Während des ersten Lockdowns im März haben Musiktherapeut:innen in Österreich das Online-Angebot »Lieblingslied« ins Leben gerufen: Interessierte können sich auf der Webseite des Projekts ein Musikstück wünschen und ihre Kontaktdaten angeben. Bei einem Telefon- oder Videogespräch spielt eine:r der ehrenamtlich im Projekt mitarbeitenden Musiktherapeut:innen den Musikwunsch vor. Anschließend  unterhält man sich über das gemeinsam Gehörte: Warum gerade dieses Lied, welche persönliche/biografische Bedeutung hat es, welche Erinnerungen hat das Hören gerade hervorgebracht? Ziel des Angebotes sei es, »die individuellen Ressourcen der Menschen zu stärken, ihnen eine positive und vitalisierende Erfahrung zu ermöglichen und persönlichen Krisen vorzubeugen«, wie es auf der Webseite heißt. Hartmut Welscher hat mit Hannah Riedl, Musiktherapeutin und eine der Koordinator:innen des Projekts, über die Wirkung von Musik, die psychischen Folgen des Lockdowns und Musik als Zeitkapsel für menschliche Erfahrungen gesprochen.

Hannah Riedl • Foto privat
Hannah Riedl • Foto privat

VAN: Wie ist das Projekt ›Lieblingslied‹ entstanden?

Hannah Riedl: Während des ersten Lockdowns gab es ja in ganz Europa Balkonkonzerte. Mein Kollege Manuel Goditsch [Vorstand im ÖBM – Österreichischer Berufsverband der MusiktherapeutInnen] hatte damals in seiner Hausgemeinschaft einen Zettel aufgehängt, auf dem Nachbarn sich Lieder wünschen konnten. Er hat 60 Tage lang jeden Abend um 18 Uhr eines dieser Lieder mit Gitarre vom Balkon aus gesungen. Im Gespräch mit Thomas Stegemann [dem Leiter des Instituts für Musiktherapie an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien] ist dann die Idee entstanden, dass man so etwas als Musiktherapieprofession weiter in die Gesellschaft tragen kann und online aufbauen kann.

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Welches sind Ihre Zielgruppen?

Ursprünglich richtete sich das Angebot vor allem an ältere Menschen oder solche, die zur Risikogruppe gehören. Wir haben dann gemerkt, dass viele andere Leute andocken. Es haben zum Beispiel öfter Familien für ihre Kinder angerufen, oder auch junge Erwachsene. Wir haben darum das Projekt geöffnet für alle Menschen, die sich belastet fühlen.

Sie spielen dann am Telefon oder im Video-Gespräch das Stück live mit Instrument?

Je nach Musikwunsch. Wenn episch-orchestrale Filmmusik, wie zum Beispiel aus ›Herr der Ringe‹, gewünscht wird, dann ist das natürlich mit einer Gitarre nicht so leicht umzusetzen. In solchen Fällen bieten wir an, dass man sich die Musik gemeinsam anhört. Es geht ja um das geteilte Erlebnis. Das bringt einfach eine ganz andere Qualität mit sich, als wenn man alleine zu Hause sitzt, insbesondere, wenn man danach noch darüber sprechen kann.

Können Sie mir ein paar Beispiele von Teilnehmenden und ihren Musikwünschen nennen?

Die meisten Liedwünsche docken an bestimmte biographische Erfahrungen an. Wir hatten eine ältere Dame, die in einem ländlichen Teil der Steiermark wohnt, ursprünglich aber aus Norddeutschland kommt. Die hat sich das Lied Wo die Nordseewellen… gewünscht, und es war ihr wichtig, dass es auf Plattdeutsch gesungen wird, weil sie es in ihrer Kindheit immer gehört hat und es ganz starke Verbundenheitsgefühle zu ihrer ursprünglichen Heimat auslöst. Das hat gut geklappt, weil wir glücklicherweise einen Kollegen hatten, der plattdeutsch kann. Eine Mutter hat sich gemeldet, deren Sohn schwer krank und schon lange in Isolation ist, aber durch Corona nochmal verstärkt. In einer Institution, in der er behandelt worden war, gab es im Rahmen einer Musiktherapie ein Lied, das für ihn sehr wichtig wurde. Sie hat sich das Lied gewünscht, um diese Erinnerung aufleben zu lassen.

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Das heißt, meistens geht es um die Reaktivierung einer schönen Erinnerung?

Es ist meistens ein Musikstück, das an positive Zeiten oder kräftige Lebensphasen erinnert. Aber es kommt auch vor, dass es eher um das Tröstende geht, das man aus einer Musik erfährt, zum Beispiel wenn ein Lied eine Verbindung zu einem schon verlorenen Menschen wiederherstellt.

Besteht nicht die Gefahr, mit der Musik ein emotionales Fass aufzumachen, das im Rahmen des anschließenden halbstündigen Gesprächs gar nicht wieder zu schließen ist?

Da geht es darum, in der Gesprächsführung nicht nachzubohren und in die Tiefe zu gehen, sondern eine präsente, zuhörende, verstehende Haltung einzunehmen. Unsere Erfahrung ist interessanterweise, dass das Gespräch nach dieser halben Stunde meistens auch recht rund geschlossen ist. Wir schreiben ganz deutlich, dass wir kein Krisenkontakt sind. Falls nötig vermitteln wir dann im Gespräch die Nummern der entsprechenden Krisentelefone.

Warum ist Musik eigentlich besonders gut dafür geeignet, so eine Verbindung zu einer Erfahrung oder Erinnerung herzustellen?

Musik spricht ganz viele Gehirnregionen gleichzeitig an. Es gibt nicht ein ›Musikareal‹ im Gehirn, es wirken ganz viele verschiedene Ebenen zusammen. Gleichzeitig ist Musik wie eine Zeitkapsel, ein Zeitreisetool. Musik speichert so viele unterschiedliche Ebenen eines Menschen – emotionale Konnotationen, Erinnerungen, körperliche Empfindungen. Das kann man wiederaufleben lassen. Jeder Mensch hat eine individuelle musikalische Biographie. Ich bin überhaupt keine Anhängerin dieser ›musikalischen Hausapotheke‹, das man sagt, ›Lied xy wirkt so und so‹, ›bei Depressionen hören Sie dieses und jenes‹. Das funktioniert erfahrungsgemäß nicht.

Während meines Zivildienstes in der Altenpflege hat mich immer wieder erstaunt, wie gut ältere Menschen sich an Lieder, insbesondere Kinderlieder, erinnern und diese in vielen Strophen auswendig singen können. Woran liegt das?

Es gibt gerade im Demenzbereich laufend Studien und immer mehr Wissen darüber, dass diese frühen Erfahrungen, die mit Liedern und Liedtexten verbunden sind, oft von der Demenz unberührt bleiben. Das sind Erinnerungen, die sind so tief gespeichert, dass sie ansatzlos reaktiviert werden können. Demenzkranke Menschen können die Liedtexte oft strophenweise singen, während das Kurzzeitgedächtnis gar nicht mehr funktioniert. Für die Musiktherapie ist es eine unglaubliche Chance, das Selbstwertgefühl demenzkranker Menschen zu stärken. Wenn sie etwas singen, haben sie das Gefühl, etwas zu können, sie erinnern sich an etwas, können etwas beitragen und sind kompetent. Das ist ein schöner Schlüssel, um in Kontakt zu kommen. Oft ist auch körperlich ganz eindrücklich, wie alte Menschen sich im Liedersingen öffnen und aus sich herauskommen. Kaum ist das Lied zu Ende, sackt wieder viel zusammen.

Welche psychischen Auswirkungen haben Pandemie und Lockdown?

Das Zurückziehen und Zurückziehen-Müssen hat natürlich klare Folgen auf die Stimmungslage. Sich erschöpft fühlen, nicht so viel Ablenkung vom Alltag zu kriegen, das sind Dinge, die viel beschrieben werden. Die Situation der Isolation hat sich chronifiziert, die Möglichkeiten, etwas zu erleben, sind so eingeschränkt … Man merkt das Bedürfnis nach Ansprache, nach einem Ohr, zu erzählen, wie es einem gerade jetzt geht. Gleichzeitig gibt es das Phänomen, dass sich zum Beispiel manche psychisch erkrankten Menschen durch die Lockdown-Maßnahmen auch stabilisieren konnten, weil sie nicht gezwungen waren, in den sozialen Kontakt zu gehen. Weil es also quasi ›in Ordnung‹ war, so zu leben, wie sie es sonst tun, und weil es das Gefühl von geteiltem Leid gab. Aber es gibt natürlich auch die Menschen, deren psychische Vorerkrankungen sich verschlimmert haben.

Finden Sie, dass über diese psychischen Folgen zwischen all den Kurven, Zahlen, Inzidenzwerten genug gesprochen wird?

Im Frühjahr wurde das komplett ignoriert, da ging es erstmal darum, die Kontrolle zu bewahren. Jetzt im Herbst ist das mehr im Gespräch, zumindest bei uns in Österreich. Aber es gibt auch viel Hilflosigkeit, weil man nicht weiß, wie man dem begegnen soll, weil die Priorität gleichzeitig erstmal sein soll, das Ansteckungsrisiko gering zu halten. Ich denke, der Diskurs über Zahlen und Kurven ist oft auch der Versuch, eine fühlbare Kontrolle herzustellen, ein unsichtbares Ding wie ein Virus fassbar und angreifbar zu machen. Die psychischen Prozesse sind oft viel langsamer und kommen erst zeitversetzt zum Vorschein. Ich habe als Musiktherapeutin im St. Anna Kinderspital in der Kinderonkologie gearbeitet. In der Akutsituation, wenn es darum geht, die Erkrankung zu beherrschen und zu bekämpfen, da funktionieren die Menschen erstmal, da geht auch ganz viel. Die psychische Anpassungsfähigkeit des Menschen ist ein irres Phänomen. Danach, wenn das Ärgste vorbei ist, werden, glaube ich, die ganzen Folgen erst sichtbar und spürbar, dann wird auch erst eine wirkliche Auseinandersetzung damit stattfinden.

In der Klassik gibt es oft Vorbehalte gegenüber Musik als ›Mood Management‹: Dass man Musik benutzt, um sich in eine bestimmte Stimmung zu versetzen. Das ist aber wesentlicher Bestandteil von Musiktherapie. Gibt es da eigentlich Berührungsängste zwischen beiden Professionen?

Ich kann das sehr gut nachvollziehen, weil ich persönlich ganz in der Klassik verhaftet bin. Ich singe im Wiener Singverein, für mich war klassische Musik immer ›die Religion‹, viel mehr als alles andere. Auf der anderen Seite ist es eine sehr kleine Nische, selbst innerhalb der Musikwelt. Das Gros der Menschen geht nicht so mit Musik um wie klassische Musiker, sondern benutzt Musik, um eine lässige Zeit, einen Hintergrund zu haben, sich nicht alleine zu fühlen. Ich glaube, Stimmungsregulation, sich zu spüren mit Musik, ist eine Funktion von Musik, die man ihr auch nicht wegnehmen sollte.

Sind klassisch ausgebildete Musiker:innen wegen des Hangs zu Perfektionismus vielleicht sogar die schlechteren Musiktherapeut:innen?

Das schließt sich nicht aus, glaube ich. Ich bin, was meine eigene musikalische Tätigkeit angeht, sehr perfektionistisch. Aber meine Rolle als Musiktherapeutin hat den Blick auf Musik, und die Funktion die sie haben kann, sehr erweitert. Als Musiktherapeutin geht es mir nicht um Perfektion, sondern um andere Dinge, die ganz an dem Menschen, der in die Therapie kommt, orientiert sind. Im Chor bin ich wiederum sehr perfektionistisch. Wenn ich da mit meiner Musiktherapeutinnen-Haltung rangehen würde, käme nichts dabei heraus, was man im Musikverein aufführen könnte (lacht).  

Haben Sie einen musiktherapeutischen Tipp für den Corona-Alltag?

Mein Tipp wäre, sich zwischendurch einen Rahmen zu schaffen, um ganz bewusst ein Lied oder eine Musik anzuhören, die man aus der eigenen Biographie kennt, die man gern hat. Schauen: Was kommt dabei auf? Bewusst Dinge genießen, sich einen Moment schaffen, der einen rausreißt aus dem Alltag. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com