Der Cembalist und Ensemble-Leiter William Christie wirkt auf den ersten Blick wie ein der amerikanischen Oberschicht entstammender CIA-Agent der 1960er Jahre, so, als wäre er just Norman Mailers Roman Harlot’s Ghost entschlüpft. Als ich ihn am 12. Dezember morgens in Berlin traf, trug er einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug, blaues Hemd, beiges Einstecktuch und gepunktete Socken. Er sprach aristokratisches Amerikanisch, ein Nachklang seiner Studienzeit in Harvard und Yale. Wir gingen in die Bar des Berliner Grand Hyatt Hotel, wo er residierte, und suchten uns einen Tisch. Im Hintergrund säuselte Fahrstuhlmusik, irgendwas mit Saxophon. »Es ist nicht nervig, es ist zerstörerisch«, sagte er. Wir gingen zurück in die Lobby. Gegen Ende des Interviews fragte ich ihn, ob er noch Zeit für eine letzte Frage hätte. Er antwortete: »Sobald mein Team ankommt, lasse ich dich fallen wie eine heiße Kartoffel.«
VAN: In Berlin geben Sie ein Konzert mit Claudio Monteverdis Selva Morale. Schon 1987 haben Sie das Werk aufgenommen, mit Ihrem Ensemble Les Arts Florissants. Was hat sich seitdem geändert in Ihrer Art, Monteverdi zu spielen?
William Christie: Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir auf dem richtigen Weg sind und haben diesen Pfad auch grundsätzlich beibehalten. Aber jetzt fahren wir ein neues Auto, die Straßen sind besser, sodass die Nachricht schneller ankommt. Ich denke, das Publikum fühlt diese außergewöhnliche Energie und Emotion – ein betörender Sinn für Rhythmus, eine starke Message und Musik, die erfreuen möchte. Das ist barocke Kunst, die überzeugen will. Barocke Musik war damals wahrscheinlich eine der stärksten Formen der Propaganda. Während der Gegenreformation musste die Römisch-katholische Kirche mit ihrer Botschaft alle erreichen. Und war darin extrem erfolgreich.
Was genau ist seit den 1980ern einfacher geworden?
Für alle, die damals, vor 30 oder 40 Jahren, Laute, Violone und Harfe gespielt haben, waren es ziemlich düstere Zeiten. Heute gibt es natürlich fantastische Musikerinnen und Musiker. Für uns ist diese Musik jetzt nicht mehr 300 Jahre alt, sondern zeitgenössisch.
Es macht unsere Reise einfacher, dass die heutige Generation mit dieser Musik aufgewachsen ist, sei es auf continuo– oder obligato-Instrumenten. Als ich damals in Harvard Monteverdi gesungen, gespielt und dirigiert habe … da war der Weg steinig. Iva Dee Hiatt dirigierte die Vespern – da war auch viel Gutes, aber es gab auch Dinge, die heute total inakzeptabel wären. Die Sängerinnen und Sänger waren es im besten Fall gewohnt, Mozart zu singen – im schlimmsten Fall kamen sie gerade von einer Stephen-Sondheim-Produktion.
2017 wurden 450 Jahre Monteverdi gefeiert, er wird gerade ziemlich viel gespielt. Was wird beim Monteverdi-Spielen immer noch falsch gemacht?
In der Alten Musik lassen wir uns immer noch durch Rollenspiele ablenken (seufzt). Monteverdi ist im besten Fall spontan, voller Energie, direkt, frisch. Wie kommen wir da hin? Nicht mit einem Dirigenten, der den Takt schlägt; der nicht versucht, zwischen Mendelssohns Elias oder Berlioz’ L’enfance du Christ und Monteverdi, Cavalli oder Rossi einen Unterschied zu machen – oder es nicht kann. Kann diese Musik wirklich überleben, wenn du einen Dirigenten hast, der die continuo-Gruppe in eine Zwangsjacke steckt und sich auf die Kraft großer Orchester oder Chöre verlässt? Das tötet alles, was ich so wichtig finde.
Monteverdis lyrische Werke, Orfeo, Il ritorno d’Ulisse, Poppea, werden häufig gespielt: Es gibt kein Opernhaus, das etwas auf sich hält, das nicht wenigstens darüber nachdenkt, Monteverdi zu bringen. Aber es gibt überraschend viele Produktionen, bei denen jemand dirigiert und dabei eine Technik benutzt, die für Schostakowitsch oder Britten geeigneter wäre. Das ist absolut falsch.
Im Grunde sind das Leute, die kein Instrument spielen können. Glaube ich, dass ich als Dirigent spielen muss? Oh ja. Ich habe letztens einen Kollegen auf YouTube gesehen, der Monteverdi dirigiert hat, indem er auf einem Stuhl saß und – weil er kein Instrument spielen kann – mit den Finger schnippste und den beiden continuo-Gruppen Befehle gab.
Sie verraten mir vermutlich nicht, wen Sie da gesehen haben …
… natürlich nicht. Aber der Punkt ist: Es ist genauso lächerlich wie ein Liederabend mit einem Sänger und einer Pianistin und dann taucht plötzlich ein Dirigent auf und dirigiert die beiden! So blödsinnig ist das. Ich komme zurück auf Wörter wie Spontaneität, Energie, Frische – diese können nur, nur, nur erreicht werden, wenn es eine direkte Verbindung gibt.
Wissen Sie, es hat mich, als ich älter wurde, extrem gekränkt, wenn ein Dirigent mir sagte ›Ich schreibe den continuo-Part für dich aus.‹ Aber ich habe immer noch Kollegen, die genau das machen. Die Kontrollfreaks, oder die, die einfach nichts anderes können als mit ihren Armen zu wedeln.
Ich habe ein paar mal die Berliner Philharmoniker dirigiert. Sie sind intelligent und interessiert. Aber ich erinnere mich an Momente in der Weihnachtszeit, wo sie dieses riesige Neupert-Cembalo herbeigeschleppt haben. Karajan hat dann das Weihnachtsoratorium dirigiert. Und er war fantastisch, wenn er romantische Musik oder was aus dem 20. Jahrhundert dirigiert hat, aber er war alles andere als das, wenn er nur auf diesem idiotischen Instrument herumgehämmert hat. Es war ein weiter Weg.
Gibt es noch immer Dinge, die Musikerinnen und Musiker, die Alte Musik spielen, verbessern können?
Wenn man ein Pferd hat, das alle Rennen gewinnt, oder ein Produkt, das geschätzt wird – und ich denke, wir können sagen, dass Alte Musik sich seit einigen Jahren gut verkauft – wird es immer Leute geben, die auf den Zug aufspringen. Ich denke, das sollte man sich klarmachen: Wenn man es mit dem Zeitraum vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert zu tun hat, muss man virtuos sein. Die Musizierenden wurden verehrt, auf Sockel emporgehoben und das Komponieren wurde ungeheuer kompliziert. Das heißt: Es gibt eine Einfachheit in Alter Musik, die es Leuten mit nicht besonders viel Talent erlaubt, sehr weit zu kommen.
Wird sich das von selbst wieder einrenken? Ich glaube schon. Aber im Moment ist das Phänomen noch da. Wir haben diese Art von Personen, die Chaconnes über ein aufdringliches basso ostinato hämmern können wie billige Popstars.
Welche Barockkomponisten erhalten in Ihren Augen zu wenig Aufmerksamkeit?
Die Italienische Schule. Offensichtlich. In Italien wurde so viel geschrieben zwischen 1600 und 1800 – es ist atemberaubend. Es wurde schon viel getan, das haben wir vor allem der amerikanischen Musikwissenschaft zu verdanken, aber das heißt nicht, dass schon alles gelüftet ist.
Außerdem hat noch niemand alles von Rameau oder Charpentier gespielt. Und es gibt einen Kerl, der mich gerade interessiert; es ist immer noch sehr oberflächlich, weil ich keine Zeit habe, aber ich liebe seine Musik und ich glaube nicht, dass wir sie angemessen behandeln. Sein Name ist Dietrich Buxtehude
Ton Koopman hat viel von Buxtehude gespielt.
Das haben viele Leute. Ich denke nur nicht, dass die Message die Message ist, die ich höre, und das ist wichtig.
Es ist eher eine Frage der Interpretation als mehr über sein Leben zu wissen.
Absolut. Wie jemand gelebt hat ist wirklich nicht so wichtig. Man kommt nur mit dem Material aus erster Hand wirklich weiter, mit dem Werk selbst.
Ich habe an der Musik-Akademie Basel studiert, zu der die Schola Cantorum Basiliensis, ein auf Alte Musik spezialisiertes Institut, gehört. Ich habe festgestellt, dass dort überdurchschnittlich viele schwule Musiker studiert haben. Von einem schwulen Mann zum anderen: Warum denken Sie, sind schwule Menschen besonders an Alter Musik interessiert?
Wie sind wir veranlagt? Warum benutzen Leute, die versuchen, uns zu definieren, Adjektive wie kultiviert und sensibel? Wären die Großen, die schwul waren, wie Michelangelo oder Leonardo da Vinci, ebenso groß gewesen, wenn sie anders orientiert gewesen wären?
Das ist die Frage.
Es ist auch die Antwort. Aber ich würde sagen, in meinem Ensemble sind nicht mehr schwule Musiker als im Mainstream-Bereich. Ich habe nie Schwule angeworben. Ich muss das nicht. Ich bin kein Raubtier. Das ist sehr wichtig. Wir leben in einer Welt, in der Menschen, die Macht über andere haben – die Chefs sind – ihre Position über Jahre hinweg ausgenutzt haben. Besonders in der heterosexuellen Welt.
Alles, was man sagen sollte, ist, dass jemand feinfühlig und sensibel sein sollte für’s Musikmachen. Sensibilität ist ein sehr wichtiges Wort in meinem Vokabular, weil ich, als ich aufgewachsen bin, allem gegenüber sensibel war. Menschen, Dingen, die ich angeschaut habe, Dingen, die ich gehört habe. Und ich wusste schon damals, dass ich wahrscheinlich sensibler bin als einige meiner Nachbarn oder Kollegen. Aber das haben Sie auch durchgemacht.
Was es jemals zu viel?
Natürlich. Ich habe versucht, es mir abzugewöhnen.
Können Sie beschreiben, wie sich das angefühlt hat?
Nein.
Von Ihrem Pressekontakt weiß ich, dass Sie mehr oder weniger immer auf Tour sind. Stimmt das? Sie grinsen.
Ich grinse nur, weil ich meine freien Tage zähle. Da ist was Wahres dran.
Denken Sie manchmal darüber nach, weniger zu machen?
Ja, aber wenn ich das mache, bin ich unglücklich. Ich liebe Musik. Ich habe natürlich auch eine Leidenschaft für andere Sachen: Gärten. Menschen.
Was meinen Sie, wenn Sie ›Menschen‹ sagen?
Mein Leben ist sehr reich an emotionalen Bindungen zu Menschen. Aber eins der großen Probleme des Musiker-Daseins und besonders bei umherreisenden Musikern wie mir, ist, Beziehungen aufrechtzuerhalten. Es ist schwierig. Haben Sie einen Partner?
Ja, ich bin verheiratet.
Behandeln Sie ihn gut? Aber Sie ziehen auch nicht umher.
Wir leben zusammen in Berlin.
Können Sie sich vorstellen, dass einer oder Sie beide durchgängig unterwegs sind? Das macht es hart.
Haben Sie einen Partner?
Ja.
Wie lange sind Sie schon zusammen?
Es ist kompliziert. Wir haben uns vor ungefähr 20 Jahren kennengelernt und nach einer Weile hat es nicht mehr funktioniert, also sind wir getrennte Wege gegangen. Ich hatte danach eine sehr schöne Reihe von Liebhabern und Leuten, die ich noch immer treffe. Und dann, vor sechs Jahren, liefen der Mann, mit dem ich vor 20 Jahren zusammen war und ich uns in Paris zufällig auf der Straße in die Arme. Wir haben da weitergemacht, wo wir aufgehört hatten, was eine ziemlich schöne Geschichte ist. ¶