Nachdem in VAN #169 Esther Bishop im Interview einen »neuen Studienbegriff« forderte, Heinz Geuen in VAN #170 widersprach und darauf hinwies, dass gegenwärtig an den deutschen Musikhochschulen die richtigen Weichen gestellt werden, bekam die VAN-Redaktion eine Mail von Clemens K. Thomas, derzeit Student in Freiburg. Ihm juckt es in den Fingern, schrieb er. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich mit musikalischer Bildung im Hochschulkontext. Inzwischen ist er überzeugt: In den bestehenden Musikhochschulen kann es bestenfalls Reförmchen geben. Was es braucht, ist aber viel grundsätzlicher: eine neu zu gründende Reform-Musikhochschule. Klingt so sexy wie Reformhaus – und nachhaltig wäre es sicher auch…
Auftakt: ein Zugeständnis und ein Aber
So schlecht geht es uns eigentlich nicht. An 24 deutschen Musikhochschulen gibt es viele großartige und engagierte Lehrkräfte, eine gute Ausstattung, ein (fast überall) kostenloses Studium, reformbereite Hochschulleitungen… Qualität, Anspruch, Exzellenz – das ist das Selbstverständnis der deutschen Musikhochschulen. Es sollte also keinen Grund geben auch nur ansatzweise darüber nachzudenken noch eine Musikhochschule zu gründen. Ist doch alles da, ist doch alles gut. Eigentlich. Doch dann fällt mir dieser Satz ein, den Steven Walter, Gründer und Leiter des PODIUM-Festivals, ungefähr in diesem Wortlaut in einem Vortrag sagte: »Dass wir mit Musik kreativ umgehen und etwas Neues ausprobieren, ist nicht weil wir Musik studiert haben, sondern obwohl wir Musik studiert haben.« Oder ich stolpere irgendwo mal wieder über den Ausdruck »Hauptfach Tunnelblick«, mit dem Wendelin Bitzan 2015 im VAN-Magazin einen Artikel über die »Schieflage in der Musikausbildung« überschrieb. (In einem anderen Text beschreibt er, warum er es leid ist, als Lehrbeauftragter angestellt zu sein.) Und so folgt auf das Zugeständnis, dass es so schlecht doch nicht sei, das zu erwartende Aber…
In mir ist in den letzten Jahren dieses unspezifische Gefühl der Frustration gereift: Irgendwie passt das gegenwärtige Konzept von musikalischer Bildung im Hochschulkontext nicht zu mir. Oder ich passe nicht zu ihm. Also habe ich begonnen darüber nachzudenken, wie es anders sein könnte, passender – wohlwissend, dass es wahrscheinlich auch für viele Studierende und Lehrende genau so, wie es ist, gut funktioniert. Ich fordere daher nicht – wie das Boulez vor gut 50 Jahren mit den Opernhäusern vorhatte –, dass man alle Musikhochschulen in die Luft sprengen solle. Ich erlaube mir lediglich, auf einem noch unbeschriebenen Blatt Ideen zu skizzieren, wie eine alternative Musikhochschule der Zukunft aussehen könnte. Getrieben werde ich dabei von einer experimentellen Neugier und der Frage, wo ich selbst später gerne als Mensch, als Künstler, als Lehrender und Lernender tätig wäre.
Über das Lernen
Wenn ich mich frage, welches Bild vom Lernen dem derzeitigen Studium an einer Musikhochschule zugrunde liegt, ist mein Ergebnis eher ernüchternd:
- Die Lernenden wissen nicht, was sie interessiert oder welche Inhalte für sie wichtig sind. Ein Studienverlaufsplan (Curriculum) gibt ihnen Orientierung und nimmt ihnen die meisten Entscheidungen ab.
- Die Lernenden werden zu Studienbeginn als leeres Gefäß betrachtet, welches mit (für alle gleichen) Grundlagen und fachspezifischen Inhalten gefüllt wird. Dass die Lernenden etwas mitbringen, wird vor allem dann wahrgenommen, wenn es sich um Probleme handelt, die im Studienverlauf behoben werden sollen.
- Es besteht die Gefahr, dass die Lernenden unmotiviert oder faul sind. Um dem entgegenzuwirken, gibt es Prüfungen, die den Lernzuwachs kontrollieren sollen.
- Das Lernen findet in der Musikhochschule statt, unter Anleitung einer Lehrkraft. Projekte, die außerhalb stattfinden, sind zwar wichtig und werden wertgeschätzt, sind aber nur dann Teil des Studiums, wenn eine Lehrkraft sie begleitet hat.
Unterm Strich würde ich gegenwärtig bilanzieren: Im Mittelpunkt der Institution Musikhochschule steht nicht die Lernenden als Individuen. Überhaupt würde ich sagen, dass es nicht um den Mensch geht – sondern um die Sache: um das Verwalten des kulturellen Erbes oder um sachkundiges Kunsthandwerk.

Ich würde hingegen die Neukonzeption einer Musikhochschule aus Nutzer*innenperspektive angehen: Was sind das für Menschen, die dort studieren, arbeiten, musizieren, leben? Eine alternative Musikhochschule, die sich selbst nicht als Musiker*innen-Ausbildungsstätte, sondern als individuelle (Persönlichkeits-)Bildungsstätte sieht, toleriert Unterschiede nicht nur, sondern begünstigt sie durch ein individuelles Studium. Kurz gesagt: Individuum = Curriculum. Das heißt, dass es weder Pflichtveranstaltungen, noch zeitlich geregelte und fächergebundene Studienpläne braucht, sondern Bereiche, aus denen Studierende eigenverantwortlich nach Interesse wählen können. Scheine und Prüfungen zur Feststellungen des Lernerfolgs werden überflüssig, da freiwilliges, intrinsisch motiviertes Lernen langfristig immer und individuell erfolgreich ist.
(Das ist natürlich keine neue Idee. Sie wurde auch schon erfolgreich praktiziert, etwa am Blackmountain College in North Carolina, USA. An dieser alternativen Bildungsinstitution lehrten und lernten US-amerikanische Größen des 20. Jahrhunderts wie z. B. John Cage, Merce Cunningham, Richard Buckminster Fuller oder Robert Rauschenberg.)
Über das Ich im Wir, über die Struktur
Gegenwärtig bestehen die Curricula der künstlerischen Studiengänge aus einem zentralen Hauptfach und einigen Nebenfächern. Es ist wohl nicht vermessen zu sagen: Wichtigste Person ist die Hauptfach-Lehrkraft, die in starkem Maße mitverantwortlich ist, ob das Studium für die Studierenden zur Bereicherung oder zur Tortur wird.
In einem alternativen Musikhochschul-Konzept würde ich anstelle einer Hauptfachklasse, bestehend aus Professor*in und Studierenden des gleichen Fachs, heterogene Lerngemeinschaften setzen. Diese Lerngemeinschaft wären keine »Klasse«, in der alle – meistens alleine – der gleichen Tätigkeit nachgehen. Vielmehr würden alle gemeinsam, aber aus unterschiedlichen Blickwinkeln, an derselben Fragestellung arbeiten. Eine Lerngemeinschaft könnte ein Ensemble oder Orchester sein, genauso wie eine künstlerisch-wissenschaftliche Forscher*innengruppe, ein Education-Projekt – oder eine Gruppe von Pianist*innen, die ihre technischen Skills verbessern wollen.

»Lerngemeinschaft« heißt nicht, dass Musizierunterricht in Form von sogenanntem Einzelunterricht komplett verschwindet, sondern vielmehr: Jede*r kann innerhalb einer Lerngemeinschaft mehrere Rollen gleichzeitig einnehmen: lernend, lehrend, forschend, organisierend usw. Die Zusammensetzung der Lerngemeinschaften ist heterogen hinsichtlich Alter, Erfahrungs- und Wissensstand, Instrument bzw. Tätigkeit. Dadurch entstehen selbstverständlich Wissensvorsprünge Einzelner in einzelnen Gebieten. So entstehen gleichzeitig verschiedenen Lern-Lehrsituationen, die ineinandergreifen: von der autodidaktischen Bildung, über Einzelunterricht, Lernduos, Kleingruppen bis hin zur gesamten Lerngemeinschaft.
Die Lerngemeinschaften sind als selbstführende Teams organisiert, das heißt: in ihrem Handeln und ihrer Zielsetzung autonom. Die Lerngemeinschaften können sich selbstständig finden, erweitern, transformieren oder auflösen. Die Größe und die Dauer einer Lerngemeinschaft ist also nirgendwo festgeschrieben. Jedes Mitglied der Lerngemeinschaft ist autonomes Teilganzes und kann – in Einklang mit dem Sinn der Lerngemeinschaft – selbstständig nach seinen Bedürfnissen handeln; beispielsweise Lehrende suchen, auf andere Lernende zugehen um Kleingruppen zu bilden oder selbst Lehrerende*r werden. Wie bereits beschrieben, ist die Idee, dass jede*r zugleich mehrere Rollen haben kann.
(Auch die Selbstführung ist natürlich nicht meine eigene Erfindung, sondern wird in der Wirtschaft und im Sozial- und Bildungswesen bereits bei einigen Organisationen praktiziert. Frederic Laloux beschreibt dies eindrücklich in seinem Buch Reinventing Organizations – Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit.)
Diese Lerngemeinschaften sind auch für die Zusammensetzung ihrer selbst verantwortlich: In einem Auswahlprozess kann sich jede Lerngemeinschaft eigenständig vergrößern, wenn sie es für sinnvoll hält und die Bewerber*innen für geeignet empfindet. Über den Inhalt und die Dauer des Auswahlprozesses entscheidet die Lerngemeinschaft. Alle Mitglieder der Lerngemeinschaft sind als Teilganzes verantwortlich für eine zufriedenstellende Auswahl. Mit einem solchen Auswahlprozess würde die Lerngemeinschaft auch ihre Mentor*innen, Coaches oder Lehrenden aussuchen – wobei diese als gleichwertige Mitglieder der Lerngemeinschaft keine hierarchisch begründete Autorität hätten. Jede*r hat das Recht und die Pflicht, eventuelle Missstände aufzuzeigen und anzusprechen. Zusammengefasst kann man sagen: Weil die Lerngemeinschaft die zentrale Instanz ist und selbstführend agiert, ist sie für die Auswahl ihrer Mitglieder, für das Zusammengehörigkeitsgefühl, für die inhaltliche Ausrichtung und Zielsetzung, sowie für die Bewertungsprozesse zuständig.
Durch die selbstführende Organisationsstruktur bedarf es keiner Steuerung »von oben«, die Institution implementiert Veränderungen und dynamische Prozesse in ihr Selbstverständnis – anders gesagt: Die Zukunftsmusik-Hochschule wächst organisch und ist imstande, sich flexibel an sich ändernde Verhältnisse anzupassen. Da alles, wofür es ein Bedürfnis gibt, in die Lerngruppen integriert ist, braucht es fast keine »Hilfsfächer« oder Personen mit Unterstützer-Funktion. Im gegenwärtigen System erfüllen beispielsweise die (Neben-)Fächer Musikpädagogik, Musiktheorie, Gehörbildung, genauso wie Musikmanagement bloße Hilfs-Funktionen. Es ist natürlich denkbar, dass wenige Experten in diesen Gebieten weiterhin beratende Funktionen anbieten, auf die alle Lerngemeinschaften zurückgreifen können – wenn sie einen Bedarf daran feststellen.
Über Widersprüche und Kompromisse
Natürlich sind diese Gedanken bei Weitem nicht ausgereift, viele Dinge müsste man ausprobieren und was sich schließlich als praxistauglich heraustellen würde, steht in den Sternen. Trotzdem seien abschließend ein paar Schwierigkeiten oder Fragen angerissen:
Der Idee der Lerngemeinschaft liegt ein sehr euphemistischer Begriff des Kollektiven zugrunde. Wie viel Raum bleibt tatsächlich für die Entfaltung des Individuums im Kollektiv? Wie wird die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu einem Gewinn und einer zusätzlichen Motivation – und nicht zu einem Zwang? Kann die Gemeinschaft als solche zusammenhalten und trotzdem durchlässig nach außen sein?
Wie entsteht eine gesunde Balance von Spezialisierung und Interdisziplinarität, von In-die-Tiefe-Gehen und Über-den-Tellerrand-Schauen?
Wie gelingt es, ein reflektiertes Bewusstsein für musikalische Tradition mit einem Gegenwartsbezug zu verbinden? Im Optimalfall sind Bewahren und Erneuern zwei Seiten einer Medaille.
Manche im Lehrbetrieb Tätigen, mit denen ich meine Überlegungen bisher geteilt habe, fanden zwar die Aufwertung des Lernens begrüßenswert, hatten aber Angst, dass damit eine Abwertung der Lehre verbunden sei. Das ist keineswegs so gemeint: Eine alternative Musikhochschule aus Nutzer*innenperspektive zu denken, heißt natürlich: aus der Perspektive aller Nutzer*innen, also auch aus der Perspektive der dort Angestellten! Wenn es eine hierarchiefreie Bildungsstätte wäre, wie würde sich die Bezahlung gestalten? (In der Wirtschaft gibt es übrigens auch hierfür Beispiele, wie Gehaltsverhandlungen von selbstführenden Teams übernommen werden. Aber ließe sich das auf eine staatliche Bildungseinrichtung übertragen?)

In unserer alltäglichen Sprache reden wir (wie beispielsweise auch in der Sportförderung) von »Breite« und »Spitze« und meinen damit ein Pyramiden-Modell, in dem es unten eine »breite Masse« und oben eine »einsame Spitze« gibt. Das suggeriert, es gäbe bessere und schlechtere Leistungsträger*innen. Insgesamt ist messbare Leistung gerade eine hoch im Kurs stehende Währung. Herr Geuen schrieb: »Künstlerische Berufe sind hochgradig kompetitiv und müssen es auch sein!« Ich bin mir da nicht so sicher wie der Kölner Rektor. Ich hoffe vielmehr, dass das Pyramidenmodell langfristig ausgedient hat und an Stelle von »Leistung« vielmehr die individuellen Stärken des*r Einzelnen wertgeschätzt und befördert werden. (Ich sehe hier einen Zusammenhang mit einer spannenden und komplexen Frage, die weit über den Umfang eines VAN-Artikels hinausgeht: Ist die europäische Musik- und Kulturpraxis, die an den Musikhochschulen vor allem gepflegt wird, ohne Aristokratie überhaupt denkbar? Ist »Geschmack«, ist kompetentes Urteilsvermögen demokratisierbar?)
Last but not least: Eine alternative Musikhochschule befindet sich natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern in einem Gesamtzusammenhang von Schule, Musikschule bzw. Privatunterricht, Orchesterlandschaft, freier Szene, Hochschulpolitik, Wirtschaft, Musikmarkt und Konzertwesen, Musikjournalismus etc. Auf all diesen Ebenen muss sich also etwas ändern. Und es passiert ja auch schon hier und da eine Menge. Die Frage ist: Will ich zuschauen und mich beklagen – oder im Rahmen meiner Möglichkeiten gestalten? Ich halte es da mit Joseph Beuys:
La rivoluzione siamo Noi – Die Revolution sind Wir. ¶