Vom 23.–25. März 2017 findet im Umkreis des Heliosgeländes in Köln-Ehrenfeld allabendlich das »Aktionsstück« Fugit statt. Es ist Teil des Kölner Fests für Alte Musik, veranstaltet vom Zentrum für Alte Musik (ZAMUS), das hier auch seinen Sitz hat. Fugit ist ein interaktives Musiktheater, entwickelt von der Straßentheatergruppe Kamchàtka aus Barcelona um ihren Künstlerischen Leiter Adrian Schvarzstein. Es spielen außerdem mit: Verschiedene Gruppierungen eines Alte-Musik-Ensembles und die blinde Sopranistin Gerlinde Sämann. Das Ganze bezieht seine Spannung auch aus der Ungewissheit der Zuschauer, weswegen ich von meinem letztjährigen Besuch nicht zu viel verraten möchte. Es geht um Flucht, Zuflucht, Transit. Manche Leute, mit denen ich gesprochen habe, waren empört über das Ausmaß an Kontrollverlust, das über die Zuhörerinnen und Zuhörer kommt. Wer es jetzt genau wissen will, kann hier (auf englisch) das Storyboard lesen.Ein Jahr nach meiner ersten Erfahrung mit Fugit treffe ich Gerlinde Sämann am Rande der Proben in der ZAMUS-Küche.
VAN: Als ich letztes Jahr Musica Fugit besuchte, entstand durch den Ablauf, das Wetter, die Kälte schon dieses Gefühl des Ausgeliefertseins. Wie gestaltet sich der Ablauf für Sie?
Gerlinde Sämann: Wir versuchen selbst, das ganze Stück über in der Spannung dieser ›Show‹ zu bleiben. Wir sind alle gemeinsam auf der Flucht, aber wir sind nicht Teil der Gruppen, die durch die verschiedenen Stationen geführt werden, sich verstecken müssen, mit dem Bus fahren, irgendwo hinrennen, sich helfen. Aber wir wechseln natürlich auch die Orte und sind, wenn das Publikum kommt, schon da. Dann teilen wir das Brot, etwas zu trinken und eben auch die Musik. Die verschiedenen Musikgruppen haben verschiedene Routen, Orte usw.
Und da versuchen wir natürlich, so wenig wie möglich zu sprechen, um in dieser Andacht zu bleiben.
Was ist denn anders in diesem Jahr?
Es gibt eine weitere Gruppe, die besteht aus Flüchtlingen und ihren Kontaktpersonen hier in Deutschland.

Hatten Sie denn schon mal Bedenken, dass die Realität der Flucht und deren Hintergründe verniedlicht werden?
Als ich am Anfang eingeladen wurde, hatte ich ganz große Zweifel und ich sagte: ›Ich habe keine Lust, Flüchtlingskunst zu machen.‹
Aber ich glaube, man muss den Hintergrund kennen: Adrian Schvarzstein hat selber in der Familie einen Flucht-Hintergrund, – ich glaube, sein Vater floh von Russland nach Argentinien – und das ist bei Kamchàtka auch in den anderen Stücken ein sehr starkes Thema: Heimat, Heimatlosigkeit, die sind immer auf dem Weg, immer auf der Straße, von dem, was ich so wahrnehme.
Und dass das mit dieser großen Fluchtwelle zusammenkommt, ist ein Zufall, kein Programm. Wir sind ja auch eher im Stil der 1940er-Jahre gekleidet. (Für die letztjährige Ausgabe von Fugit präzisierte Adrian Schvarzstein seinen Zugang zum Thema auf dem ZAMUS-Blog). Und Flucht gab es ja immer … aus der Warte sollte man das sehen: Was bedeutet es, die Heimat und die Existenz zu verlieren, wer ist an meiner Seite, woran kann ich mich halten?
Eine Person, die ich kenne hat allerdings gesagt, sie fand es wie auf einem Kindergeburtstag, das fand ich total unangenehm. Das ist dann jemand, der sich emotional nicht einlässt. Klar, es könnte an einen Kindergeburtstag erinnern, irgendwo durchzukriechen, sich zu verstecken, aber dann ist man halt emotional nicht dabei.
Und was macht das nun mit der Musik?
Es bewegt. Es geht unglaublich ans Herz. Ich musste im letzten Jahr danach gleich zum nächsten Projekt, aber ich war im Kopf nur hier. Das hat wochenlang gedauert, ich war wirklich emotional total zugange.
Übertragen Sie das dann auf andere Engagements und suchen ganz gezielt nach alternativen Konzertformaten?
Also ich habe eine Theorie, vielleicht ein bisschen esoterisch, dass das Herz – also nicht so sehr das körperliche Herz – ein eigener Kosmos ist, ein Areal, in dem ganz viel passieren kann. Und ich glaube, man wird an jeder Stelle im Herzen nur einmal berührt. Das ist der Grund, warum man auch mehrere Menschen lieben kann. Wir sind so erzogen worden, dass es ›den Mann deines Lebens‹ geben kann und dann liebt man nur den. Ich habe es aber schon erlebt, dass ich zwei Menschen dermaßen geliebt habe. Aber eben nicht auf die gleiche Art! Jede Liebe hat ihren eigenen Platz im Herzen. Und so ist das eben auch mit verschiedenen Projekten. Ich habe kürzlich ›Bach bewegt‹ gemacht, mit Hans-Christoph Rademann und der Bachakademie Stuttgart, mit 100 Schülern und Schülerinnen, die die ganze Matthäus-Passion getanzt haben, mit der Gaechinger Cantorey, Chor und Orchester. Und dann gab es Aktionen – ich habe bei der Arie ›Aus Liebe will mein Heiland sterben‹ mit zwei Mädchen getanzt und das hat mich auch so berührt! Ich singe seit 20 Jahren die Matthäus-Passion, aber das werde ich nie vergessen. Und so ist das mit den verschiedenen Projekten. Es kann auch nicht immer alles gleich intensiv sein, da würde man verrückt werden, glaube ich.

Verändern Sie Gruppen, mit denen Sie arbeiten, so dass die dann anders reagieren, kommunizieren?
Na ja, man ist immer ein Sonderling. Ich bin schon immer froh, wenn die Leute mich ein bisschen kennen, dann kann ich mich ein bisschen weniger wie ein totales Mondobjekt fühlen. Am einfachsten ist es, wenn die Leute mit einem reden, dann verschwindet dieses Thema (Blindheit). Am Schwierigsten sind die Menschen, die einen nur anstaunen und nicht mit einem reden oder die, die einen meiden, dann fühlt man sich unattraktiv. Leider bin ich auch ein bisschen narzisstisch, werde gern wahrgenommen, aber eben nicht nur als nicht-sehender Mensch, sondern vielleicht auch als einigermaßen gutaussehende Frau. Und dann dieses: ›Oh mein Gott, wie macht sie das nur‹ (wird lauter) ›Unglaublich, wir bewundern Sie so, wie Sie das schaffen!‹ Und das ist auch schrecklich.
Ich hätte mir gedacht, dass vielleicht so eine innere Ruhe entsteht, wenn man aus diesem visuellen Spiel raus ist, weil man einen Aspekt des ›Rüberkommens‹ total beiseite lassen könnte.
Leider nicht. Leider. Das wäre herrlich, so außen vor zu sein, dass es mir egal ist. Aber es ist mir nicht egal. Ich weiß einfach, wie es ist, in einen Raum zu kommen und angeguckt zu werden. ›Wie geht der?‹, ›Wer kennt wen?‹, … ich finde das ganz unangenehm, und wenn du dann nicht siehst, wie irgendjemand guckt … echt schwierig!
Der Medientheoretiker Marshall McLuhan hat beschrieben, wie ein stark beanspruchter oder entwickelter Sinn dafür sorgt, dass andere Sinne verkümmern und dass das auch andersherum funktioniert. Sie sind seit Ihrer Geburt blind?
Schlecht gesehen habe ich schon immer …
… und dann immer schlechter und irgendwann nichts mehr?
Ja genau!

Wenn also die Theorie stimmt, und die anderen Sinne dieses Nicht-Sehen ausgleichen: Dann muss es demnach da eine erhöhte Wahrnehmung geben, eine Art Superkraft?
Das Problem ist, dass ich das nicht weiß, weil ich schon immer so lebe. Mir selbst würde nichts fehlen, wenn es nicht diese Interaktionen mit der Außenwelt geben würde. Ich fühle mich gesund, wohl in meinem Körper und …
… ich habe das Gefühl, Sie nehmen zum Beispiel wahr, in welcher Haltung ich sitze.
Na, erst mal habe ich mir angewöhnt, den Kopf oben zu halten, wenn ich spreche. Viele Blinde haben den Kopf gesenkt und dann fühlen sich irgendwann beide Gesprächspartner nicht mehr so angesprochen, gemeint. Und das habe ich mir als Verhaltensweise angewöhnt, dann komme ich besser zurecht.
Und gleichzeitig merke ich, wie wir aufeinander reagieren. Ich merke, wenn Sie lächeln oder anders auf mich reagieren … ich empfinde das, und das ist für mich wirklich wie sehen. Ich würde das aber nicht merken, wenn wir 10 Meter voneinander entfernt stehen würden, dann könnte ich nicht mit Ihnen kommunizieren, wenn ganz viele Sachen dazwischen passieren. Das ist schade, und das macht mich traurig.
Auf Ihrer Webseite schreiben Sie, dass Sie auch die Handlungen von Dirigenten wahrnehmen, mit Musik als dem Medium. Hatten Sie schon mal das Erlebnis, dass Sie merkten, da vorne macht jemand seine Bewegungen, ›fuchtelt rum‹ aber eigentlich kommt nichts rüber.
Oh, ja ganz oft. Und es gibt einige Dirigenten, mit denen ich nicht klarkomme und die auch nicht mit mir. Ich nenne keine Namen, aber das liegt wirklich am Gucken: Ich kann ihm nicht das Gefühl geben, was er für ein toller Typ ist, weil das halt doch oft über Blicke geht. Und dann bin ich einfach außerhalb seines Funktionsradius und dann funktioniert die Sache gar nicht. Aber dann kann es passieren, dass die einfachsten Sachen nicht klappen, da gibt es neben dem Visuellen kein Gespür, und wenn dann ein Dirigent ungewöhnliche Sachen möchte, dann bist du verloren, wenn du nicht an seinem Schlag hängst. Eine gute Erfahrung mache ich gerade mit Thomas Hengelbrock, der war, glaube ich, am Anfang auch eher zögerlich, aber wir kommen 1a miteinander aus musikalisch, das klappt so was von gut! Also für mich … ich glaube, es ist für ihn aber auch gut, er hat es angedeutet. Und mit wem es auch toll ist, ist mit Hans-Christoph Rademann: Ich kann mit dem Rücken zu ihm stehen und er 10 Meter weiter hinten sein, aber ich kriege alles von ihm mit.
Gerlinde Sämann singt die Bach-Kantate »Wenn des Kreuzes Bitterkeiten«
Sie übersetzen Noten in Brailleschrift. Haben Sie ein spezielles Programm?
Nein, ich tippe die Noten ein.
Eine Stimmfunktion liest sie ihnen vor?
Genau ›Viertel C‹, ›Viertel D‹ … und wenn ein bisschen mehr Zeit ist, gibt es in Leipzig ein Institut, wo man so was machen lassen kann.
Und wenn der Dirigent sagt, ›so jetzt nochmal ab Takt 212‹?
Na, die Taktzahlen, die schreib ich mir selbstverständlich auch auf.
Und im Studium, wie war das? Zu einer früheren Zeit, wo auch vielleicht noch mehr über Schrift läuft, haben Sie das einfach irgendwann rausgekriegt.
(Zieht bei der Erwähnung ›Studium‹ hörbar Luft ein und atmet seufzend aus.) Ja, das Studium habe ich ein bisschen versemmelt, das war nicht so eine prickelnde Sache. Ich hatte ziemlich schnell schon immer Jobs gehabt, das hat sich so ergeben. Ich habe erst ein Klavierstudium gemacht, wollte auch Gesang machen, aber an der Musikhochschule wurde mir rigoros gesagt, dass ich nicht Gesang studieren kann, weil kein Lehrer mich unterrichten würde, und: was ich dann später denn überhaupt damit anfangen sollte. Und ich bin auch nicht so erzogen worden, dass ich gesagt hätte, ›Leute, ich bin ein Star, ist ja wohl klar, oder?‹ (lacht) Deswegen habe ich geantwortet: ›Hmm, vielleicht im Chor singen?‹ Das war dann die falsche Antwort. Deswegen bin ich halt beim Klavier gelandet. Ich hatte keinen Computer, das war 1989 und die Technik war in den Anfängen, ich hatte keine Materialien, keine Bücher … generell habe ich diesen Schritt aus der Musikfachschule nicht gut geschafft, ich bin da psychisch eingebrochen, konnte das aber verbergen. Das einzige was ich hatte, war eine Stenomaschine, wo ich mitgetippt habe, und da kam an der Seite ein langer Streifen raus. Ich hätte diese Streifen dann immer noch übertragen müssen, aber irgendwann habe ich diese ganze Kiste einfach weggeschmissen und bin dann auch zum Studium nicht mehr hingegangen.
Die Körpertherapieausbildung, die ich dann angefangen hatte, nutzt mir zwar heute sehr viel, das war im Nachhinein klug, aber damals war es auch so ein bisschen wie ein Auffanglager.
Wovor fliehen Sie noch?
Oh! Jetzt haben Sie mich erwischt. Ich fliehe vor Nähe zum Beispiel. Ich gehe gerne in die Flüchtigkeit, auch wenn ich kein flüchtiger Mensch bin, aber ich fühle ich mich da manchmal sicherer, so ein bisschen tadam bllp tadam, so ein bisschen hier und da. Und: Ich würde sofort fliehen, wenn ich meine Meinung nicht mehr sagen könnte, in einem Gewaltregime, wenn Menschen in meiner Situation nicht mehr öffentlich sein dürften, dann würde ich sofort fliehen. ¶