Tenor Allan Clayton im Interview

Text · Titelbild © MONIKA RITTERHAUS · Datum 27.6.2018

Allan Clayton fegt als ein lebhafter Jupiter im schwarzen Dreiteiler mit pinken Socken über die Bühne der Komischen Oper. In Händels Semele verliebt sich der Gott in eine Sterbliche. Als Clayton die Zeilen »Where’er you tread the blushing flow’rs shall rise / And all things flourish where’er you turn your eyes« aus der berühmten Arie  Where’er you walk singt, spüre ich auch im Saal etwas erblühen – keine Blumen, sondern eher Aufmerksamkeit und Ergriffenheit. Seine Stimme klingt sanft, zart und rein – Eigenschaften, die man von Tenören nicht unbedingt kennt. Einige Wochen später treffe ich Clayton – diesmal im sportlichen Adidas-Outfit –  nahe der Komischen Oper auf einen Kaffee.

VAN: Du hast Jupiter lustig, fast ein bisschen albern interpretiert. Warum?

Allan Clayton: Ich hoffe, jetzt nicht direkt mit irgendeinem Schwachsinn in dieses Interview zu starten, aber kommt das Wort ›jovial‹ nicht von ›Jupiter‹? Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das stimmt. [Tut es. d. Red] Aber eigentlich ging es darum, meine Art sinnvoll einzusetzen. Ich bin kein schlanker, gutaussehender Kerl. Ich bin eher dieser bärtige Typ mit Übergewicht, obwohl ich ziemlich leichtfüßig sein kann. Aber Jupiter hat eben diese menschliche Gestalt angenommen, er genießt diesen Körper, liebt sein langes Haar. Er empfindet zum ersten Mal wie ein Mensch: Liebe, Humor, Trauer, Verlust. In dem Spiel mit Semele beginnt er zu begreifen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Semele wird im Oratorium vorgeworfen, zu eitel zu sein. Musst Du Dich als Schauspieler in die Moral dieser Welt hineinversetzen, wenn Du auf der Bühne stehst? Oder funktioniert das auch mit einem gewissen Abstand?

Das funktioniert definitiv auch mit Abstand. Aber als Jupiter liebe ich Semele als Mensch. Ich warne sie wieder und wieder, dass sie sterben wird, wenn ich meine wahre Gestalt zeige. Für mich hat das gar nicht so viel mit Eitelkeiten zu tun, sondern mit Liebe.

Semele wirkt stellenweise sehr weit weg von unserer heutigen Zeit – es gibt zum Beispiel diese Slut-Shaming-Passagen.

Aber so fremd ist uns das heute doch gar nicht, oder? In all diesen Reality-TV-Shows, ›Love Island‹ und so, werden Leute dafür fertiggemacht, dass sie vor laufender Kamera Sex haben, dass sie andere hintergehen oder ihr T-Shirt ausziehen. Die Idee dahinter – die ich nicht teile – scheint zu sein, dass Leute, die sich aus freien Stücken in die Öffentlichkeit begeben, es verdienen, beleidigt und beschimpft zu werden. Das sollte aber nicht so sein.

Allan Clayton und Nicole Chevalier in Semele • Foto © Monika Ritterhaus
Allan Clayton und Nicole Chevalier in Semele • Foto © Monika Ritterhaus

Du hast eben von Deinem Körper gesprochen. Heutzutage lastet ein besonders großer Druck auf Sängerinnen, schlank und im konventionellen Sinne attraktiv zu sein. Hast Du als Mann diesen Druck auch schon gespürt?

Ja, sicher. Ich spüre jeden Tag beim Aufstehen diese Last – mein Übergewicht [lacht]. Allerdings war ich nie richtig schlank. Ich bin von Natur aus recht sportlich, habe aber durch Sport nie wirklich abgenommen. Und jetzt, mit 37, bin ich weniger aktiv und trinke zu viel, deswegen bin ich schwerer, als ich sein sollte.

In der Presse hat das schon Anlass zu Kritik gegeben. Es gab mal diese kleine Geschichte auf Twitter, wo ein Kritiker schrieb, ich sei stimmlich in exzellenter Verfassung, sollte aber mehr Zeit im Fitnessstudio verbringen, wenn ich in einer Inszenierung mitspiele, wo ich mich regelmäßig bis auf die Unterhose ausziehe. Jemand hat mich auf Facebook mit diesem Text verlinkt, ich hätte das sonst gar nicht gelesen. Und ich war betrunken, deswegen schrieb ich dem Kritiker, dass er sich verpissen soll.

Aus heutiger Sicht hatte er natürlich recht. Aber bei dieser Produktion war ich zunächst gar nicht für die Rolle vorgesehen. Wenn ich die ursprüngliche Besetzung gewesen wäre, hätte ich den Leuten von Regie und Kostümbild erklärt, dass das kein guter Look ist und wir hätten uns was anderes überlegt. Übrigens hat mir einer meiner besten Freunde gesagt, dass der Kritiker recht hat. Ich musste ihm da zustimmen.

Wenn du Sängerin oder Sänger bist, wird alles, was du von dir gibst, bewertet. Wie schwingen deine Stimmbänder? Gefällt mir das Geräusch? Das kann dann leicht auch auf das Aussehen überspringen.

Die Altistin Wiebke Lehmkuhl hat mir erzählt, dass sie mal eine Rolle nicht bekommen hat, weil sie nicht in ein bereits fertiggestelltes Kostüm passte. Haben Sie auch schon Erfahrungen mit solchen Körper-fokussierten Castings gemacht?

Ich hatte mal diese eine Rolle in einer Mozart Oper. Der Vertrag war noch nicht unterschrieben, aber mir wurde gesagt, dass ich die Rolle habe. Ich wurde sogar gefragt, ob ich Vorschläge hätte, wer die Regie übernehmen soll, weil der ursprünglich angedachte Regisseur das Projekt abgeben musste. Das war noch zwei oder drei Jahre vor Produktionsbeginn. Ich machte einen Vorschlag und bekam dann die Nachricht meiner Agentur: ›Sorry, aber sie haben entschieden, dass du nicht mehr Teil des Projekts bist.‹ Es stellte sich heraus, dass meine körperliche Erscheinung der Grund dafür war. Ich schrieb ihnen: ›Ich kann abnehmen, ich kann meinen Bart abrasieren. Sagen Sie mir, was ich machen soll. Ich habe ja noch zwei oder drei Jahre, bis es ernst wird. Ich mache, was Sie wollen.‹ Ihre Antwort war: ›Sie sehen zu alt aus.‹ Ich war damals 29 oder 30, und ohne den Bart sah ich aus wie sechs. Das war also kompletter Blödsinn. Die Produktion kam jetzt vor gar nicht so langer Zeit auf die Bühne – mit zwei sehr gutaussehenden Männern in den Hauptrollen. Wirklich fotogen … ganz anders als ich. Da dachte ich: Ok, aber seid wenigstens ehrlich.

Die Rolle des John/Angel III in George Benjamins Written on Skin wurde für Dich komponiert. Gab es auch Pläne, Dich für Lessons in Love and Violence einzuspannen?

In Written on Skin wurde ich gar nicht so sehr gebraucht. Ich hatte am wenigsten von allen zu tun. Das war frustrierend, weil es so ein großartiges Spektakel ist und ich George Benjamin und seine Musik liebe. Als ich mitbekam, dass er an einer neuen Oper schrieb, wollte ich nicht so plump nachfragen, ob ich darin eine Rolle spielen würde, aber er sagte mir von sich aus: ›Oh, wir werden schon was Schönes für dich finden.‹ Später bekam ich dann eine sehr liebe Nachricht von ihm, in der er mir mitteilte: ›Martin [Crimp, Librettist] und ich haben wirklich alles versucht, um etwas Passendes für dich zu schreiben, aber wir sehen deine Stimme einfach nicht in diesem Projekt.‹ Ich dachte: Macht euch doch keinen Kopf meinetwegen! Aber er ist eben einfach so ein netter Kerl. Ich habe Lessons in Love and Violence letztens in Covent Garden gesehen und es hat mir sehr gut gefallen. Ich schrieb George, dass ich mich fühlte wie gefangen in einem Gletscher, der sich unaufhaltsam in Richtung einer Klippe schiebt – und dann gibt es plötzlich dieses Bersten.

Wie hast Du Dich als jemand, der vor allem als Sänger ausgebildet wurde, für Brett Deans Oper auf die Rolle des Hamlet – die wohl berühmteste Theater-Rolle – vorbereitet?

Ich habe mich auf das Schauspielern gar nicht vorbereitet. Das kannst du erst im Raum, mit deinem Gegenüber. Ich kannte zwar die anderen Beteiligten, aber ich wollte trotzdem nicht schon im Vorhinein mutmaßen, was wer wohl machen würde. Das hätte das zerstört, was an Oper am meisten Spaß macht: fünf oder sechs Wochen mit den Kolleg*innen in einem Raum zu verbringen und es zu finden.

Die Auftritte sind stressig. Du bist vielleicht krank und hast so oder so nur zwei Stunden, in denen du alles richtig machen musst. Das Publikum hat Eintritt bezahlt und will – verdient es –, dass wir unser Bestes geben. Oft ist das der stressigste Part, der, den man am wenigsten genießen kann. Ich mag es, vor allem bei neuen Stücken, besonders, mit Menschen zu interagieren oder das erste Mal das Orchester zu hören.

Clayton als Hamlet • Foto © Richard Hubert Smith 
Clayton als Hamlet • Foto © Richard Hubert Smith 

Warst Du mit Dir zufrieden während der ersten Aufführungen?

Nach der letzten Aufführung, die ich gespielt habe, kam ich von der Bühne und dachte: Ah. OK. Sogar Vlad Jurowski kam zu mir und sagte: ›Das war das erste Mal, dass du dich am Ende nicht absolut kaputt anhörst.‹ Ich fühlte mich, als wäre ich gerade erst dabei zu begreifen, was musikalisch und vom Schauspiel her passiert: wo ich in der ersten Hälfte alles geben und wo ich mich etwas zurücknehmen kann.

Die anderen haben das eher gepackt, ich nicht.

»Ok, aber seid wenigstens ehrlich.« Allan Clayton über Rollenbesetzungen aufgrund von Äußerlichkeiten. Und: Slut-Shaming, gute Freunde und Justin Biebers Kehlkopf. In @vanmusik

Deine Stimme klingt völlig unangestrengt. Das ist für einen Tenor nicht unbedingt üblich, viele Sänger haben etwas sehr Gezwungenes.

[lacht] Ja. Ich hatte immer das Glück, dass es mir recht leicht fällt, hoch zu singen.

Letztens hatte ich ein Konzert mit den LA Phil und wurde krank. Sie schickten mich zu einem Spezialisten in Beverly Hills. Ich fuhr völlig ahnungslos mit einem Uber-Taxi zu ihm und stellte dort fest, dass er auch Stevie Wonder, Justin Bieber und ich glaube Tina Turner behandelt.

Er verschrieb mir einige Medikamente. Und sagte, es sei interessant, dass ein Teil meines Kehlkopfes dieselbe Größe hat wie bei einem Kind. Deswegen erreiche ich die Höhen mit so einer Leichtigkeit. Ich würde gern von mir behaupten, dass ich Stunden daran gearbeitet habe, dass meine Stimme in den hohen Lagen leicht klingt, aber ich hatte einfach Glück mit den Genen. Anscheinend hat Justin Bieber genau dieselbe Veranlagung. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.