An Monteverdi kommt auch Justin Doyle dieses Jahr nicht vorbei – will er aber auch gar nicht. In zwei Konzerten mit geistlicher Monteverdi-Musik im Rahmen des Musikfests Berlin tritt Justin Doyle am 15. und 16. September 2017 offiziell sein Amt als Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des RIAS Kammerchors an. Das Ganze ist direkt etwas tricky: Die Konzerte bestehen jeweils aus zwei Hälften mit damit verbundenem Ortswechsel. Die Messe In illo tempore erklingt in der St. Hedwigs-Kathedrale, die Marienvesper Vespro della beata vergine im Pierre-Boulez-Saal.
Für VAN gibt Justin Doyle Einblicke in sein musikalisches »Shuffle-Gehirn« und seine Erlebnisse in der Westminster Cathedral, in Berlin und Kenia, bei seiner Hochzeit, in der Oper, vorm Plattenspieler und am Bett seiner Kinder.
Claudio Monteverdi, Beatus Vir
Taverner Choir and Consort, Andrew Parrott
Als Musiker kannst du nicht verhindern, dass die Musik, die du gerade erarbeitest, die Kontrolle über dein Hirn übernimmt. Chorwerke liegen mir natürlich sehr am Herzen. Im Moment bin ich umgeben von Monteverdi, und das hier ist eins der erhebendsten Chorstücke, die je geschrieben wurden: Seine Version des Psalms Beatus Vir. Sie wurde sogar auf meiner Hochzeit gesungen.
Francisco Guerrero, Ave Virgo Sanctissima
Westminster Cathedral Choir, Martin Baker
Als kleiner Junge hatte ich das große Glück, Chorknabe in der Westminster Cathedral in London zu sein. Täglich in der Kathedrale zu singen hatte einen großen Einfluss auf meine musikalische Entwicklung. Eine der schönsten Aufnahmen des Chores der Westminster Cathedral ist bei Hyperion erschienen, eine Compilation mit dem Titel Schätze der Spanischen Renaissance. Sie ist voller polyphoner Kostbarkeiten wie Guerreros Ave Virgo Sanctissima. Die beiden Sopranstimmen, in diesem Fall Knabensopranstimmen, bilden einen exakten Kanon, aber es wirkt nie, als würde Guerrero hier eine technische Übung ausführen; es ist eine sehr clever ausgearbeitete, absolut hinreißende Polyphonie. Das hier ist eine Live-Aufnahme aus der Westminster Cathedral mit Martin Baker, die aber erst viele Jahre nach meiner Zeit als Chorknabe entstanden ist, gefolgt von einem gregorianischen Introitus – einem Teil des täglichen Chorknabengeschäfts.
Gregorianischer Gesang, Dominus Dixit ad me
Westminster Cathedral Choir
James Weeks, Hortus Conclusus aus Mala Punica
EXAUDI, James Weeks
Meine tägliche Kost besteht natürlich zu einem großen Teil aus »alter« Musik, aber neue ist ebenso wichtig. Es ist wirklich schwierig, nur einen der großartigen Komponisten, die heute für Chor schreiben, zu nennen, aber gestern habe ich dieses atemberaubende Album Mala Punica des Vokalensemble EXAUDI gehört, mit Stücken von James Weeks, dem Dirigenten des Ensembles. James’ Art, für seine Sängerinnen und Sänger zu schreiben, ist brillant, mit der gleichen Kombination aus Fertigkeit und Schönheit wie bei Guerrero, nur ein paar Jahrhunderte später.
Johann Sebastian Bach, Suite No. 5 für Cello solo
Jaap ter Linden (Cello)
Als ich noch ein junger Chorknabe war, hatte ich das Glück, den großartigen Cellisten Paul Tortelier zu treffen und ich erinnere mich noch, wie er mit Nachdruck sagte: »Bach ist mein Gott.« Ich habe erst letztens diese Aufnahme der Suiten für Cello solo mit Jaap ter Linden gehört … Ausgezeichnet, vor allem die virtuose fünfte Suite.
Georg Friedrich Händel, Già l’ebro mio ciglio aus Orlando
Drew Minter (Countertenor)
Nach den Cellosuiten darf ich wahrscheinlich nicht noch mehr Bach bringen; dabei weiß ich nicht wirklich, wie ich in einer Welt ohne seine Passionen und Kantaten leben könnte. Neben Bach liebe ich auch Händel; vor allem seine Opern. Ich erinnere mich noch sehr genau an eine Orlando-Aufführung, in der ein Freund von mir die Titelrolle gesungen hat – als er diese Arie (hier mit Drew Minter) sang, hatte ich Tränen in den Augen.
Wolfgang Amadeus Mozart, Di scrivermi aus Così fan tutte
Luca Pisaroni, Nicolas Rivenq, Miah Persson, Anke Vondung, Topi Lehtipuu, Orchestra of the Age of Enlightenment, Glyndebourne Chorus, Iván Fischer
Jede Musik braucht Dramatik und ich fühle mich besonders verbunden mit den Opern der Dramatiker Mozart, Verdi und Britten. Die Einfachheit dieser Abschiedsszene aus Così ist so berührend – hier in großartiger Besetzung und mit einem wunderbar aufgelegten Orchestra of the Age of Enlightenment.
Joseph Haydn, In vollem Glanze aus Die Schöpfung
Concentus Musicus Wien, Nikolaus Harnoncourt
Obwohl seine Opern ihre Schwierigkeiten bei der Umsetzung haben, war auch Haydn ein großartiger Dramatiker. Einer der magischsten Momente in der Schöpfung ist die Erschaffung der Sterne am Himmel. Ich hoffe, der RIAS Kammerchor und ich werden in den kommenden Jahren viel Haydn machen.
Johannes Brahms, Sinfonie No. 4, Allegro non troppo
Berliner Philharmoniker, Claudio Abbado
Es ist jammerschade, dass Brahms keine Oper geschrieben hat. Wenn ich ein Stück auswählen müsste, das ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde, dann wäre das wahrscheinlich Ein Deutsches Requiem; aber es müsste die Version sein, die ich im Kopf habe, denke ich.
Eine der ersten Aufnahmen, die ich je besessen habe, war Brahms 4. Sinfonie aus Berlin mit Abbado; da wusste ich natürlich noch nicht, dass ich selbst mal in dieser beeindruckenden Stadt arbeiten würde.
Heinrich Biber, Sonate No. 14 in D aus den Rosenkranz-Sonaten
John Holloway (Geige), Davitt Moroney (Cembalo), Tragicomedia
Mit der Zusammenstellung dieser Playlist habe ich kurz nach Mariä Himmelfahrt begonnen, das brachte mich auf eines meiner Lieblings-Instrumentalstücke: Die Himmelfahrt-Sonate von Heinrich Biber. Für jede der Mysterien– oder Rosenkranz-Sonaten hat er eine andere Skordatur-Stimmung vorgeschrieben. Ich bin überrascht, wie wenig diese Sonaten bei professionellen »Mainstream«-Musikerinnen und -Musikern bekannt sind. Sie sollten nicht im Alte-Musik-Reservat verharren oder nur unter Geigerinnen und Geigern geschätzt werden – alle sollen in diesen Hörgenuss kommen!
Diese Sonate ist voll sprudelnder Freude und endet ungewöhnlich: Die Geige tanzt von dannen Richtung Himmel, und das ein paar Takte vor den Continuo-Spieler*innen, die zurückbleiben, in die Wolken schauen und sich fragen, wohin die Geige verschwunden ist.
Zoltán Kodály, Marosszéki táncok
Budapest Festival Orchestra, Iván Fischer
Traditionelle Musik interessiert mich sehr – weltweit. Eine meiner glücklichsten Erinnerungen ist ein Nachmittag mit einem Chor in Westkenia – es ist immer inspirierend, Musik mit Menschen zu teilen, die sie nur aus Spaß an der Freude machen. Es ist sehr wichtig, dass wir unser Bestes geben, die traditionelle Musik unserer Vorfahren nicht zu verlieren. Im letzten Jahrhundert gab es die »Volksmusik«-Sammlungen von Vaughan Williams in England und Bartók und Kodály in Ungarn; heute haben wir Zugang zu Online-Archiven, die es uns ermöglichen, unser kulturelles Erbe noch freier zu teilen. Folk Music ist der Ausgangspunkt einiger meiner Lieblings-Klassik-Stücke, wie zum Beispiel den Tänzen aus Marosszék von Kodály, hier in der Version des Budapest Festival Orchestra und Iván Fischer.
Adam Salim/Fadhili William, Malaika
Harry Belafonte; Miriam Makeba
Die Datenstruktur meines Hirns ist furchtbar: Für eine Minute habe ich irgendwas von Schubert im Kopf, in der nächsten einen Gregorianischen Gesang oder ein Strawinski-Ballett, eine Mahler-Sinfonie oder Verdi-Oper; oder irgendwas Neues von Gabriel Prokofiev, Judith Weir, Sven-David Sandström oder sogar den Brooklyn Funk Essentials. Ich bin aber auch ziemlich glücklich mit meinem Shuffle-Gehirn, denn es bringt mich auf eine unglaubliche Bandbreite von Musik.
Wenn ich zuhause bin, endet jeder Tag gleich: Wir singen Schlaflieder für unsere Zwillinge. Brahms Wiegenlied und – ich denke, das passt an dieser Stelle gut als Gegengewicht zu der Welt der »Kunstmusik« – das bekannte Lied Malaika (das bedeutet »Engel«) aus Tansania. ¶