Matthew Herbert arbeitet seit über einem Jahrzehnt im Feld elektronischer Tanzmusik mit sehr unterschiedlichen, meist ambivalenten Klangaufnahmen. Sei es der Körper seiner Geliebten, dem Leben eines Schlachtschweins, einem Bombeneinschlag im Irak oder Mahlers Zehnter Sinfonie. Am 1. November 2015 präsentierte er sein neues Album The Shakes an der Volksbühne in Berlin. Ich treffe ihn einen Tag zuvor in der Lobby des Park Inn Hotels direkt am Alexanderplatz. Wir sprechen über seine Motivation Musik zu machen, sein Verhältnis zu klassischer Musik, und seine verlorengegange Naivität.
Text Bastian Zimmermann · Fotos Christina Stoll
VAN: In den letzten zehn Jahren hast du sowohl die Geräusche der Umwelt in deine Musik gebracht als auch – andersherum – deine Musik weiter in die Welt gestreut, immerhin arbeitest du ja mit populären Formen. Wie ist das in deinem Alltag, ist dein eigenes Leben voller Musik?
Matthew Herbert: Es ist einerseits das wundervollste Leben, das man sich nur vorstellen kann, und gleichzeitig auch sehr schwierig. Wundervoll, weil: Ich bin ein Mann, ich bin weiß, Engländer, habe Geld, mein eigenes Haus, ein paar Autos, ich bin gesund, habe eine Ehefrau und meine zwei Kinder. Meine Kinder gehen auf eine gute Schule; wir bekommen das Essen vom Bauernhof ins Haus geliefert. Ich habe ein Studio am Strand; jeden Tag treffe ich mich mit Leuten, um über Musik, Klang und Ideen zu sprechen. An einem Tag schreibe ich eine Oper, am nächsten ein Buch, danach an einer Platte. Ich fahre 1. Klasse in der Bahn, wenn ich Shows in Berlin spiele …
Und der schwierige Part?
Es ist krass, dass all diese Dinge Luxus bedeuten, weißt du? Das Privileg, weiß zu sein, ein Mann zu sein, gut Geld zu verdienen, sich Dinge aussuchen zu können, die Freiheit.
Es kommt dir ambivalent vor?
Ja. Meine Regierung bombardiert mit einem Teil des Geldes, das ich verdiene, Menschen. Meine Regierung scheint den Krieg zu lieben. Denk nur an die Probleme, die Tony Blair und George W. Bush im Irak verursacht haben, Probleme für Abermillionen von Menschen. Tausende haben mit ihrem Leben bezahlt, ihrem Glück, ihren Kindern. Und: Was ich so mache, trägt dazu bei, die Umwelt zu zerstören, einfach deshalb, weil ich in Europa lebe und die Regierung sich nicht um die Umwelt, um Recycling und solche Dinge kümmert. Noch ein Beispiel: Kürzlich bin ich, weil ich Züge verpasst habe, mit einem Mietwagen von München nach Wien gefahren. Da waren überall Flüchtlinge, die in die umgekehrte Richtung reisen wollten. Und ich konnte da einfach so hin und her über die Grenze fahren, wie ich wollte.
Fällt es dir wegen solcher Dinge schwer, Musik einfach nur um ihrer selbst Willen zu machen?
Genau, das ist nun seit mindestens 10 Jahren so. Wahrscheinlich seit Bodily Functions, das war wohl das letzte Album, das ich mit so einer Unschuld gemacht habe, einer Art Naivität. Danach wurde mir klar, dass ich Musik machen muss, die die wirkliche Welt direkter widerspiegelt, wirkliche Erfahrungen. Die produziert sich eben nicht so leicht, ist sperriger anzuhören, schwieriger zu verkaufen, schwerer aufzuführen.
Das Buch, an dem du schreibst, heißt The Music. Das scheint ein radikales Projekt zu sein: Musik existiert nicht mehr.
Du kannst es auch andersrum sehen: Ich kann eh nicht die Musik machen, die ich gerne machen würde. Ich kann nicht aufnehmen, wie es klingt, wenn Angela Merkel sich mit ihrer besten Freundin in Paris mit Martinis betrinkt. Aber ich kann es in meinem Buch schreiben. Oder ich kann schreiben, wie Präsident Assad in die Ferien fährt. Aufnehmen könnte ich das nie, ich hätte keinen Zugang. Also ist das Buch eine wirkliche Freiheit.
Und deine Beziehung zur klassischen Musik?
Klassische Musik. Das ist eine sehr komplizierte Beziehung. Man verbringt da 15 oder 20 Jahre damit, ein Instrument zu lernen. Um klassische Musik wirklich ernsthaft zu spielen, braucht es die totale Hingabe, die vollkommene Aufopferung. Das ist wie bei den Olympischen Spielen: Musik zu schreiben und Musik aufzuführen sind für mich so unterschiedlich wie Skifahren und Speerwerfen. Auch wenn man sich hinsetzt und eine große Sinfonie für Orchester schreibt. Man geht da so eine Bindung ein, zwei oder drei Jahre deines Lebens machst du einfach nur das! Es ist komisch, einerseits spüre ich sehr viel Liebe für diese Welt, und ich lasse mich inspirieren von Ravel, Strawinski, Schostakowitsch, Prokofjew und Mahler. Aber ich habe einen Pfad gewählt, auf dem ich einfach nicht umkehren kann, weil ich dreißig Jahre damit verbracht habe, elektronische Musik zu machen, experimentelle und Tanzmusik. Und um in Richtung Klassik zu gehen, müsste ich in einem sehr viel kleineren Haus wohnen, weil ich es mir sonst nicht leisten könnte, so lange ohne Bezahlung zu arbeiten. Deswegen vielleicht das Buch, vielleicht ist das meine Sinfonie. Die Klassikwelt muss einem irgendwie leid tun, da gibt es diesen unglaublichen Fundus an Werken, und trotzdem wird die Zuhörerschaft für komplexe Sachen kleiner; weniger Leute haben die Zeit, sich eine Sinfonie von vorne bis hinten anzuhören. Ich habe die Zeit nicht mehr, hast du sie?
Manchmal … viele zeitgenössische Komponist/innen stellen ähnliche Fragen wie du, wenn es um die politische Bedeutung von Musik geht; manche arbeiten mit field recordings. Bemerkenswert, dass sie nie auf die Idee kommen, dass Musik zum Tanzen der richtige Schritt sein könnte. Ich möchte die Frage an dich aber gerade andersrum stellen: Kann das Schreiben dieses Buches zur Folge haben, dass du keine Tanzmusik mehr schreibst?
Zumindest ist das Buch keine. Auch wenn darin vielleicht tanzähnliche Musiken enthalten sind. Auch The End of Silence, die vorletzte Platte, ist nicht wirklich tanzbar, das hätte sich ein wenig seltsam angefühlt. Es geht mir um Rhythmus. Ich habe das als meine einzige Definit
ion von Musik gesetzt. Ich glaube nicht, dass Musik Melodie bedeutet. Ich glaube nicht, dass Musik Harmonie ist. Musik ist Rhythmus. Wenn du nach diesem … (klopft auf den Tisch) … dies (klopft auf den Tisch) setzt, wird es Musik. In der Tanzmusik habe ich wirklich etwas über den Rhythmus gelernt und darüber, wie man Leute zum Tanzen bringt. Ich habe über Tempo gelernt, wo es, glaube ich, viele Leute gibt, die es nicht hinkriegen. Klassische Musik ist darin nicht so gut, was an der Art liegt, wie sie notiert ist. Wir haben in Paris einen Soundtrack gemacht, da gab es eine Big Band, die sollte spielen: dadadap dap tchk, dadadap dap tchk. Und darüber kam ein Streichorchester mit einer ergänzenden Linie. Wir nahmen morgens die Band und am Nachmittag die Streicher auf. Mit der Band war alles in Ordnung, aber die Streicher konnten das einfach nicht, swingen. Damit kritisiere ich sie nicht, aber das ist das Ergebnis davon, wie diese Dinge unterrichtet werden, welche Musik dabei gespielt wird, wie interpretiert wird.
In einem Interview mit dem Guardian hast du gesagt, dass du aus allem Musik machen könntest. Cameron, Patronen oder Spanien. Gibt es da keine Grenzen?
Grenzen gibt es immer. Als ich Mahler aufgenommen habe, sind wir in ein Krematorium gefahren. Nach 90 Minuten im Feuer sind vom Körper immer noch Knochenreste übrig. Diese werden dann zusammengefegt und in einem cremulator zermahlen. Ein cremulator ist wie eine Waschmaschine, aber mit Steinen statt Wasser. Knochen und Steine – kannst du dir vorstellen, wie laut das ist? Das war der schlimmste Sound, den ich je gehört habe. Ich hatte ihn trotzdem zunächst in die Musik integriert und diese dadurch sehr vertieft, auf ruhige und sehr emotionale Weise. Aber dann habe ich mich gefragt, ob ich nicht die Angehörigen hätte um Erlaubnis fragen müssen. Wenn jemand ohne Erlaubnis mit den Knochen eines Freundes Musik machen würde, fänd ich das respektlos. Niemand sollte anhand des Geräusches zermahlender Knochen erinnert werden, also habe ich diese Teile wieder aus der Musik herausgenommen.

Auch politische Grenzen sind spannend. Zum Beispiel die Verwendung von Liveaufnahmen von David Cameron …
Klar, diese Grenzen sind interessant. Auf dem neu geplanten Album ist ein Orgasmus zu hören, Kack- und Pinkelgeräusche und man hört, wie sich jemand einen runterholt. Aus der Pornographie sind wir diese Geräusche gewöhnt; in der Musik Zeuge dieser Form von Intimität zu werden, ist ungewohnt; das ist eine weitere Grenze, gegen die man sich auflehnen kann.
Über The Shakes, dein neues Album, aus dem wir morgen an der Volksbühne hören, sagst du, es hätte dir einfach Spaß gemacht. In der Regel sind deine Arbeiten oft sehr ambivalent; hier scheint dir die Sache mit dem Humor relativ leicht zu fallen.
Hier geht es wohl um Naivität. Wenn man anfängt, Musik zu schreiben, weiß man nicht, wie das Publikum reagieren wird. Und vor allem nicht, ob es Bestand haben wird. Du machst das für dich, weil es dir gefällt. Wenn man dann berühmter ist, wird man sich seiner Stellung und Erfahrungen bewusster. Für diese Album habe ich mich vielleicht etwas an der Naivität meiner Kinder bedient. Klar, das ist ein Klischee, aber bei Kindern gibt es das wirklich, diese unermüdliche Freude. Jeden Morgen kommen sie um 6:15 Uhr ins Schlafzimmer und sagen Sachen wie ›Hi, hast du meine neuen Socken gesehen? Schau dir das mal an!‹ Und das bleibt dann den ganzen Tag so!

Du hast an deinem neuen Album von Zuhause gearbeitet?
Ja. Vieles auf dem Album habe ich im Beisein meiner Kinder geschrieben. Ich saß mit Laptop im Wohnzimmer, sie spielten um mich herum und fragten, was ich da mache. Einige unheimliche Geräusche sind nicht auf dem Album gelandet, weil einer meiner Jungs sagte, er fände sie gruselig. Aber noch mal zurück zur Naivität: das fehlende Selbst-Bewusstsein des Anfangs bekommt man später nie zurück, ähnlich wie die Jungfräulichkeit. Viele erste Alben sind deshalb oft die Besten einer Karriere.
Ist das jetzt ein gutes Ende? Oder möchtest du noch etwas Fröhliches sagen?
Nein. Im kreativen Schaffen liegt zwangsläufig etwas Melancholisches. Wäre die Welt perfekt, müsste man nichts Neues schaffen. Wenn du mit allem zufrieden wärst, würdest du nichts neu kreiieren müssen. Deswegen haben wir so viel Musik. ¶
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