Text Janina Rinck · Fotos Holger Talinski, Deniz Saylan, Marco Caselli Nirmal, Geoffroy Schied
In Zeiten von corporate identities, outreach- und audience development-Strategien wird ein Orchester immer wieder mit der Frage konfrontiert: Was zeichnet uns aus? Was grenzt uns von anderen ab? Gut, wenn man dann beim Klang anfangen darf.
Was formt den Klang eines Orchesters, jenseits des einmaligen Konzerterlebnisses, jenseits der Aufnahme mit diesem oder jenem Dirigenten? Und wie können sich die Struktur eines Klangkörpers und seine Klangkultur gegenseitig beeinflussen, bedingen? Manche Orchester definieren sich über ihre jahrhundertealte Tradition, manche über ihre Heimstätte oder über die besondere Partnerschaft mit einem bestimmten Dirigenten.
Das Mahler Chamber Orchestra (MCO) verfügt über nahezu keinen dieser Faktoren. Es hat einen vergleichsweise kurzen Weg hinter sich; 1997 schlossen sich Ehemalige des Gustav Mahler Jugendorchesters zusammen, um über die Sturm- und Drangphase hinaus weiterhin gemeinsam zu musizieren. Die Anfänge waren bewegt, natürlich war »Klang« ein großes Thema. Die Geigerin Annette zu Castell, Gründungs- und Boardmitglied des MCO, erinnert sich, dass es in den zahlreichen Diskussionen weniger um ein konkretes klangliches Ziel ging, sondern vielmehr um mögliche Wege dorthin: »Es wurde sehr am Klang geformt – auch durch unseren damaligen Konzertmeister Antonello Manacorda, der klare Vorstellungen davon hatte, wie er einen Orchesterklang gestalten wollte, das aber weniger durch eine Klangdefinition als durch viele einzelne Hinweise auf eine mögliche Artikulation und Phrasierung erreicht hat.« Stimmproben um Stimmproben wurden abgehalten, bis jede Gruppe ganz genau wusste, was sie tat. Das anfängliche Resultat sieht zu Castell als eine Reaktion auf die Zeit im großen Jugendorchester, »wo man mit 40 Geigen spielt und jeder schwelgt«, und beschreibt diese als »eine sehr einheitliche Art zu spielen, die dann – negativ ausgedrückt – etwas zu kontrolliert war.« Es dauerte, bis die meisten mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten setzen und entspannter an die Sache herangehen konnten.
Um eine solche Gruppe im Kern zusammen zu bringen und zu halten, braucht es gemeinschaftsfördernde, identitätsstiftende Faktoren. Das kann der Chefdirigent sein: Auch nach Claudio Abbados Tod ist das Mahler Chamber Orchestra noch eng mit dessen Namen verknüpft. Er unterstützte die Gründung und brachte das Orchester 1998 auf dem Opernfestival in Aix-en-Provence zu internationaler Bekanntheit. Und: er verwies die Musiker aufeinander. »Für Abbado war es immer wichtig, dass man im Orchester nicht für sich spielt und sich auch nicht auf den Dirigenten fokussiert, sondern dass man sich gegenseitig zuhört.«, sagt zu Castell. »Insofern ist eine gewisse Durchsichtigkeit im Klang des MCO schon durch ihn geprägt.« Dieses kammermusikalische Ethos entwickelten die Musiker weiter und entfernten sich von der vorherrschenden pyramidenartigen Hierarchie der Klangbildung: »Es ist nicht mehr das gängige ›Von vorne nach hinten‹, sondern es kommt auf eine gleichberechtigte Art und Weise tendenziell von hinten.«
Es gibt beim Mahler Chamber Orchestra immer öfter Projekte ohne Dirigent, in denen ein/e Solist/in oder der Konzertmeister leitende Funktion übernehmen; das ermöglicht eine enge, ungefilterte Zusammenarbeit. So wie The Beethoven Journey mit Leif Ove Andsnes: Vier Jahre lang studierten die Musiker/innen mit dem norwegischen Pianisten nach und nach die Klavierkonzerte Beethovens (und einzelne Werke Strawinskis) ein. Erfahrungen aus dieser intensiven und längerfristigen Art des Arbeitens, die Zeit für grundlegende Entwicklung bietet, trägt man unweigerlich in andere, »normale« Projekte.
So extrem wie das Orpheus Chamber Orchestra (von dem Konzertkarten übrigens gerade drüben auf unserem Sperrsitz verlost werden, d. Red.), das ausschließlich mit Solist oder Konzertmeister spielt und die Interpretation eines jeden Stücks basisdemokratisch erarbeitet, geht das Mahler Chamber Orchestra allerdings nicht vor. Neben ihrem Conductor laureate, Daniel Harding, arbeiten die Musiker mit weiteren Dirigenten auch über längere Zeiträume hinweg. Etwa mit Daniele Gatti, der mit dem MCO im Rahmen eines Beethoven-Zyklus neue Wege ausprobiert. »Gatti wollte, dass das Orchester größer klingt – es war mehr dieser fast osteuropäische, wärmere, größere Klang, der ihm vorschwebte. Das war für uns ungewohnt, und wir haben relativ lange daran gefeilt.«, sagt Annette zu Castell. Diese Offenheit und Experimentierfreudigkeit machen wichtige Wesenszüge des Orchesters aus – es gibt kein Beharren auf der »richtigen«, schon immer so praktizierten Spielweise. Falsch verstandene Tradition kann nicht zum Bremsblock werden.
Die Tradition vieler großer Orchester ist eng an einen bestimmten Ort gebunden. Als »Nomadenorchester« mit etwa 200 Tagen im Jahr auf Tour unterscheidet sich das Mahler Chamber Orchestra hierin wohl am radikalsten von den meisten Orchestern, auch von jenen ohne Stammsaal. Ein italienisches Theater ist akustische Meilen entfernt von einem Wiener Musikverein – sich in diesen verschiedenen Räumlichkeiten zurechtzufinden, erfordert eine hohe Flexibilität. Dem MCO fehlt die kontinuierliche Wechselwirkung mit einem Haus. Das ist sowohl eines klanglichen »Sich-treu-Bleibens« des Orchesters als auch der Leichtigkeit der Wiedererkennung auf Seiten der Konzertgänger/innen hinderlich: Fehlt die akustische Stabilität eines Saales, fällt überhaupt die damit verknüpfte lokale Projektionsfläche eines Konzerthauses weg. Dann wird dem Publikum eine Identifizierung mit dem Klangkörper erschwert. Deshalb kann sich kaum Stammpublikum entwickeln und Städte wie Länder sehen schwerlich die Notwendigkeit einer finanziellen Unterstützung. Ebenso fehlt den Musikerinnen und Musikern ein Bezugspunkt – nicht nur ein gemeinsamer »Ort«, sondern eine »Heimat«.
Das hat durchaus Vorteile. »Auf Reisen sind wir nicht in unserem Alltag, das heißt alles andere – die Steuererklärung, der blöde Nachbar – spielt keine Rolle.«, beschreibt Annette zu Castell. »Man ist nur mit dem Orchester.« Daraus entsteht eine Intensität, zu der die zeitliche Begren
zung der Projekte beiträgt. »Die Leute zu treffen, bleibt etwas Besonderes, auch noch nach Jahren«, erklärt Timothy Summers, der seit 2005 Violine (und Bratsche und Mandoline) im MCO spielt.

Das fehlende Alltagsgefühl kann aber auch zur Belastung werden. Kontinuierlich werden die Karten neu gemischt, nicht nur Dirigent und Programm wechseln pro Projekt – wie bei den meisten Orchestern der Fall –, sondern auch ein Großteil der Mitmusiker/innen, der Spielort und das Land. Mit der Zeit verliert das Touren den Reiz des Neuen und Aufregenden. »Nach und nach merkt man, dass sich viele Orte sehr ähnlich sind«, so Tim Summers. Oder wie er es auf seinem MCO-Members-Profil formuliert: »Wenn sich eine Tour hinzieht, wacht man ziemlich oft auf und stellt sich vor, wie schön es wäre, stärkere Wurzeln oder zumindest eine genauere Vorstellung davon zu haben, wo das Badezimmer ist.« Und nur, weil man auf Reisen ist, verschwindet der Alltag zuhause nicht: Eine Familie mit Kindern und ein ausgeprägtes Tourleben unter einen Hut zu bringen, erfordert Kompromisse und ein gut funktionierendes soziales Netzwerk – ein Thema, das für über 60 Prozent der Musikerinnen und Musiker, darunter auch MCO-interne Paare, höchst relevant ist.
Mitglieder wie Gäste des MCO stammen hauptsächlich aus Europa und haben eine ähnliche, westeuropäisch zentrierte Ausbildung genossen. Die Musiker/innen sind oft in ganz Europa unterwegs, leben beispielsweise in Großbritannien und nehmen Orchester- und Lehrtätigkeiten überall auf dem Kontinent wahr. Als gebürtiger US-Amerikaner und Wahl-Berliner empfindet Tim Summers die von den meisten geteilten europäischen Werte als besonders stark – dafür sorge etwa der Bezug zu Werken, die in Europa komponiert wurden. Trotz dieser Nähe treffen in Europa, wo die Fluktuation unter Musikern unterschiedlicher Länder höher als in den USA ist, größere Diskrepanzen hinsichtlich Sprache und kultureller Hintergründe aufeinander. Oder wie es der Kontrabassist Ander Perrino ausdrückt: »Beim MCO sind wir alle Ausländer.« Das schlage sich auch konkret musikalisch nieder, erläutert der Spanier, der kürzlich festes Mitglied des MCO wurde: »In den USA etwa werden Bässe oft kürzer und leichter, sogar ein bisschen brillanter gespielt als in Deutschland, wo man nach einem größeren und dunkleren Klang sucht. In amerikanischen Orchestern spielt man kaum 5-saitige Kontrabäse, dafür mit einer Verlängerung der E-Saite, einer Extension. Beim Mahler Chamber Orchestra werden alle Varianten akzeptiert.«
»Das MCO funktioniert wie ein englisches Orchester, aber mit deutscher Seele.« (Ander Perrino, Kontrabass)
Weil die Musiker/innen des MCO aus über 20 Nationen zusammenkommen, ist das Orchester ein Hybrid aus Eigenschaften verschiedener länderspezifischer Orchestertypen. »Das MCO ist sehr gut im Blattspiel und hat ein unglaubliches Gefühl für Tempi.« Ander Perrino erinnert diese Fähigkeit zu schneller Leistung an englische Orchester, in denen Musiker die Probenzeit gar nicht bis wenig bezahlt bekommen und daher entweder ziemlich gut vorbereitet in die Proben kommen oder mit herausragenden Blattlesefähigkeiten ausgestattet sind. Für das Mahler Chamber Orchestra als freies Orchester, das ausschließlich in fremden Häusern gastiert, ist Probenzeit ebenfalls kostbar, intensive Probenblöcke finden auf wenige Tage komprimiert statt.
Von 2011 bis 2014 war das Ensemble Kulturbotschafter der Europäischen Union. Das habe vor allem dem Selbstverständnis des Orchesters weitergeholfen, berichtet Annette zu Castell: »Es war sehr wichtig, dass wir uns erstmals – auch aktiv – als europäisch definiert haben.« Tatsächlich gibt es zahlreiche Parallelen zwischen dem Länderbündnis und dem Klangkörper, viele Vor- und Nachteile ergeben sich aus ein- und demselben Charakteristikum, der Bündelung unterschiedlicher Kulturen: »Es ist so viel leichter, sich mit einem Ort – einem Land, einer Stadt oder einem Saal – zu identifizieren, als mit einer so komplexen Vielfalt.«
»Es ist ein ständiges Weiterentwickeln von Konfliktbewältigung.« (Annette zu Castell, Violine)
Die Bezugslosigkeit der Musiker/innen auf Tour wirft sie regelmäßig auf sich selbst zurück, auf ihre Mitmusiker/innen, auf die Gruppe. »Immer auf so engem Raum zu sein, führt dazu, dass man aufeinander angewiesen ist und Konflikte anders lösen muss. Darum gibt es bei uns mehr Gespräche als in anderen Orchestern. Das kann zu unangenehmen Situationen führen, ist aber notwendig, um mögliche Konflikten steuern zu können und weiterzukommen«, so zu Castell. Besonders gilt dies für den festen Kern an 47 members, der in regelmäßig stattfindenden Treffen demokratisch über Angelegenheiten diskutiert und abstimmt, die von Fragen der Konzertkleidung bis hin zu Details der Elternzeit-Vergütung reichen.
Dieser Kern, der zum Großteil aus Gründungsmitgliedern besteht, und ein Pool an mehr oder weniger festen extra players sorgen für Konstanz, ohne die ein kontinuierlich hohes Niveau nicht zu halten wäre. Die Gemeinschaft eines Orchesters lebt vom Vertrauen des/der Einzelnen in seine/ihre musikalischen Partner. Dennoch variiert die konkrete Besetzungsliste des MCO von Projekt zu Projekt stark, man wird ständig gezwungen, sich auf neue Leute einzustellen. Wieder ein Umstand, der Flexibilität und ein besonderes Maß an Vor- und Rücksicht beim Musizieren fordert. »In großen Orchestern spielt man anders, viel lauter. Wir spielen nicht unbedingt vorsichtiger, aber vielleicht mit mehr Achtung.«, sinniert Annette zu Castell. »Das wirklich Hervorragende im Klang des Mahler Chamber Orchestra ist das Pianissimo. Ich habe noch nie in einem Orchester gespielt, das so leise spielen kann wie das MCO – und das auch gerne macht.« ¶