Du wurdest 1971 in Genf geboren und hast in Zürich Oboe studiert. Seit 2007 bist du Englischhornistin des Orquesta Filarmónica de la Ciudad de México. Wie kam es dazu?

Das ist eigentlich eine ganz klassische Geschichte: Nach dem Studium habe ich als freie Musikerin in verschiedenen Orchestern gespielt und dabei meinen späteren Mann kennengelernt. Mauricio stammt aus Mexiko-Stadt, hat lange als Bratscher in der Schweiz gearbeitet und ist dann in seine Heimat zurückgekehrt. Ich habe ihn dort besucht. Als sich herausstellte, dass es mit uns weitergeht, bin ich 2000 zu ihm gezogen und habe zunächst frei gearbeitet.

Wir Europäer hängen ja ein bisschen an der Vorstellung, dass Musikalität in den lateinamerikanischen Ländern jedem in die Wiege gelegt wird.

(Lacht) Bei dem Lied, das wir in Mexiko statt Happy Birthday singen, krähen alle ganz entsetzlich laut und schief. Es gibt hier keine Chorkultur wie in Europa. Aber aus Zentralmexiko oder dem Süden, vor allem aus der Provinz Oaxaca, kommen sehr gute Musiker.

Welche Art Musik wird dort gespielt?

Dort existiert eine lange Volkstradition der banda-Kapellen. Orchesterinstrumente wie Posaune, Trompete oder Klarinette, die in dieser Musik gebraucht werden, sind sehr verbreitet. Ihre Beherrschung wird innerhalb der Familie weitergegeben. Die Musiker sind weniger spezialisiert als bei uns. Sie spielen vielleicht erst Trompete, später Posaune oder Tuba, was gerade gefragt ist. Der Posaunist Faustino Diaz kommt aus so einer Familie. Er war in Mexiko-Stadt Solo-Posaunist, hat in Europa weiterstudiert, dann in Korea einen wichtigen Wettbewerb gewonnen und gerade eine Stelle an der Oper Zürich bekommen.

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Wie international ist die mexikanische Orchesterszene?

Es gibt immer wieder Phasen, in denen es politisch nicht erwünscht ist, Ausländer einzustellen. Das betrifft übrigens nicht nur das Musikleben, sondern alle Berufe. Bei manchen Instrumenten wie Horn oder Oboe ist die inländische Konkurrenz aber so winzig, dass das Niveau der Probespiele dann sehr niedrig ausfällt.

Vor allem in den Streichersektionen sitzen gute Musiker aus Osteuropa. Einige Oboisten stammen aus den USA. Sie haben die hiesige Vorstellung vom Oboenklang beeinflusst. Mit meinem mitteleuropäischen Ton falle ich sehr aus dem Rahmen – und als Frau gleich doppelt.

»Manche Kollegen sind sicher erleichtert, dass ich nicht Solo-Oboistin bin, sondern das Etikett ›Exotin am Englischhorn‹ trage. Das ist weniger gefährlich für sie. Manchmal ärgert mich das. Aber Chauvinismus im Orchester gibt es ja überall.«

Mexikos Hauptstadt leistet sich sechs professionelle Orchester. Ist die Lage der klassischen Musik komfortabel?

Mexiko ist ein schönes und enorm reiches Land. Aber das Geld versickert. Ein Grund dafür ist, dass ein Politiker nur für eine einzige Amtsperiode von sechs Jahren beispielsweise als Bürgermeister gewählt werden kann. Danach ist Schluss. Es gibt also keinen Anreiz, sich bei der Selbstbedienung zurückzuhalten und zu Wahlversprechen zu stehen. Das macht die Situation der Kultur und damit der klassischen Musik unvorhersehbar.

Ist Orchestermusiker/in in Mexiko trotzdem ein erstrebenswerter Beruf?

Man hat sein Auskommen, die Lebenshaltungskosten sind bei weitem nicht so hoch wie in der Schweiz. In meinem Orchester gab es aber bis vor kurzem kaum eine finanzielle Absicherung bei Krankheit. Das galt auch für die Rente. Ältere Orchestermusiker waren gezwungen, weiterzuarbeiten. Sie wussten selbst, dass sie nicht mehr auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit waren und natürlich merkten das die jüngeren Kollegen. Eine sehr angespannte Situation. In anderen, gewerkschaftlich organisierten Orchestern hat man dieses Problem auch hier schon längst gelöst.

Was war für Dich die größte Umstellung?

Die Erfahrung, dass sich die Menschen in Mexiko viel weniger an Zusagen gebunden fühlen als ich es gewohnt bin. Das gilt im privaten Bereich, etwa bei Einladungen, wie im Beruf. Man sagt zum Beispiel Proben für zwei Projekte zu, obwohl ganz klar ist, dass man dazu an entgegengesetzte Enden der Stadt fahren muss und niemals rechtzeitig von A nach B kommt. Aber man spekuliert darauf, dass sich ohnehin alles verschiebt oder Termine umgelegt werden. Manchmal geschieht das, doch oft genug wird eines der Ensembles einfach versetzt. Verantwortlich fühlt sich niemand und es wird toleriert.

Redest du mit Deiner Familie manchmal darüber, in die Schweiz zu ziehen?

Zur Zeit nicht, aber vielleicht wenn Mauricio und ich Pensionäre sind (lacht). In der Schweiz sind die Lebenshaltungskosten sehr hoch und mit einem Instrument wie der Oboe muss man als freier Musiker enorm viel umherfahren, wenn man vom Unterrichten und Spielen leben will. Hier haben wir ein Haus und genügend Zeit und Freiraum, unsere beiden Töchter aufzuziehen. ¶

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