Im Namen von VAN: Ein Interview mit Jan Caeyers

Text · Datum 8.4.2015

Im Herbst 2014 macht das Thema der Aufführungskultur klassischer Konzerte die Runde durch einige Medien. Inspiriert von der Aussage Jonny Greenwoods (Komponist und Gitarrist bei Radiohead), die Live-Kultur der klassischen Musik sei »abschreckend«, veröffentlicht der Dirigent Baldur Brönnimann den Text »10 things that we should change in classical music concerts« auf seinem Blog. Dieser provoziert wiederum neben Zustimmung auch einige Erwiderungen und Gegenthesen, zum Beispiel von dem jungen Komponisten Aaron Gervais.

Wir sprechen mit Jan Caeyers über das Thema. Er ist Autor der 800-seitigen Biografie Beethoven — der einsame Revolutionär, die Ende 2012 auf deutsch erschien und auch hier für ihren Detailreichtum, die Leidenschaft und den Sachverstand ihres Autors gefeiert wird. Jan Caeyers ist aber nicht nur Schriftsteller und Wissenschaftler, sondern auch Dirigent, er gründete und führt das Beethoven-Orchester Le Concert Olympique mit Hauptsitz in Belgien.

VAN: Jan Caeyers, die erste der »Forderungen«, über die derzeit diskutiert wird, ist: Das Publikum solle zwischen einzelnen Sätzen applaudieren dürfen. Gehen wir gut 200 Jahre zurück in der Zeit …

Jan Caeyers: … man darf generell nicht vergessen, dass in der Geschichte der Musik die Haltung von Musikern und die Haltung des Publikums ihnen gegenüber aus dem Dienstverhältnis entspringt, in dem sie historisch standen. Die Tatsache, dass ein Musiker vor und nach seinem Auftritt grüßt, sich verbeugt, ist eigentlich ein Überbleibsel dessen Status als »Diener«.

Als ich in Wien studiert habe, war es im Burgtheater immer noch so, dass es gar keinen Applaus gab, weil: der Kaiser nicht anwesend war. Applaus gab es in der Monarchie nie zu Ehren der Schauspieler, sondern nur zu Ehren des Kaisers, wenn der anwesend war. Also hat man 1918 gesagt: Es gibt keinen Kaiser mehr, also auch keinen Applaus. Das hat sich dort 1982 oder ’83 erst geändert, unter Riesendiskussionen.

Wie ist es mit dem Stimmen der Instrumente? Es wird darüber diskutiert, ob hinter der Bühne der bessere Ort dafür wäre. Wie war es zu Beethovens Zeit?

Es war immer so wie heute. Ehrlich gesagt, ich habe bei der Gründung meines Orchesters auch überlegt, ob das zu vermeiden wäre. Das ist aber nicht praktikabel. Die Intonation ist eine heikle Sache, wenn es hinter der Bühne ein oder zwei Grad kälter ist als davor, dann hat man ein Problem. Allerdings habe ich den Eindruck, dass die Musiker sich manchmal nicht bewusst sind, was sie tun, das Verhalten beim Stimmen gleicht einer Pawlowschen Reaktion, es dauert auch meistens zu lange.

Aber vielleicht ist da auch ein bisschen Stressabbau dabei. Und bei einem Fußballmatch sehen die Leute doch auch, wie die Teams sich aufwärmen, und es ist ein bisschen Teil der Show.

Sprechen wir über die Vorhersehbarkeit der Programme, hier wird teilweise mehr Überraschung gefordert. Wusste man zu Beethovens Zeit, was einen erwartet?

Hier müssen wir einen Unterschied machen zwischen Orchesterprogrammen und Soloabenden. Wenn Beethoven Klavier gespielt hat, hat er fast immer improvisiert – seine eigenen Sonaten waren ja für Laien gedacht, die Damen der Zeit spielten sie. Wenn er ein Orchesterprogramm gemacht hat, dann gab es aber diese Plakate, mit sehr detaillierten Programmangaben. Wobei – bei den Akademien (Konzerte, deren Erlöse dem Komponisten zugute kamen, d. Red.), da gab es eine sehr viel buntere, spontanere Abwechslung von Stücken. Da wurden Oratorien aufgeführt, und in der Pause spielte Beethoven dann ein Klavierkonzert von Mozart. Im privaten Kreis spielte er auch manchmal Bach und Händel, das war ›alte‹ Musik, das war in so einer Konzert-Suite manchmal als Kuriosum eingebaut.

›In der Pause‹, heißt das, die Leute sprachen und gingen herum?

Ich glaube, die Leute haben immer zugehört. Es gibt allerdings ein Dokument, das beschreibt, wie Beethoven einmal bei einem Fest gebeten wurde, sich ans Klavier zu setzen. Als dann nicht alle Leute zuhörten, hat er sich geärgert. Die Betonung dieses Ereignisses deutet auf eine Ausnahme hin. Ich glaube, die Leute haben konzentriert zugehört.

Aber ich glaube nicht, dass damals diese andachtsvolle Stille von heute herrschte. Zum Beispiel war der Saal ja komplett beleuchtet, auch während der Vorstellung von Opern, die Leute saßen erst ab etwa 1850 im Dunkeln.

Brönnimann meint in seiner sechsten Forderung, die Künstler sollten mit dem Publikum sprechen, gab es das zur Zeit Beethovens?

Nein, überhaupt nicht, nie. Und bei Beethoven schon gar nicht: Er hatte bestimmte Ideen im Kopf zu seiner Musik, aber er wollte nicht, dass man darüber redet.

Und ganz ehrlich, ich bin da auch ambivalent. Bei bestimmten Konzerten warten die Leute geradezu darauf, dass ich etwas sage. Ich merke aber, dass es im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit ist, irgendetwas zu sagen, damit die Leute etwas »lernen« und dann konzentrierter hinhören oder eine bessere Erfahrung haben. Man kann dadurch aber eine Art Entspannung erzeugen, die Barriere zwischen Bühne und Publikum verkleinern und den Leuten einfach ein gutes Gefühl geben.

Manchmal hat nämlich diese Ehrfurcht, die man bei Konzerten spürt, etwas defensives. Und das war zur Zeit Beethovens nicht der Fall. Das Publikum war stärker beteiligt, reagierte spontan. Man darf nie vergessen: Für die Leute damals war es neue Musik. Sie waren überrascht, von dem was sie hörten. Mozart hat dazu einen sehr bekannten Brief verfasst, zur Premiere seiner 31. Sinfonie in Paris, wo er beschreibt, wie er musikalisch mit dem Publikum gespielt hat, es auf eine falsche Fährte gelockt und dann überrascht hat. Wir wissen heute Bescheid, deswegen reagieren wir viel weniger. Trotzdem kannten die Leute damals die Musiksprache fast durchweg sehr viel besser; es gab ja nur eine.

Kommen wir zur Kleidung: Der Frack sei veraltet, meinen einige. Was war die Kleidung von Musikern um 1800?

Klar, also damals standen Orchestermusiker im Dienst ihres Landesherrn, da hatten sie einen entsprechenden Anzug an. Aber dazu etwas aus meiner eigenen beruflichen Tätigkeit: Bei der Gründung von Le Concert Olympique ging es uns darum, alle Parameter eines Konzertes bewusst zu gestalten, natürlich vor allem musikalische Parameter. Aber ich habe mich auch gefragt, wie man das Drumherum noch lebendiger, zeitgemäßer machen könnte.

Für uns schien der Frack tatsächlich ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert und veraltet, deswegen tragen die Männer moderne Anzüge. Bei einem neuen Outfit sind aber die Frauen die größere Herausforderung, sie sollen nicht stereotyp gekleidet werden. Bei uns lässt sich jede neue Musikerin nach ihren Wünschen ein individuelles Kleid von einer Modedesignerin zuschneidern, Antwerpen ist ja eine Modestadt. Gemeinsam ist allen Stücken nur die Verwendung eines bestimmten Indigoblau-Tons. Das kostet allerdings sehr viel Geld, nächste Woche kommt schon wieder eine neue Fagottistin aus Wien …

Bei jedem Konzert begleitet uns sogar ein Lichtdesigner, der stundenlang daran arbeitet, die Lichtfarbe auf die Kleidung der Frauen abzustimmen und eine bestimmte Stimmung zu erzeugen, aber sehr diskret. Man kann bei klassischen Konzerten nun mal nicht mit jedem Ton, jedem Impuls einen Laserstrahl losschießen.

Das bringt uns zum nächsten Punkt; auch der Einsatz von modernen Medien ist eine Forderung von Brönnimann …

Ich bin nicht sicher, was das bringen soll. Ich erinnere mich an die Tour des Pianisten Leif Ove Andsnes mit Mussorgskis Bilder einer Ausstellung; er war dabei umringt von großen Videoinstallationen. Natürlich ist das irgendwie deskriptive Musik, es geht bei Mussorgski ja um diese Bilder. Aber am Ende hört bei so einer Show eben keiner mehr hin und alles schaut auf die Projektionen.

Für mich beschreiben diese zehn Thesen allesamt Randerscheinungen. Es ist einfach so, dass die jungen Leute nicht mehr so viel und nicht mehr so lange klassische Musik hören können. Kürzlich bekam ich mit, wie mein Sohn Beethovens Streichquartett op. 131 hörte, kurioserweise aber nur einen kleinen Teil daraus. Klassische Musik wird auf absehbare Zeit nicht mehr die breite Bedeutung haben, die sie für die Kultur einmal hatte. Aber deswegen müssen wir nicht so tun, als ob Klassikkonzerte eigentlich Rockkonzerte sind. ¶