… von Schumanns Streichquartettop. 41 No. 2 – mit Youtube
Viele Menschen, die sich heute für klassische Musik interessieren, lesen diese nicht im Notentext nach, sondern haben sie »nur« im Ohr. Fast alle Musik-Analysen gehen aber vom geschriebenen Notentext aus. Für die, die trotzdem genauer wissen wollen, was passiert, was da erzählt wird, was beim Hören geschieht, entwickelt Jan Reichow einen gedanklichen Leitfaden zum ersten Satz von Schumanns Streichquartett op. 41 No. 3 – mit Youtube.
Streichquartett op. 41 No. 2 I. Andante espressivo – Allegro molto moderato; Quatuor Ebène
Robert Schumann schrieb op. 41 No. 3 im Jahr 1842, vom 8. bis 22. Juli. Die beiden vorhergehenden Quartette der Serie waren im Juni entstanden. Der Erzromantiker Schumann entwickelte sich gewissermaßen im Jahresplan: Nach der Klavierperiode folgte ein Liederjahr (1840), dann ein »sinfonisches Jahr« und eben (1842) sein »kammermusikalisches Jahr«. In jedem Genre unternahm er es, etwas Wesentliches und Neues zu schaffen. Los geht es mit der Analyse, sie gelingt nicht nebenbei, sondern nur in der ungeteilten Konzentration.
Ich würde lieber von musikalischen Gestalten als von Themen reden, die behandelt werden; denn sie erleben ja selbst etwas, sie durchlaufen verschiedene Stadien. Was uns als erstes begegnet, könnten wir auch den Kern des Geschehens nennen, das sich vor uns ausbreiten wird.
Bis 0:51 hören:
Aber es ist kein Kern, sondern eine Geste des Verlangens oder ein Ruf: Wir spüren, dass wir uns auf ungesichertem Boden befinden, das Narrativ heißt Sehnsucht. Das nach unten weisende Motiv der zwei Töne, mit denen die erste Geige beginnt, wird sofort harmonisch aufgeladen – sie führen spannungsvoll weiter, wandern bedeutungsvoll ins Cello. Und stehen dann leer im Raume.
Bis 0:51 hören:
Was wir vielleicht fühlen, aber nicht wissen: da ist kein Grundton. Wir wissen nicht, wo wir uns eigentlich befinden. Das muss man mehrmals hören, auch ein Musiker würde, allein gelassen mit diesen sieben Takten im Ohr, nicht wissen, in welche Tonart er hier geführt wird.
Bis 0:51 hören:
Die erste Szene nach dem Entrée folgt dem eben noch bang und ahnungsvoll angestimmten Ruf und läuft, quasi nebenbei, zweimal auf den Grundton zu (Cello).
Bis 1:03 hören:
Schumann will, dass es zärtlich klingt, sempre teneramente, es kreist in sich. Und erst im Anschluss geht es aus der vornehmen Reserve heraus in eine Steigerung, in der sich die vier Instrumente imitierend überbieten. Danach kehrt der Anfang gesteigert wieder, einen Ton höher gesetzt und angereichert durch kanonartige Einsätze. Dann Abbruch. Kurze Generalpause.
Bis 1:23 hören:
Die nun folgenden Akkordschläge markieren eine Wende, die jedoch zunächst nichts zu wenden scheint, aber doch den Entschluss erkennen lässt, nicht im Wohllaut zu zerfließen. Noch einmal das Thema – mit Bratsche – auf neuer Ebene, eine Andeutung von Aufbegehren (bei 1:30), und es verebbt urplötzlich in 1:34.
Jetzt aber beginnt ein neuer Charakter, synkopisch-nervös; alle schlagen nach, das Cello geht voran, und die erste Geige spinnt motivisch geradlinig weiter: zehrend, chromatisch, bis 2:17, und hier befindet man sich unversehens an einem fernen Punkt des harmonischen Universum, entrückt.
Bis 2:22 hören:
… entrückt also in eine himmlische Sphäre, nur für Sekunden, dann wieder a tempo, allerdings auch auf einem Ruheton des Cellos, übergehend in einen Aufschwung der ersten Geige (2:36) – und endlich wirklich Ruhe, Rückkehr, Atempause (2:41), thematisch vertrautes Gelände. Als letzter Gruß die – in einer neugewonnenen Tonart – fast wörtliche Reminiszenz des Anfangsmotivs.
Bis 2:46 hören:
Nun kann die Problematik der Geschichte noch einmal an uns vorüberziehen – mit anderen Worten: es folgt die Wiederholung der ganzen Exposition (ohne Einleitung).
Bis 4:42 hören:
Jedoch: warum? Wieso das tendenziell Einmalige noch einmal?
Weil alles wieder anders scheint, weil es in Andeutung und Ausarbeitung vielschichtig genug ist, um aufs neue vorüberzuziehen.. In der Musik allerdings geht es zugleich um die Notwendigkeit eines Kontinuums, banal gesagt: Es muss weitergehen, über den erfüllten Augenblick hinaus, jedoch ohne den Leerlauf der Konvention, der klappernden Überleitungen. :
Schumanns Wahrnehmung der großen Formen bezieht ihre spezifische Intensität wesentlich daher, daß er »im Augenblick … sein« und ihn perpetuieren will, die Formen aber Verknüpfungen oberhalb der Unmittelbarkeit des den Augenblick besetzenden Klingens erfordern, also nicht erlauben, ungestört dort zu verweilen. […]
Dem entspricht, daß er, der den Faden ungern abreißen läßt, Unterbrechungen oder durchschaubare Überbrückungen nicht mag und, wo er sie nicht vermeiden kann, drastische Ostensionen vorzieht […]
»Ostensionen«: drastische und offensichtliche Gesten wie zum Beispiel »das jäh herumgerissene Steuer« (Gülke) bei 1:23 – die Akkordschläge, die dennoch die Szene des ersten Thema noch nicht beenden. Und auf die zweite Szene – (ab 1:34 beziehungsweise in der Wiederholung ab 2:29) folgt wiederum die Reminiszenz, so dass wir kaum erkennen, wann genau die Wiederholung (ab 2:46) beziehungsweise die neue, dritte Szene (ab 4:43) beginnt. Diese hebt jedoch an wie eine weitere Wiederholung, und erst bei 4:50 werden wir jäh aus den daran geknüpften unseren Erwartungen herausgerissen:
Bis 5:42 hören:
Die oben so genannte »Andeutung von Aufbegehren« (bei 1:30 / 3:25) kehrt wieder und zwingt die Bestandteile des Thema, das Ruf-Intervall und die aufsteigende Achtelbewegung, zum Aufruhr, und die Reprise, auf die hier, wenn es nach der klassischen Konvention ginge, alles hinauslaufen müsste, bleibt aus, ebenso die Akkordschläge, »das jäh herumgerissene Steuer«, stattdessen beruhigt sich die Gegen-Aktion in einem dolce des Ruf-Motivs (auf 5:28), als neige das Thema zur Wiederkehr, aber was davon tatsächlich folgt, steht im Zeichen eines Innehaltens, Innewerdens, più slentando und dann più adagio mit Fermate und Generalpause.
Bis 5:42 hören:
Alle Worte sind zu arm wiederzugeben, welch willkommene Wirkung nun die Wiederkehr des zweiten Themas, der Szene mit den nachschlagenden Achteln hat, die Unruhe, das Verlangen, der Aufstieg in die himmlische Sphäre.
Bis 7:22 hören:
All dies ist uns bekannt, erscheint aber durch die veränderte Position in Form und Emphase wie neu, und wenn wir denselben Punkt erreicht haben wie am Ende der ersten Hälfte, bevor sie wiederholt wird (2:41), so erwartet uns auch hier die »Reminiszenz« des Themas (6:50) – jetzt wie eine nachgeholte Reprise – und auf einen dreifachen ekstatischen Sforzato-Akzent hinauslaufend, dessen fernes Echo die beiden abschließenden Pianissimo-Töne des Cellos bilden.
Ein Sehnsuchtsruf, dessen Bedeutung sich im Laufe des Satzes so angereichert hat, dass man keine einfache Lösung mehr erwartet, sondern komplexe Antworten, wie sie die folgenden Sätze bieten. Wiederverzauberung.