Braucht es einen neuen Spirit für Einspielungen von Kunstmusik?

Text · Fotos Mathias Halvorsen · Datum 21.9.2016

Der digitale Musikkurator Henry stellt in dieser Woche – zu Beginn der zweiten Staffel – eine denkwürdige Aufnahme von Bachs Goldberg-Variationen vor, die in einem Krankenhaus in Oslo entstanden ist. Das Stück wird innerhalb der App (gibt es für Android und iOS) mit einem Podcast begleitet, für den Tobias Ruderer mit den beiden Protagonisten gesprochen hat. Hier schreibt er aus seiner Sicht über die Aufnahme im Kontext der Klassikkultur.

Die Schallplatte […] ist ein Dokument, aber eben nur ein historisches. Sie ist nichts musikalisch Eigentliches. Wenn man Geschichte liest, erlebt man zum Teil nach, was da war; aber man erlebt es natürlich nicht so wie diejenigen, die es direkt erlebt haben. […] Wer sich beim Rasieren eins pfeift, wer morgens sein ›Hänschen klein‹ singt, der hat viel mehr mit Musik zu tun als einer, der sich eine Beethovenplatte auflegt.

(Sergiu Celibidache zitiert nach Werner Unger)

Schwierig zu bestimmen, wann die Aufnahme ein Hauptgegenstand der klassischen Musikbetrachtung wurde, die CD ist die mächtigere Version des Mediums Schallplatte, der demokratisierte Konsum hat es gerne konsumiert. Außerdem ist in einer Zeit, in der es mehr klassische Konzerte an mehr Orten auf der Welt denn je gibt, die Dokumentationsfunktion nach wie vor wichtig. Wer heute eine neue Lesart einer romantischen Sinfonie entwickelt, will sie gerne möglichst bald auch global beachtet wissen. So entwickelt sich das Werk in der Reproduktion. (Und natürlich würde man wissenschaftliche Gegenargumente finden gegen Celibidaches Diktum – in der Hirnforschung zum Beispiel). Dass Dokumentation und Marketing nicht zu trennen sind, wusste schon Karajan, den die Einheit von Zeit und Raum wenig interessiert hat, wenn es um die Perfektion seiner Aufnahmen ging. Das ist auch der Unterschied zwischen Celibidaches und Karajans Aufnahmen. Beim einen hört man die Huster, beim anderen die Schnitte. Beide hatten, weil sie immer noch »richtige« Konzerte gaben, nicht denselben Aufruhr ausgelöst, den Glenn Gould mit seiner Absage an das Konzert und seiner Umarmung der technischen Reproduktions- und Montagemöglichkeiten auslöste.

Bereits die nicht der Satzfolge entsprechende Aufnahme der Einzeltakes oder ein Ausbesserungsschnitt bringt […] den Verzicht auf ein in seiner Zeitkontinuität ›intaktes‹ Urbild der Vermittlung mit sich. Vor dem Hintergrund einer behaupteten Abbildungsfunktion des Mediums und einer entsprechenden Ästhetik der Rezeption ist ein solches Verfahren eine Simulation im schlechten Sinn, es ist Lüge und Täuschung. Dem Rezipienten ist diese Täuschung so lange eine Marginalie, wie sich – etwa durch einen Rekurs auf Konzerte, Live-Präsentationen etcetera – eine kohärente Beziehung von Original und Medienabbild aufrechterhalten lässt. Goulds Vorgehen sprengt indessen auch diesen Rahmen, nicht nur durch seinen ab 1964 konsequent durchgehaltenen Abschied vom Konzertpodium, sondern gerade auch durch bewußte und gezielte Propagierung seiner Schnittpraxis bis hin zur Empfehlung an den Hörer, sich seine eigene Interpretation zusammenzuschneiden.

Rolf Großmann, Musik für Klavier und Medium – Glenn Gould

Eine Täuschung, die sich auf Hörer/innen-Seite wieder in Wahrheit verwandeln kann. Es gibt im Bereich der Recording-Industrie verschiedene Strategien, etwas Aura in die Aufnahme zu bringen. Das Original-Instrument, die altehrwürdige Kirche, auch die Aufnahme in einem Take wird – bei Sinfoniekonzerten etwa – hin und wieder als herausstellendes Merkmal vermarktet. Vor kurzem erschien ein »Konzept-Album« der australisch-taiwanesischen Pianistin Belle Chen. Die »Reise vorbei an Mittelmeerhäfen« entpuppt sich als Fototapete: Vor jedes Klavierstück werden ein paar Soundscapes gesetzt, sobald das Instrument einsetzt, sind sie weg. Barcelona Rhythms/Mompou, A Small Cafe in Nice/Poulenc, An Italian Wedding/Liszt, A Spice Market in Istanbul/Fazil Say: Das Beängstigende: Die Suggestion funktioniert, das Stück tritt aus der Leere hinaus, auch wenn es denn anderen Raum nicht gibt. Man hört anders rein. Vielleicht brauchen wir manchmal alle eine Fototapete.

Es gibt auch etwas avanciertere Ansätze, Rauheit und Atmosphäre in die Aufnahmen zu bekommen, einer davon ist das Chopin Project von Ólafur Arnalds und Alice Sarah Ott. Sie haben in Bars gespielt, den Raum mitgenommen, Gelächter, Stimmen. Durch die Variationen von Arnalds, sowohl strukturell als auch klangspezifisch (Ergänzung durch Synthesizer), bleibt das Ganze allerdings ein wenig im jederzeit gefälligen Rauschen der Neoklassik hängen.

Die derzeit vielleicht radikalste wenn auch an allen Ecken und Enden Fragen offenlassende Idee in dieser Hinsicht wird in der heute im digitalen Kurator Henry erscheinenden Musik der Woche umgesetzt: Mathias Halvorsen hat 2008 das originale Podium-Festival gegründet, in Haugesund (Norwegen); die Idee, klassische Konzerte mit einem offenen Bewusstsein für Räume und Szenerien zu programmieren, wurde ein Jahr später in Esslingen weitergeführt (hier geht es zum VAN-Bericht aus diesem Jahr, Halvorsen ist sogar auf dem Cover!). Zusammen mit dem Tonmeister Johann Günther – beide sind so um die dreißig – hat er eine Einspielung der Goldberg-Variationen vorgenommen, deren Prämissen eher zum Experimentalfilm gehören, aber ein Film wird es nicht. Die Idee ist es, an einen Ort zu gehen, der einen interessiert, und auf dem Klavier zu spielen, das schon da steht, wenn es nicht gestimmt ist, egal; der Ort wird außerdem nicht verändert. Es hört sich nach der Suche nach einem neuen Effekt an, aber ihre Absichten haben die beiden scharfgestellt, Mathias Halvorsen:

Wenn du eine normale Aufnahme machst, dann gibt es die Tendenz, jeden Bezug zur Zeit, die das Stück umgibt, herauszuschneiden; du drückst auf Aufnahme, und das Stück wird in deine eigene Zeitschiene rübergeschoben. Für uns war es wichtig, dass wir die Musik in einen Raum hinrin lassen, der nicht isoliert ist.

Johann Günther:

Und gleichzeitig geht uns nicht um eine field recording, also darum, diesen Raum abzubilden, nein, der Ansatz war, Goldberg-Variationen aufzunehmen und zu schauen, was gibt es für Interaktionen, was davon kann man einfangen. Natürlich hatte ich ein Raumsystem (mit Mikrofonen, d. Red) aufgebaut, das hätte man in einer normalen Studio- oder vielleicht Konzertaufnahme aber auch gemacht.

Worauf diese Einspielung der Goldberg-Variationen verzichtet, ist Kontrolle, Eleganz, Gleichmäßigkeit. Und das Pedal: Mathias wollte es unmöglich machen, über Passagen hinwegzugleiten. »Ein Take und das war’s dann«, heißt: Keine Ablenkung ist antizipiert. Der Pianist verliert die Konzentration, macht Fehler, versucht sie durch temporäre Lebhaftigkeit in den Sekunden danach zu kompensieren. Phrasierungen gehen nicht auf, nicht ineinander über, weil das äußere Geschehen den inneren roten Faden zu sehr unterbricht, neu formt. »Im Krankenhaus sieht man diese Leute ein- und ausgehen, und sie sind selten neutral gestimmt. Und das wirft mich immer wieder aus der Bahn, man wird daran erinnert, was man tut. Im Konzert versucht man das zu vermeiden, da konzentriert man sich, isoliert und sterilisiert die Situation. Hier haben wir es genau andersherum aufgebaut. Ich gehe in den Raum ein und der Raum in mich.« Keine Konzertaufnahme also, deswegen ist man als Zuhörer auch nicht der Beobachter einer vergangenen Performer-/Publikumssituation, sondern eher der Geist in der Maschine, um die sich keiner zu kümmern scheint. Wer kümmert sich hier überhaupt um was? Und warum sollten wir als Musikhörer uns darum kümmern? Man kann es nur poetisch beschreiben. Hier ist eine Gleichgültigkeit in der Zeit, die sehr formbar wird, nicht starr. Eine Ferne, trotz der nüchternen, sauberen Dokumentation, und ich ahne, dass es egal ist, ob ich vor Ort war oder nicht. Niemand will mir etwas darbieten, darum höre ich zu. Die armen Goldbergvariationen, ich schau sie mir mal näher an. Ob das hier der Ausgangspunkt einer neuen Art von Musikkonservierung wird, ist fraglich. Die beiden nehmen sich ziemlich viel Zeit, um Orte zu finden, an denen es passen könnte. Und es ist auch schwer, sich für dieses neue Dogma eine bessere Kombination als Klavier (steht schon da, übernimmt aber nicht den Raum wie eine Orgel), Goldberg-Variationen (spielerisch und absolut, insgesamt irgendwie neutral) und Krankenhausfoyer (aufgeladen, aber erträglich von der Geräuschkulisse her) vorzustellen. Romantische Sinfonien in Kammerbesetzung im Wald? Schönberg im Arbeitsamt? Mozart in einem Nähkurs? Mag sein, dass da noch ein paar Ideen warten. Im Moment ist das hier schon ein sehr gutes Statement für eine Branche, deren digital perfektionierter Aufnahme-Fundus mit jedem Jahr größer und ununterscheidbarer wird. ¶

Wer neugierig auf die Musik geworden ist: Hier geht es zu Henry und zum Download der App.