Besucht man das Grab von Frédéric Chopin auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise, dann sieht man schon von weitem Berge von Plastikblumen und Karten, voll mit Hieroglyphen. Wenn man weiß, wie wichtig Chopin für Polen ist – mit all seinen Chopin-Akademien, Chopin-Flughäfen und Chopin-Wodkas –, dann ist man überrascht, wie wenig man hier auf die polnischen Farben Weiß und Rot trifft. Noch überraschender ist es allerdings, im Vatikan das Grab von Johannes Paul II. völlig in rotweißem Glanz zu sehen. Immerhin, auch wenn das Pariser Grab für die Polen kein Pilgerort wurde wie das des ehemaligen Papstes in Rom, so hat Chopin doch im polnischen Selbstbewusstsein eine riesige Macht – und zwar eine Macht, mit der andere Völker auf dem europäischen Musikmarkt, von den Giganten Deutschland, Russland und Italien einmal abgesehen, nicht kämpfen können.

Die Polen müssen nichts mehr für Chopin tun, er ist für sie einfach da: Sie brauchen seine Musik nicht mehr durch Lobbyisten in der Konzertszene lancieren zu lassen, so wie es viele kleine Länder Europas mit ihren wesentlich unbekannteren Komponisten und Interpreten tun müssen, indem sie – wie die Finnen und Norweger – deren Porträts auf die Heckflossen ihrer Flugzeuge malen, um sie nach Japan zu schicken. Zu Chopin kommen die Japaner ganz von selbst und legen ihre Blumen – nackten Herzens – auf sein Grab.

Als ich an der Warschauer Musikakademie (natürlich trägt sie Chopins Namen) studierte, galt Jean Sibelius dort als Beispiel eines außergewöhnlich brutalen Geschmacks. Das Anfangsthema seines Violinkonzerts wurde uns als Melodie voll unbegründeter Schlenker und öliger Nuancen, die an russische Zigeunerlieder erinnern, präsentiert. Noch schlimmer war es nur mit Antonín Dvořák, der wirklich jedes Anstandsniveau unterlief – oder, wie mir ein Krakauer Professor mal bei einer Tasse Tee klarmachen wollte, Dvořák sei ein Komponist von Kneipenliedern. Sein Requiem sei etwa eine musikalische Tavernenszene in der Manier von Carmina Burana und sein Stabat Mater ein melodisches Puff-Kostüm, rund um eine weinende Madonna gewickelt. Das Stabat Mater von Karol Szymanowski hingegen zeige einen guten Geschmack, zumindest in der Form. Gewiss, das Werk sei auch ein bisschen problematisch, wie der ganze Szymanowski, der – nun, ja – schwul war. Und man könne nicht ganz sicher sein, ob das Madonnentuch von Szymanowski nicht doch einen Hauch zu rosig dufte. Aber allemal besser als Dvořák.

Dann wieder, in Finnland, war plötzlich alles umgekehrt: In meinen zehn Jahren an der Sibelius-Akademie hörte ich kein einziges böses Wort über Sibelius, ganz im Gegenteil: Er wurde uns nahegebracht als einmaliger Symphoniker, über dem vielleicht, vom lieben Gott abgesehen, nur noch Beethoven stünde. Allerdings gab es auch hier ein klitzekleines, lästiges Ärgernis: Theodor W. Adorno, von den finnischen Musikscholastikern verehrt wie ein Kirchenvater der Moderne, hatte betrüblicherweise Sibelius in einer berüchtigten Glosse verbal zu Boden geprügelt. Und für die finnische Musikologie, die stolz auf die riesigen und erfolgreichen Beiträge Finnlands zur tonangebenden Moderne der Gegenwart war, lauerte da ein ernsthaftes Problem. In meinem ersten Jahr an der Sibelius-Akademie hörte ich, dass Adorno »leicht verwirrt und missverstanden worden war«, etwa so wie ein Mörder im Affekt, der nur aus Eifersucht getötet habe, was er eigentlich liebte. Später saß ich sogar in einer Klasse, wo man uns mit großen Augen und nickendem Kopf erzählte, dass Sibelius, je tiefer man in seine Musik eindringe, sich als erstklassiger Modernist erweise, ganz im Sinne von Arnold Schönberg – und allenfalls, vielleicht, möglicherweise, ganz oben auf der Oberfläche seiner Musik, bei ihm noch einige romantische Rückstände zu beobachten seien. Es klang so, als sollte Adorno freigesprochen werden, wie der geistesblinde Pontius Pilatus durch ein gnostisches Evangelium.
Sibelius wurde nie kritisiert, ganz im Gegenteil, geradezu vergöttlicht, Dvořák wurde vielleicht erwähnt, aber ohne Leidenschaft. Unterhaltsam dabei ist, wie schnell man sieht, worüber gesprochen wird, aber wie langsam man erst bemerkt, worüber nicht gesprochen wird: Mir zum Beispiel fiel erst auf, dass ich in Finnland kein einziges Mal den Namen »Edvard Grieg« an der Sibelius-Akademie gehört hatte, erst als ich gut acht Jahre später meine Oper Peer Gynt an der norwegischen Nationaloper vorbereitete. Mit dem Namen »Sibelius« ging man in Norwegen ein bisschen freundlicher um. Immerhin wurde er erwähnt, zumindest früh am Morgen, wenn noch wenige dabei waren, oder spät am Abend, wenn die meisten schon weg mussten. Jedenfalls leuchtete nicht das hellste Licht auf ihn. Das gebührte selbstverständlich Grieg. Aber das große innere Behagen darüber, dass die Schweden Sibelius oder Grieg nichts entgegen zu stellen hatten, war sowohl in Finnland als auch in Norwegen nirgends ignorierbar.

Dann kommen aber die tieferen – zugleich komplexeren – Ebenen in der musikalischen Psyche der Völker: etwa die Dänen mit ihrem Carl Nielsen, in dessen Musik keine Postkartenlandschaften von Dänemark zu finden sind; ein Umstand, der seine Musik auf dem Konzertmarkt schwer fassbar macht. Wenn Nielsen schon für Dänemark stehen muss, sollte er auch etwas ganz und gar Dänisches liefern. Dass er so etwas, abseits seiner volkstümlich gewordenen Lieder, kaum gemacht hat, verringert seine Chancen in den kulturtouristisch orientierten Konzertprogrammen der weiten Welt erheblich im Vergleich zu den zwei zuvor genannten Herren. Die Esten haben mit ihrem Eduard Tubin ähnliche Probleme, auch wenn Tubin seine Sinfonien stets mit estnischem Kolorit färben wollte wie die Frau des Schäfers ihre Fasern.

Als ich Kind war und oft nach Litauen reiste, begegnete man dem Namen »Čiurlionis« dort überall. Mikalojus Konstantinas Čiurlionis galt als Muster echten Litauertums, mit seinen nationalromantischen, auch symbolistischen Gemälden und Orchesterwerken. Mittlerweile gibt es eine große Selbstscham rund um sein Werk: Als zum Beispiel Litauen im deutschen Bundesfinanzministerium vor anderthalb Jahren eine große und prächtige Präsentation seiner Musik organisieren durfte, war ein Deutscher der Einzige, der den Namen »Čiurlionis« erwähnte. Mit einem alten Klassiker wie Tubin geht es in Estland genauso; und die Interpreten klassischer Musik aus Lettland – viele internationale Stars sind darunter – vermeiden die Musik ihrer nationalromantischen Komponisten in ihren Konzertprogrammen geradezu auffallend.
Die Gründe dafür haben viel mit dem bereits Erwähnten zu tun: In der Welt der europäischen Nationen, die heute eine groteske Mischung aus EU-Politik und dem poppigen Partynationalismus des Grand Prix d’Eurovision darstellt, in dieser Welt, deren musikalische Identität ursprünglich, im neunzehnten Jahrhundert, von Chopin geprägt wurde, um dann in Gestalt von ein paar Erzkomponisten wie Sibelius und Grieg Nachfolger zu finden, in dieser Welt also wären Länder wie Estland, Lettland, Litauen mit ihren kaum bekannten Komponisten viel zu schwer sichtbar für die gesamte internationale Szene. Damit entsteht aber auch etwas Gutes: Wo die Selbstscham wurzellos macht und die geschichtliche Identität aushöhlt, schenkt der Mangel an historischen Erzkomponisten diesen Ländern Schläue in der modernen Musik. So sind Komponisten wie Arvo Pärt oder Pēteris Vasks möglich geworden. Und dieser Mangel macht die Suche nach neuen Wegen auch einfacher, wohingegen Musikkulturen mit wesentlich schwereren historischen Elefanten nur langsam vorankommen.

Außerdem hinterlassen modernere Elefanten kleinere Schatten – nicht wie das polnische Musikleben, das von Chopin überstrahlt wird, nicht wie eine ganze finnische Komponistengeneration, die sich mit Sibelius auseinandersetzen musste und dabei enorme Mengen Energie verlor. Und ähnlich wie in der EU-Politik wird dabei das Wesentliche zur Nebensache: Ich selbst glaube, dass Nielsens Musik wirklich wenig mit Dänemark zu tun hat, dass Sibelius wirklich ein außergewöhnlicher Komponist war, besonders wenn man bedenkt, von welchen kargen Ausgangbedingungen er sein Imperium baute. Andererseits ist Grieg für mich satztechnisch viel interessanter als Sibelius, und Szymanowskis Religiosität gleicht der einer alten katholischen Frau in Zakopane: ehrlich, voller Todesangst und tief in Glaube und Landschaft verwurzelt.

Die Führungsposition auf dem internationalen Musikmarkt zu erreichen, ist kein leichtes Ziel. Wer dabei Erfolg hat, sollte nicht verlacht werden. Japanische Blumen kommen nicht von allein zu den Gräbern, und sie erzählen viel – über eine Macht, die sich mit den Mitteln des nationalen Marketings, aber zugleich jenseits seiner Grenzen unübersehbar etabliert hat. Doch in dieser Jagd nach japanischen Blumen auf dem Friedhof des Musikmarktes bleibt Chopin für mich ein ganz und gar italienischer Komponist. Das zweite Thema in seiner Marche funèbre – es singt doch genau wie eine einsame Geige in einer italienischen Kleinstadtgasse, die die Melodien von Bellini, die gestern noch auf der Operngala am Markt gesungen wurden, nachzuahmen versucht. ¶