Einleitung zur Serie

Die sogenannte »Alte Musik« hat großes Pech mit ihrer Etikettierung. Wer will schon alt sein? Gemeint war der Begriff ursprünglich mal als Kampfansage an das musikalische Klassik-Establishment, eine Abgrenzung, ein Ausrufezeichen des »wir-sind-anders«. Etwas subversiv-alternativ, manchmal vielleicht auch naiv. Inzwischen hat sich die Alte Musik selber ins Establishment geschlichen, in die Hochschulen, die Konzertsäle und die Medien.

Unendlich viele Aufnahmen Alter Musik sind erschienen, Dutzende mehr oder weniger stark unterschiedliche Vergleichsaufnahmen der Hauptwerke, selbst Musik von Komponisten aus der dritten Reihe ist vielfach eingespielt worden, Entdeckungen werden immer seltener.

Vielleicht ist es deshalb wichtig, im Dschungel der Vielfalt etwas Orientierung zu bieten. Dies ist die dritte Folge von FAT CREAM, einer Reihe, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder enzyklopädischen Charakter erhebt. Sie ist kompromisslos aus Lieblingsstücken, Lieblingsaufnahmen, Lieblingskünstlern oder autobiografisch gefärbten Hörerlebnissen zusammengestellt. 

Musik, die glücklich machen kann, Musik die mir wichtig erscheint, für mich wichtig ist oder war. Und Klangwelten, in die man hineingezogen wird. Die spannende Frage an mich selber dabei ist: Gibt es Aufnahmen, die auch über längere Zeiträume hinweg alle Moden, sich verändernde Hörgewohnheiten, technische Errungenschaften und Geschmacksentwicklungen überdauern? Welche Aufnahmen haben das Potential eines »Klassikers«? Mit dieser Fragestellung durchforste ich jetzt neuerdings mein Gedächtnis wie meine Alte-Musik-CD-Sammlung und befrage Freunde und Kolleg/innen. Und begegne altvertrauten musikalischen Begleitern wieder, die ich fast vergessen hatte – obwohl ich ihnen viel zu verdanken habe.


Heinrich Schütz: Il Primo Libro de Madrigali

The Consort of Musicke, Anthony Rooley
Deutsche Harmonia Mundi, 1985

In der ersten Folge gleich ein vor 30 Jahren aufgenommener Klassiker: Diese CD gehört meiner Meinung nach zu den schönsten Madrigalaufnahmen ever. Ende der 1980er Jahre war das legendäre Consort of Musicke auf seinem künstlerisch-stimmlichen Höhepunkt: Emma Kirkby, die erste Sopranistin des Ensembles, prägte mit ihrer glasklaren Stimme die vokale Idealvorstellung einer ganzen Interpreten-Generation. In dieser Aufnahme ist sie nur die 1. Sopranistin von insgesamt acht ebenfalls herausragenden Sängern, die sich die fünf Stimmen der Madrigale optimal aufgeteilt haben. Sprache, Ausdruck, Klanghomogenität und Intonation sind kaum besser vorstellbar. Für Liebhaber von a cappella Musik ist diese CD eigentlich unverzichtbar. Und für alle, die Heinrich Schütz immer für einen staubtrockenen, protestantischen Kirchenmusikkomponisten gehalten haben, ist die CD ebenso dringend zu empfehlen: Denn aus dieser Musik spritzt nur so das pralle Leben. Auf der Basis zeitgenössischer italienischer Gedichte entfaltet Schütz mit unglaublichem musikalischen Erfindungsreichtum die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühlsregungen auf engstem Raum.

Die Sammlung von 19 Stücken war das Gesellenstück des 26jährigen Komponisten nach einer zweijährigen »Lehrzeit« bei dem größten damals lebenden Musikmeister seiner Zeit, dem San Marco Kapellmeister Giovanni Gabrieli. In dem am 1. Mai 1611 gedruckten Werk findet sich ein Vorwort, in dem Schütz seinem großzügigen Mäzen, dem Landgrafen Moritz von Hessen, dankt:

»Sie haben mir den Anstoß gegeben, nach Italien zu gehen und mich in jene Woge zu stürzen, die ganz Italien mit höherem Rauschen als jede andere dahin reißt, so dass sie der Harmonie des Himmels ähnelt – ich meine den hochberühmten Gabrieli, der mich zum Teilhaber des Goldes seiner Küste gemacht hat.«

Schöner kann man eigentlich nicht formulieren, warum man sich diese CD anhören sollte: Die Musik ist das berauschende Meisterstück eines Meisterschülers, von Meistern ihres Faches fast unübertrefflich gut musiziert.

Mein Lieblingstrack ist übrigens Nr. 7, Ride la primavera – der Frühling lacht. In Kombination mit ein bisschen Herbstsonne kann man das aber auch ganz gut hören. 

Die CD gehörte zu meinen allerersten, wahrscheinlich 1987 gekauft. Abgespielt auf einem Compact Disc Player der ersten Generation, natürlich gebraucht gekauft, sonst hätte ich mir den nicht leisten können. Aber man konnte endlich ohne Rauschen in aller Ruhe Musik hören, besonders mit Kopfhörern. Eine Sensation. Vor Track 9 hört man übrigens ganz kurz einen Vogel zwitschern … ¶

... gründete nach Stationen als Techniker, Barockgeiger, Musikwissenschaftsstudent und Konzertagenturbetreiber gemeinsam mit Jochen Sandig 2006 das Radialsystem in Berlin. Er war Künstlerischer Leiter des Radialsystems, des Musikfest ION in Nürnberg und ist Intendant der Köthener Bachfesttage. Außerdem leitet er gemeinsam mit Hans-Joachim Gögl die Montforter Zwischentöne in Feldkirch/Vorarlberg.