für die Musik: Zum Beispiel: Welche Art von Zeitlichkeit wird angenommen? Welche Art von Spannung und Entspannung erzeugt? Das sind alles kulturelle Fragen. Diese Herangehensweise reduziert die Musik nicht auf eine einzige Lesart, sie öffnet sie, so dass wir genauer hinhören können und darüber nachdenken können, was wir hören. Was ich in dieser Woche über Tristan und Isolde zu sagen habe, ist vielleicht in der nächsten wieder anders.

Die Idee der musikalischen Autonomie hat auch in den letzten Monaten ihre hässliche Fratze gezeigt. Wie kam es historisch zu dieser Idee und worin liegt das Potenzial für ihren Missbrauch?

Der ursprüngliche Grund, warum wir die Autonomie feierten, war, dass die Musik unabhängig wurde vom Mäzenatentum, Künstler_innen hatten die Freiheit zu tun, was sie selbst wollten, mit allen damir verbundenen Vor- und Nachteilen. Diese Autonomie können wir alle feiern, glaube ich. Ganz sicher wollen wir keine Leute in Machtpositionen, die ihren untergebenen Künstler_innen einflüstern, was sie zu tun haben. Das Ganze wird jedoch problematisch, wenn der Begriff Autonomie gebraucht wird, um so zu tun, als ob Musik einfach bloß Musik wäre, weil die Musik, die dann gemeint ist, natürlich nur die westliche, klassische Musik ist – die Musik zwischen Bach und, sagen wir, Brahms. Die Leute benutzen dann diese Musik, um die Überlegenheit der Europäer und der von ihnen abstammenden Völker zu beweisen, was den Rest der Welt und auch Minderheiten innerhalb der USA natürlich marginalisiert.

Das Chicago Symphony Orchestra und das Philadelphia Orchestra haben kürzlich – neben vielen anderen – ein Konzertprogramm für die nächste Saison 2018/19 veröffentlich, das Werke von Komponistinnen komplett ausschließt. Warum passiert das immer wieder?

Für eine lange Zeit haben Frauen einfach nicht die Ausbildung bekommen, die sie benötigt hätten. Man musste zunächst einmal in der Position sein, ein Instrument und musikalische Prozesse zu erlernen und zu verstehen, wie Musik funktioniert. Das geschah lange in einer Ausbildungssituation, von der Frauen fast immer ausgeschlossen waren. Es hat sehr lange gedauert, bis Frauen an Universitäten und Konservatorien Gleichberechtigung erlangten, das war erst vor sehr kurzer Zeit. Die sehr wenigen Frauen, die vorher in der Musik erfolgreich waren, schafften es, weil sie Nonnen waren, wie Hildegard von Bingen, oder weil sie mit männlichen Musikern verwandt waren, von denen sie ihre Ausbildung bekommen konnten, wie Barbara Strozzi oder Clara Schumann. Das ist anders als in der Literatur: Wenn man lesen und schreiben kann, kann man auch Romane schreiben, wenn man denn will. Mit Musik funktioniert das nicht. Man muss Teil eines Umfelds sein, in dem man Musik lernen kann und Frauen waren für sehr lange Zeit von solchen Orten ausgeschlossen.

Dann kommt noch die Tatsache hinzu, dass Opernhäuser und Sinfonieorchester zwar riesige, aber finanziell sehr fragile Unternehmen sind. Sie sind ausschließlich darauf aus, Tickets zu verkaufen. Im 19. Jahrhundert wurde Musik von Leuten gespielt, die zu der Zeit noch gelebt haben. Etwa um die Zeit von Beethovens Tod wurde der Kanon abgeschlossen. Nicht nur Frauen wurden nicht gespielt, sondern alle Komponisten, die danach kamen. Die Anzahl der zeitgenössischen Künstler, die gespielt werden – ob männlich oder weiblich – ist sehr gering. Das macht es für Frauen heute sehr viel schwieriger: Sie schlagen sich um die wenigen Plätze, die es gibt und um die sich auch die Männer schlagen, Plätze, die sie wahrscheinlich nicht bekommen werden.

Letzte Woche habe ich Mahlers Neunte gesehen. Tickets für Mahler werden vor allem an ältere Leute verkauft, die Sinfonien aus dem 19. Jahrhundert hören wollen. Also wird versucht, ein zeitgenössisches Werk auf das Programm zu schmuggeln. In diesem Fall kam Mahler an zweiter Stelle, also haben sich viele noch nicht einmal die Mühe gemacht, zum ersten Stück zu erscheinen. Manchmal wird dieser Platz beispielsweise von Saariaho eingenommen. Und die Leute denken: ›Oh, das muss ich mir nicht anhören – ich weiß noch nicht einmal, wer das ist. Ich bin hier um Mahler zu hören!‹

Das Ganze ist also nicht nur ein Genderproblem; es ist teilweise ein Genderproblem, aber es reicht viel tiefer. Die Institutionen müssen sich an ein sehr begrenztes Publikum wenden und sie müssen Risiken kalkulieren können. Sie nehmen das, was sich gut verkaufen lässt. Viele Frauen haben sich folglich nicht darum bemüht, Sinfonien zu schreiben, weil sie ohnehin wussten, dass sie nicht aufgeführt werden. Frauen waren zuletzt erfolgreicher im kammermusikalischen Bereich, oder in kleineren, experimentellen Opern, die gerade sehr spannend sind und in anderen Performance-Zusammenhängen. Das Gleiche passierte mit Leuten wie Pauline Oliveros und Laurie Anderson. Sie haben ihre eigenen Sachen gemacht und hatten ganz sicher nie im Sinn, für Sinfonieorchester zu schreiben. Es gibt einen Grund für den Rückgang der Sinfonieorchester in den USA. Das Sinfonieorchester ist ein Instrument des 19. Jahrhunderts, das die Musik des 19. Jahrhunderts spielt. Vielleicht gibt es in ein paar Jahren nur noch vier oder fünf Orchester in den USA. Ich höre die interessantesten Sachen an kleineren Veranstaltungsorten, wo experimentiert werden kann.

»Das war für die Autonomieideologie ein Schlag ins Gesicht.« Musikwissenschaftlerin Susan McClary über den kulturellen Sinn von Musik in @vanmusik.

Um einen kürzlich kreierten Begriff zu benutzen: Wir leben in einem ›musikalischen Multiversum‹. Wie können wir Musik im 21. Jahrhundert ästhetisch reflektieren, wenn musikalische ›Bewegungen‹ weniger durch ästhetische als vielmehr durch soziale und ökonomische Merkmale gekennzeichnet sind, etwa das Internet?

In den 1960er Jahren hat Leonard Meyer ein Buch geschrieben, das er Music, the Arts, and Ideas nannte. Es gibt einen Essay in diesem Buch, in dem er sagt, dass es keinen musikalischen Mainstream mehr geben wird. Wir haben so lange Musik danach klassifiziert, ob sie tonal ist oder seriell und er sah schon in den 1960ern, dass alle diese Begrifflichkeiten im Zerfall begriffen waren. Er hatte Recht. Ich sehe kein Problem darin – es wird nur ein Problem, wenn wir generalisieren. Ich bedauere die Abwesenheit eines Mainstreams nicht. Die Befreiung einzelner Diskurse und ihre Einbettung in alles, was derzeit passiert, ist großartig. Angel’s Bone zum Beispiel verbindet elektronische Musik und geistliche Musik des 16. Jahrhunderts; es gibt darin Sachen, die wie Du Yuns eigene Performancekunst klingen, es gibt Sachen, die von Ritualen aus Neuseeland beeinflusst sind und leider kenne ich die chinesische Musik zu wenig, um zu sagen, wann genau sie sich darauf bezieht, aber ich bin sicher, dass sie es manchmal tut. Das ist wahnsinnig aufregend! Daneben haben wir Thomas Adès’ Exterminating Angel und Kaija Saariaho, die Ezra Pounds Gedichte in ihrem Stück Only the Sound Remains verarbeitet. Wir haben wirklich außergewöhnliche Menschen, die derzeit Musik machen. Und alles gibt es auf YouTube. Ich kann irgendetwas hören, was mir gefällt und YouTube empfiehlt mir, was ich als nächstes hören kann. Das ist ein Grund, warum junge Leute keinen Bedarf mehr an Sinfonieorchestern haben – sie können einfach auf YouTube gehen und sich die besten Aufführungen, die es gibt, anschauen und sich danach alles anhören, was es sonst noch gibt. Wir leben in einer aufregenden Zeit! ¶