Über das Verhältnis von Begleitung und Hauptstimme kann man in der Gründlichen Violinschule von Leopold Mozart im zwölften Hauptstück folgendes finden:
»Viele, die von dem Geschmacke keinen Begriff haben, wollen bei dem Accompagnement einer concertierenden Stimme niemals bey der Gleichheit des Tactes bleiben; sondern sie bemühen sich immer der Hauptstimme nachzugeben. Dieß sind Accompagnisten vor Stümper und nicht vor Meister.
Wenn man manche italiänische Sängerin, oder sonst solche Einbildungsvirtuosen vor sich hat, die dasjenige, was sie auswendig lernen, nicht einmal nach dem richtigen Zeitmaße fortbringen; da muss man freylich ganze halbe Täcte fahren laßen, um sie von der offentlichen Schande zu retten.
Allein wenn man einen wahren Virtuosen, der dieses Titels würdig ist, accompagniert; dann muss man sich durch das Verziehen, oder Vorausnehmen der Noten, welches er alles sehr geschickt und rührend anzubringen weis, weder zum Zaudern noch zum Eilen verleiten laßen; sondern allemal in gleicher Art der Bewegung fortspielen: sonst würde man dasjenige was der concertist aufbauen wollte, durch das accompagnement wieder einreißen.«
Direkt und erfrischend. Als Fixstern im Universum der Spielanleitungen – es muss ja doch jeder das Rad neu erfinden! – ist die 1756 verfasste Violinschule bis heute als Navigationshilfe einmalig und erst noch ein großes Lesevergnügen. Das Geigentechnische ist systematisch und ähnlich unverblümt erklärt wie hier eben eines der großen Geheimnisse des Zusammenspiels – ja des Musikmachens überhaupt, jenseits von Instrument oder Stil. Zusammenspielen heißt also mitnichten immer synchron zu sein, der musikalische Reiz liegt im Raum zwischen Kontinuum, Regelmäßigkeit und Respektierung der Zeit in der Begleitung und der frei erzählenden Hauptstimme. Im Jazz würde man sagen: Entweder es groovt oder es groovt nicht.

Legenden, Spielanleitungen, kritische Unterweisungen müssen anregend und klar wie ein Gebirgsbach sein, sonst mag man sich gar nicht damit beschäftigen.
In iij. Noct., die Verbalpartitur von Georg Friedrich Haas gefällt mir ganz besonders. Muntere Hiebe nach rechts und links gegen die Geschmackssünder dieser Welt fehlen natürlich – es ist ja keine pädagogische Schrift aus dem 18. Jahrhundert –, obwohl sie vielleicht auch gerade hier gut täten: Wenn etwas Neues, Ungewohntes verlangt wird, wenn bei der Komposition Klangvorstellungen suggeriert werden, die aber nicht in ein gewohntes Notensystem gebannt sind, ist es bequem, mit dem Vorwurf der Beliebigkeit das Herzblut eines Komponisten als des Kaisers neue Kleider abzutun und die sonst so fleißigen Streicher sparen sich dann einige Stunden Beschäftigung. Im Fall von Haas’ Musik wäre das ein großer Fehler, denn diese Partitur ist der Schlüssel zu einer ganz wichtigen Tür: Ich meine, dahinter einem ähnlichen Geheimnis des Zusammenspielens auf die Spur zu kommen wie Leopold Mozart, wenngleich die Haas-Partitur auf den ersten Blick nicht das Geringste mit der Tonsetzung von dessen Sohn oder Haydn zu tun hat, für deren Entschlüsselung der theoretische Text ja ursprünglich gedacht war.
Das Wort »fortspielen« kann man beispielsweise sofort vergessen, da schon das Blattlesen unmöglich ist, weil es bei In iij. Noct. nichts zum Spielen gibt, sondern nur zu lesen: lose Blätter mit Beschreibungen.

Es sprengt den gewohnten Aufführungsrahmen: Gespielt wird in kompletter Dunkelheit. Das ist übrigens, seit es diese Partitur gibt, erst zweimal tatsächlich ernst genommen worden, einmal in einer Höhle in Frankreich, einmal in New York – habe ich mir schildern lassen – überall sonst sind die grünen Notausgangsschilder eine ständige Erinnerung daran, dass das Ritual des gemeinsamen Erlebens insgesamt doch weniger hoch bewertet wird als das Absichern gegen alles und nichts.
(Das Nichtsehen schärft natürlich das Gehör; da wo wir einen Sinn aufgeben, haben wir mehr Reserven für die anderen. Und in unserer augendominierten Zeit ist es vermutlich erst recht nötig, diesen Punkt mal so deutlich zu setzen. Für manchen Hörer ist allein das schon das prägende Erlebnis, es müssten noch nicht mal derart ausgefuchste Klänge wie bei Haas gespielt werden.)
Und wir hängen uns nicht mehr an einen wie sonst in der europäischen Kunstmusik linearen Verlauf, sondern bewegen uns abgesehen von einem klar definierten Anfang und Ende frei schwebend durch die Stille zwischen den Klangmodulen von Hörerwartung zu Hörerwartung hin und her.

Das macht jede Entscheidung für Klang oder nicht Klang – was wird wann und wie gespielt – durchaus relevant, und das gefährliche Wort »beliebig« können wir hier positiv auffassen, vielleicht im Sinne von »Adagio« = ad agio, »wie es beliebt«. Das Ganze ist eine Aufforderung zu exquisitestem Geschmack jenseits von Metronomzahlen und anderen Sicherheitsmaßnahmen.
Ich bin hier als Instrumentalistin immer exponiert – die Gefahr ist ja auch am Berg manchmal reizvoll. Auf Gewohnheiten zurückgreifen geht nicht. Und vorher ausrechnen, wie lange dieser Zustand andauern, das Stück also dauern wird, geht auch nicht.
Das Geheimnis also? Georg Friedrich Haas’ Klangvorstellungen sind so genau wie möglich beschrieben, aber er appelliert zwingend an die improvisatorische Fähigkeit eines »wahren Virtuosen«. Und nicht nur an einen Einzelnen, sondern gleichzeitig an alle vier. Höhepunkt ist das Gesualdo-Zitat gegen Ende des Stücks, dessen Einsatz gänzlich ohne Krücke (Absprechen, Atmen, sonstige Zeichen) gemeinsam empfunden und irgendwann nach über einer halben Stunde – die dem einen vielleicht wie Stunden vorkommt, der anderen wie zehn Minuten – erfolgen soll. Zum richtigen Zeitpunkt eben, schauerlich stimmig.

Ich bin vollkommen überzeugt davon, dass das funktioniert, so die Interpreten jenen sagenumwobenen Geschmack beweisen. Aber wir brauchen alle den Mut eines Primarius, der sich traut, einen Vorhalt unverschämt, aber mit den Worten L. Mozarts »geschickt und rührend« zu strecken, seine Melodie frei übers Cello zu schwingen, der Schwerkraft und der Schulmeisterlichkeit trotzend. Weil aber schon die begleitende Rolle des Cellos ausbleibt, ist es – das merken wir schneller als uns lieb ist – natürlich erst recht schwierig. Denn obwohl sich moderne Quartette oft ihrer Demokratie rühmen und darin alle alles können und obwohl das Cello auch in anderen Werken nicht mehr nur begleitet und die Mittelstimmen längst nicht mehr nur Beigemüse sind, ist diese totale demokratische Anforderung so ungemütlich, dass man vielleicht doch lieber die Finger davon lässt, bevor man in ein lächerliches Improvisieren abdriftet, welches sich gerne als »mein unangenehmstes Konzerterlebnis« für immer ins Gedächtnis gräbt. (Und dann das Zwischenmenschliche! Doch das ist ein zu weites Feld.)
Wir beginnen, anders zu denken.
Ausgehend vom Spannungsfeld zwischen Begleitung und Hauptstimme im Sinne Leopold Mozarts, wo der größtmögliche Raum zwischen den auskomponierten Noten, den Klängen und Aufgaben der einzelnen Instrumente in einem zeitlich linearen Ablauf entsteht, landen wir heute bei Haas in einer Situation jenseits von Notenpapier, eindeutig definierter Rollenverteilung und auskomponierter Zeit. Der Raum spielt mit, die Dunkelheit spielt mit, der Moment spielt mit. Da wo wir keine Körper mehr sehen, beginnen wir den Klang als körperlich zu erleben, und Haas wird zum Klang-Choreografen.
»Das 3. Streichquartett ist als Verbalpartitur komponiert, viele Details und Entscheidungen sind den Interpreten überlassen, die sich ausschließlich durch den Klang ihrer Musikinstrumente miteinander verständigen, sich gegenseitig zur Gestaltung bestimmter musikalischer Prozesse einladen, diese Einladungen dann entweder annehmen oder aber selbst wiederum zur Gestaltung eines anderen Prozesses einladen – und dabei immer selbst entscheiden, wie weit sie einen gemeinsamen Weg miteinander gehen wollen, bevor sie sich wieder zurückziehen.«

Dies als Basis. Die klaren Beschreibungen »wie ein Gebirgsbach« der einzelnen Klanginseln können dann beispielsweise so aussehen:
A (Saitengeräusche):
- Sehr leises, kontinuierliches Knarren (mit starkem Bogendruck extrem langsam auf der Saite streichen)
- Übergänge zu sehr leisem diskontinuierlichen Knarren (größtmögliche Differenzierung)
- (Die »Einladung« wird durch knarrende Saitengeräusche eines Instruments ausgesprochen. Sobald ein 2. Instrument diese Einladung annimmt, setzen auch das 3. und 4. Instrument mit Knarrgeräuschen ein.)
Einschübe:
- lang ausgehaltene künstliche Flageoletts col legno gestrichen
- künstliche Flageoletts col legno gestrichen im Accelerando bis zum Tremolo und/oder im Ritardando
- sehr selten (maximal 1 bis 2 mal pro Instrument und pro Realisierung von A): einzelne Töne in der großen Mitte der 3-gestrichenen Oktave sehr leise arco (an der Grenze der Hörbarkeit)
- noch seltener: lautes Knarren
… schrecklich beunruhigende Worte wie selten, sehr selten, die vielen und/oder, ad libitum, mehrfach und andere, die in den Modulen A bis Q auftauchen, muss jedes Quartett eben definieren. Innerhalb der Module ist das vielleicht noch machbar, aber wer bestimmt die Pausen? Der Horror vor dem Nichts verleitet in der Regel dazu, das Instrument in den Fingern ständig und viel zu viel zu benützen, so als wollten wir uns an diesem einzig Fassbaren festhalten um ja nicht verloren zu gehen. Interessant wird das Ganze aber erst dann, wenn wir die Stille als das Kontinuum begreifen – sozusagen Begleitung ohne hörbaren Puls –, worüber wir diese Klanginseln in gemeinsamer Verantwortung entstehen lassen. Ist die Klanginsel oder auch: »Quartettsituation« erreicht, steigen wir aus und horchen wieder der groovigen Stille zu, um dann darüber die nächste Situation entstehen zu lassen.

Sich als Spieler der Partitur und diesem Zusammenspiel mit dem Raum und der Stille so sicher zu werden, wie wir es vermeintlich bei Beethoven und Mozart sind, ist nicht leicht. Der Versuch lohnt sich aber, und wir sind es uns heute schuldig, demokratisch solange zu viert doch über Geschmack zu streiten, bis es funktioniert und der Choral da einsetzt wo »es sein muss«.
Das von Haas bereits 2001 geschriebene Werk ist ein Weg, sich auch als klassische Musikerin mit oft musealem Auftrag wieder an die notwendige, lebendige Impro-Grenze zu bringen und den einen oder anderen Schritt zu wagen, den wir uns im Notengehege nicht zutrauen. Wir müssen durch diese und andere Türen weiter gehen, ausprobieren, suchen, uns auf alles mögliche einlassen. Und sollten auch alle unsere Versuche scheitern, lohnt es sich doch: weil wir beim nächsten Mozart-Quartett auf einmal mutiger, freier, »geschickt und rührender« rangehen, die nächste Verbalpartitur von Anfang an aufs Genaueste untersuchen und uns nicht vor unrealisierbarem Voodoo fürchten, sondern wie selbstverständlich mit allen möglichen Räumen spielen und dann auch in den berühmten und für die Kunst absolut zentralen Geschmacksfragen unabhängiger und entschiedener werden. ¶