Über das Year of European Heritage.

Text · Titelbild »Excavation of the Temple of Isis at Pompeii« von Pietro Fabris (Public Domain) · Datum 20.12.2017

Erben ist mit Trauern verbunden: Jemand ist verstorben. Hinterlässt etwas. Wer erbt, wird von Erinnerungen überschwemmt, muss unweigerlich nachdenken. Über den Verlust. Auch über sich selbst. Fragen ploppen auf: Was tun mit dem Erbe? Stolz drauf sein und es in Ehren halten? Zusehen, dass es schnellstmöglich vergessen wird? Annehmen und damit leben? Es für die eigenen Kinder pflegen und hüten und damit dann unweigerlich auch das eigene Versterben mitdenken? Allerweltsfragen, wohl wahr. Aber sie treffen jeden im Erbfalle irgendwie unerwartet. Wir sollten uns auf diese Fragen jetzt schnellstmöglich eine Antwort überlegen, denn: Wir haben gerade geerbt.

Testamentseröffnung war am 7. Dezember in Mailand, Startschuss in ein Year of European Heritage 2018, zu dem EU-Kommissar Tibor Navracsics staatstragende Worte formulierte: »Die Feierlichkeiten dieses Jahres bieten eine wunderbare Gelegenheit, die Menschen, besonders die jungen, zu ermuntern, Europas reiche kulturelle Vielfalt zu erkunden und über den Stellenwert nachzudenken, den das Kulturerbe in unserem Leben einnimmt. Es ermöglicht uns, die Vergangenheit zu verstehen und unsere Zukunft zu gestalten.«

Nun also steht das europäische Kulturerbe im Fokus. Ausgehend von Erhalt und Pflege von gebautem Kulturerbe wird es – beseelt vom Willen nach Lebendigerhaltung genauso wie nach erfolgreichem Marketing – auch darum gehen, wie die Nachlassverwaltung unserer Kultur generell aussieht.

Dabei nimmt die Musik einen Sonderstatus ein. Musik ist in der Erbmasse unserer Kultur vom Wesen her erstmal sowas wie eine Untote. Sie lebt mit jedem Erklingen neu auf, gleichzeitig stirbt sie im Augenblick wieder, in dem der Ton verklingt.

Foto Internet Archive Book Images (Public Domain)
Foto Internet Archive Book Images (Public Domain)

Eines Notenautographs wird sich ein Archivar, eines historischen Hauses ein Denkmalpfleger, eines alten Instruments ein Instrumentenbauer annehmen und es behutsam zu erhalten versuchen. Der Schutz dieses materiellen Musik-Kulturerbes, sein Bewahren, Behüten, Erhalten, sein – wenn man so will – Festhalten zählt hier. Musik festhalten? Verwalter des Immateriellen sind die Musikschaffenden. Und: das Publikum. Wir alle. Und was ist unsere Aufgabe als Kulturerbe-Verwalter? Halten wir auch fest, um zu bewahren, zu behüten und zu erhalten?

Die Frage nach der Rolle des Musikerbes in unserem Leben bzw. unserer Gesellschaft ist eine spannende, ja überfällige Frage. Wer eintaucht in die Debatte ums Bewahren von Musikerbe braucht nicht lange zu schwimmen, bis er an den Beckenrand stößt. An Grenzen, und zwar solche, die an Traditionen festhalten, damit scheinbar immer weniger Akzeptanz erfahren und angeblich auf schwindendes Interesse treffen, deren Nutzer überaltert und deren Finanzierung überteuert scheinen, deren konservative oder gar reaktionäre Strukturen und Ästhetik möglicherweise nicht aktiv hinterfragt werden. Kurz und mit Mut zur Verallgemeinerung gesagt: Er stößt an die Grenzen unseres Mainstream-Klassikbetriebs.  

Das Problem liegt klar auf der Hand. Musik erben ist schwierig, zumindest: völlig anders als Erbschaften sonstiger Kulturgüter. Denn unter Schutz gestellt bleibt Musik keineswegs automatisch erhalten. Im Gegenteil: unter Schutz gestellt ist sie höchst gefährdet. Kulturdenkmale wie Kirchen, Burgen oder Brunnen, Statuen oder historische Stadtbilder sind als steinerne Zeugnisse das, was wir beim Gang durch unsere Welt am Wegesrand sehen, was manchmal im Weg steht oder anderenorts Orientierung gibt. Ja, jeder alte Dorfbrunnen kann eine Rolle in unserem Leben spielen, auf dass wir Geschichte sehen, und mehr noch: auf dass wir Geschichte fühlen und an ihr Durst stillen können. Kulturelles Erbe wird an solchen Orten greifbar, wird Teil unseres Lebens, in seiner altertümlichen, von Geschichte erzählenden Art eine Wegmarke unserer kulturellen Identität.

Wir werden viel vom Schutz unserer Kulturdenkmale hören, im Europäischen-Kulturerbe-Jahr 2018, und das ist gut so. Aber wir werden es deutlich fühlen: Jede Unterschutzstellung wird Verlustängste befeuern. Auch das Unesco-Komitee will retten, was gefährdet scheint und hat darum vor kurzem die Orgellandschaft in Deutschland auf die Liste des dringend schützenswerten »immateriellen Kulturerbes« gesetzt. Es ist nicht nur Orgelmusik, die nun unter einer Art Denkmalschutz steht, sondern es sind »Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten – sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume, die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen«. Wird diese hügelige Kulturerbschaft nun beim nächsten Orgelkonzert mitschwingen? Was bedeutet sie für die Kunst bzw. Musik, die auf einer Orgel dieser schützenswerten immateriellen Landschaft zu hören sein wird? Welcher Art Schutz wird darin der Musik selbst gewährt? Vielleicht der, aus eben jener Schutzzone ausbrechen zu dürfen? Ähnliche Fragen werden sich ab März in Leipzig stellen. Das »Europäische-Kulturerbe-Siegel« wird dann von der EU-Kommission an Orte wie die Thomaskirche, das Mendelssohn-Haus oder das Verlagshaus von C.F. Peters geheftet. Leipzigs neun so besiegelte Musikstätten – und in diesem Falle handelt es sich um bauhistorisches Erbe der Musikgeschichte – erhalten eine Auszeichnung, die sie als Kulturerbe adelt. Was bedeutet das für die Kunst, die dort gemacht wird? Ein Konzert im »Europäischen Kulturerbe« Gewandhaus klingt dann wie? Geschützt? Und der Konzertraum wird zum Schutzraum?

Foto Internet Archive Book Images (Public Domain)
Foto Internet Archive Book Images (Public Domain)

Die Erbengemeinschaft der Musikschaffenden und Musiklauschenden muss etwas tun, sollten all diese Kulturerbe-Titel mehr sein als ein hilfreiches Marketing-Etikett. Und sie wird das auch tun, keine Frage. Aber was?

In die Luft jagen wird man die unter Schutz gestellten Stätten nicht mehr. 1967 trat Pierre Boulez als Sprengmeister auf und damit eine spannende Kulturdebatte los. Eine Sprengung der Opernhäuser sei die »eleganteste« Lösung, der künstlerischen Stagnation in diesen Häusern zu begegnen. »In einem Theater, in dem vorwiegend Repertoire gespielt wird, da kann man doch nur mit größten Schwierigkeiten moderne Opern bringen – das ist unglaubwürdig«, wetterte der Komponist damals im Spiegel und befeuerte so eine kulturpolitische Diskussion um den zeitgenössischen Umgang mit Kultur und der Kunstform Oper. Und heute, ein halbes Jahrhundert später, könnte diese Debatte ihrerseits als Kulturerbe der Musikgeschichte unter Schutz gestellt werden. Aber was hat sich die Kunstform Oper von dieser Selbstreflexions-Erbmasse künstlerisch bewahrt? Welche Antworten hat sie in den letzten fünf Jahrzehnten darauf gefunden?

Die Grenzen zwischen vermeintlich Neuem (etwa die x-te Aufnahme eines romantischen Konzerts mit einer marktkonform abbildbaren hübschen Solistin) und vermeintlich Altem (etwa klassischen Konzertformaten) verschieben sich. Und zwar zu Ungunsten der Zeitkunst Musik. Neu ist dann, was auf Altes zurückgreift. Eine Art musikalischer Historismus, der sich an Vergangenem solange ergötzt, bis er dessen Zeitgenossenschaft zu spüren meint. Der Kanon, aus dem sich die Programme unserer Konzerte speisen, bezeugt, was wir als moderne, kunstwollende Kulturerben vielleicht nicht wahrhaben wollen. Wer dem künstlerisch Alternatives – vielleicht wirklich Zeitgenössisches – entgegensetzen will, versucht sich dann im Zöpfe-Abschneiden. »Neuland.Lied« zum Beispiel, das »Zukunftslabor des Liedes« beim Festival Heidelberger Frühling.

Anzeige des Festivals Heidelberger Frühling
Anzeige des Festivals Heidelberger Frühling

Da liegt ein Zopf – fürs Protokoll: es ist kein alter sondern ein junger Zopf, geflochten aus nußbraunem Haar – auf einem großen, runden Schneidebrett. Wer führt das Messer? Noch ist der Zopf nicht ab, aber man sieht: das Messer wird kraftvoll heruntergedrückt, es kann nicht mehr lange dauern. Der Kopf mit dem Zopf ist gesenkt wie zur Guillotinierung. Ich fühle mich unwohl beim Gedanken, dass der Zopf im nächsten Moment ab ist. Ok, ein Plakat ist ein Plakat und will etwas Plakatives. Aber ich werde dieses Unwohlsein gegen plakatives Zöpfe-Abschneiden nicht los. Was in Heidelberg nun im dritten Jahr in Punkto Kunstlied passiert, hat nichts Verzopftes. Aus einer Liedtradition der Stadt heraus hat das Festival programmatisch etwas entwickelt, was Kulturerbe aufgreift um daraus Kunst zu machen. Warum lassen sie den jungen Zopf nicht einfach dran? Fällt er auf dem Opferblock des unbedingten Wunsches nach Zeitgenossenschaft? Die großen Liederzyklen von Robert Schumann werden 2018 in Heidelberg aufgeführt, man wird sie in all ihrer Schönheit hören, dazu mannigfach Ungewohntes im Programm finden und nie das Gefühl haben, hier wäre eine neue Frisur fällig.

»Das Gegenteil des Neuen ist keineswegs das Alte oder Bewährte, sondern das allzu Gewohnte oder Abgebrauchte«, stellt Dieter Schnebel 1991 in seiner Schule der Kunst des Neuen wunderbar klug und lakonisch fest, »wie auch das Neue selbst nicht einfach mit dem Jungen gleichzusetzen wäre.«

Foto Internet Archive Book Images (Public Domain)
Foto Internet Archive Book Images (Public Domain)

Eigentlich ist das Neue vor allem das noch nicht Dagewesene, und das kann durchaus auch das Alte sein. An dieser Stelle ist in einer vergilbten Musikgeschichte mit Säurefraß ein Eselsohr am Rand einer brüchigen Buchseite. In einem dicken Folianten der musikalischen Denkmalpflege: 1829 ist Felix Mendelssohn Bartholdy 20 Jahre alt und arbeitet daran, erstmals nach über hundert Jahren Bachs Matthäus-Passion aufzuführen. Was er da einstudiert, ist ›neue‹ Musik. Unerhörte. Er tritt als junger Mann mit einer klaren, modernen Haltung sein musikalisches Erbe an. Zeitlos.

Musik für sich betrachtet ist immer neu. Entsteht im Moment und ist wesenhaft zeitgenössisch. Was wir daraus machen jedoch, das ist nicht selten anachronistisch.

Vielleicht fällt‘s nicht gleich beim ersten Ton einer Mozartsinfonie auf, aber spätestens bei der aktuell geführten Kulturerbe-Diskussion schon: Musik ist wieder politisch. Im Prinzip war sie es immer schon, unmerklicher als die anderen Künste zwar, aber dennoch hörbar. Aber jetzt – und das ist vielleicht das besondere – ist es nicht das Zeitgenössische, das politische Diskussionen auslöst, sondern das Traditionelle, Identitätsstiftende: das Erben selbst wird zum Politikum. Vor allem dort, wo es als Besitzstandswahrung begriffen wird. Erbstreitigkeiten drohen. Enterbungen erfolgen.

Seit 2014 schon zählt die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft zum immateriellen Kulturerbe und genießt Unesco-Schutz. Eine kritische Bilanz, was dieser Platz auf der honorigen Denkmalliste für die Kunst selbst bedeutet, fällt bei Hartmut Welscher hier in VAN ernüchternd aus: »Für das ›Weltkulturerbe Orchesterlandschaft‹ gilt, was auch für viele andere Erbgüter zutrifft: Den Einen ist es egal, die Anderen wollen es so erhalten, wie es überliefert ist. So wie Meißner Porzellan in der Vitrine: es genügt, es ab und an abzustauben und zurückzustellen. Ansonsten kann es gerne so aussehen wie schon unter August dem Starken«.

»Musik ist in der Erbmasse unserer Kultur vom Wesen her sowas wie eine Untote.« Über klassische Musik als Erbmasse mit Konfliktpotential in @vanmusik.

Musikalische Restaurationsbewegungen oder gar Revolutionen erfolgen in Wellenbewegungen. Wellen, die nicht nur die Kunstschaffenden selbst sondern auch ihr Publikum erfassen. Während vor zehn Jahren das Gespenst vom Wegsterben des Klassikpublikums der Musikvermittlung Flügel verlieh, spricht heute niemand mehr vom Schwund des Publikums. Heute geht es um dessen Diversifizierung. Konzertformate sind jetzt das Gebot der Stunde, individualisiert, zielgruppenspezifisch, integrativ und innovativ, in jedem Falle kuratiert und kommuniziert. Und um was wird es in weiteren fünf Jahren gehen? Oder gar in fünfzig? ¶