Generationenkonflikt?

Eine Expedition durch deutsche Orchester mit Mozart in the Jungle. Zweite Station: Die Alten und die Jungen

Die von Amazon für seinen Streaming-Service »Prime« produzierte TV-Serie Mozart in the Jungle basiert auf dem gleichnamigen Buch, dass die Oboistin Blaire Tindall – ehemaliges Mitglied der New Yorker Philharmoniker – 2005 veröffentlicht hat. Es geht darin um das Leben im Orchester und in der freien Musikszene New Yorks; um Eitelkeiten, Netzwerke, Drogen, Affären, Mobbing und vieles andere. Die Fernsehserie macht daraus, mit Gael García Bernal in der Hauptrolle, einen Wohlfühl-Klamauk, ist aber nicht minder unterhaltsam. VAN will einige Aspekte von Mozart in the Jungle aufgreifen und unternimmt eine Expedition durch Orchester im deutschsprachigen Raum. Diese Woche präsentieren wir Stimmen zum Thema Alt und Jung.

 

Text Tobias Ruderer · Fotos Amazon


Haileys erster Tag als »fünfte« Oboe. Sie betritt die Garderobe, bekommt Drogen angeboten, lehnt ab, schaut sich um und bemerkt ehrfürchtig zu einer befreundeten Kollegin: »Das ist Betty Cragdale, erste Oboe. Ich habe ihre Aufnahmen studiert, sie ist unglaublich. Ich werde mich ihr vorstellen … Miss Cragdale? Hallo, meine Name ist Hailey Rutledge; ich sitze heute in Ihrer Gruppe. Ich bin Oboistin. Ja, also ich meine, logischerweise … ich bin Oboistin, ich wollte nur sagen, es ist so eine Ehre, mit Ihnen spielen zu dürfen.« Die Angesprochene lächelt genießerisch und scheinbar entzückt. »Oh ja, Hailey Rutledge. Jetzt weiß ich Bescheid. Sie sind das komplett unerfahrene Mädchen, dass unseren neuen Dirigenten gefickt hat, um sich wie ein Wurm in die Oboisten-Gruppe zu schleichen, an Hunderten von qualifizierteren Musikern vorbei.«

Sie hat unrecht, aber darum soll es nicht gehen; es soll eher um Klischees gehen, um unfreundliche Empfänge und … um die Jungen und die Alten. Haileys Kämpfe mit der Matriarchin Betty sind nicht die einzigen, in denen unterschiedliche Lebensalter für missglückte Kommunikation und Missverständnisse sorgen. Da gibt es den ehemaligen Chefdirigenten Thomas, der seinen jungen Nachfolger Rodrigo für einen talentlosen Scharlatan hält, und dabei arrogant und eitel in eine Demütigung nach der anderen rennt. Da ist Lazlo, dessen Fitness für Rodrigos intensive Proben nicht ausreicht. Da ist Haileys Freund, der sich etwas zu sehr auf seiner exzellenten Ausbildung und seinem makellosen Aussehen ausruht.

Natürlich ist das Orchester auch der Ort des Lernens, an dem Erfahrungen weitergeben werden, an dem Jung und Alt voneinander profitieren. Wie gut also lassen sich verschiedene Lebensphasen, Interessen, Erfahrungshorizonte und Wertvorstellungen unter einen Hut bringen?

Cellist, seit über 30 Jahren in einem großen Sinfonie-Orchester, der seinen Namen nicht genannt sehen möchte:

»Ich habe mit einem Kollegen vor über 30 Jahren abgemacht, dass wir uns gegenseitig warnen, wenn wir so werden, wie die »alten Säcke«, über die wir zu diesem Zeitpunkt geschimpft haben. Zu jener Zeit gab es vereinzelt den Generationenkonflikt zwischen den in den 1930ern Geborenen und uns, den in den 50ern, Anfang der 60er Jahre Geborenen: den Vorspieler, der seine Unterlegenheit am Instrument mit Selbstbeweihräucherung und permanenter Kritik an mir kompensieren musste, oder Kommentare eines Bassisten über Webern (›..den hätte man schon viel früher erschießen müssen‹) und Ähnliches … – das gibt es heute zum Glück nicht mehr – zumindest nicht in meinem Orchester.

Die Klassiklandschaft hat sich sehr gewandelt: Musiker, die heute ins Orchester gehen, haben viel mehr Gelegenheit, auch woanders zu spielen. Festivals wie Verbier, Lucerne oder auch Institutionen wie das Mahler Chamber Orchestra, Chamber Orchestra of Europe und andere freien Ensembles: das gab es früher in diesem Maße nicht. Bei manchen spüre ich dann, wenn sie beim Profiorchester sind, diese Haltung: ›Hier verdiene ich mein festes Geld, das kann ich mal so nebenher machen‹, und da fehlt mir dann einfach die Identifikation mit dem Klangkörper; auch junge Leute auf den Solopositionen übernehmen heute leider oft weniger Verantwortung für »ihr« Orchester als früher: Wenn es drauf ankommt und etwas wichtiges zu spielen ist, ist dann oft eine lukrative Mugge (»MUsikalischesGelegenheitsGEschäft«) wichtiger.

Was mich daran stört, ist diese etwas herablassende Haltung: ›Was wir hier machen, ist halt dieses typische Beamtenorchestertum, und ist eigentlich unter meinem Niveau.‹ Diesen Konflikt kenne ich schon lange, dass man studentische oder selbstverwaltete freie Orchester gegen sogenannte TVK (Tarifvertrag für die Musiker in Kulturorchestern)-Orchester aufwiegt. Dann gelten die einen immer als wahnsinnig engagiert, die anderen eben als ›Musikbeamte‹, und manchmal sehe ich dann halt junge Musiker, die total unzufrieden sind, denen möchte ich dann sagen: ›Hör mal, du musst doch nicht hier spielen!‹ Zum Glück sind dies aber die Ausnahmen.

Technisch gesehen ist das Niveau der Instrumentalisten in den letzten 30 Jahren noch einmal erheblich gestiegen; was mir und meinen Kolleg/innen allerdings zunehmend fehlt, sind Musiker, die einen schon mit drei gespielten Tönen berühren können, die eine individuelle ›Aussage‹ machen. Oft frage ich mich nach einem Vorspiel, ›warum macht sie/er das eigentlich?‹ Ich weiß nicht, ob es ein Phänomen unseres Internet-Zeitalters ist; heutzutage sind 40 und mehr Interpretationen eines Werks online verfügbar, und oft habe ich das Gefühl, dass statt einer eigenen Interpretation die Quersumme dieser 40 Interpretationen entsteht.

In diesem Zusammenhang wird natürlich oft als Argument angeführt, die Orchester wollten gar keine Individualität, das halte ich aber für falsch. Jedes Orchester hat seine eigenen Vorstellungen und Traditionen – dass man diesen halbwegs gerecht wird, hat man bereits durch ein bestandenes Probespiel bewiesen. Ich habe von einer Kollegin gehört, der man bei der Staatskapelle in Dresden als erstes gesagt hat, sie solle sich doch bitte nicht so viel bewegen. Nun gut … man kann die Orchester da eigentlich kaum vergleichen. Etliche junge Kollegen, die bei uns die Probezeit nicht bestanden haben, haben in anderen Spitzenorchestern Stellen bekommen. Da hat es halt gepasst.«

Eva Freitag spielte unter anderem im Philharmonia Orchestra London, dem NDR Sinfonieorchester, dem Konzerthausorchester Berlin und war jahrelang Solocellistin des European Union Chamber Orchestra

Von der alten Generation wird die ganze Freelance-Szene nicht verstanden und auch nur selten geachtet. Es hat sich einfach so viel in den Strukturen verändert, da prallen Welten aufeinander, kommt mir vor – in den Überzeugungen aber auch im Werdegang.

Juditha Haeberlin, 45, Konzertmeisterin beim Ensemble Resonanz, festes Mitglied der musikFabrik NRW, ehemals stellvertretende erste Konzertmeisterin des Radiokammerorchesters Hilversum / Niederlande

»Für mich persönlich wäre es nichts, in einem großen ›klassischen‹ Sinfonieorchester alt zu werden. Ich will mitbestimmen, entscheiden, neue Projekte auf die Beine stellen. Aber von dem, was ich so von größeren Orchestern mitbekommen habe, ist es nicht so, dass es generell die Älteren sind, die der Veränderung im Wege stehen. 

Beim Ensemble Resonanz gab es bei der Gründung keinen Generationenkonflikt, da waren wir ja alle jung. Inzwischen, wo viele von uns etwas älter sind, Familie haben, und gleichzeitig Jüngere, so Anfang 30, dazugestoßen sind, gibt es schon Konfliktpotenzial. Man kann zum Beispiel, wenn man Familie hat, nicht mehr täglich diesen Aufbruchswillen, diese Bedingungslosigkeit an den Tag legen, mal wieder über die eigenen Grenzen zu gehen. Da drücken sich Differenzen manchmal in Stimmungen aus, man ist einfach auf unterschiedlichen Wellenlängen unterwegs. Da braucht es Akzeptanz auf beiden Seiten, und wenn die dann mal fehlt, entsteht auch Frust in der Kommunikation, weil wir natürlich auch Hierarchien etabliert haben.

In meiner Zeit im Orchester habe ich beides erlebt: die Jugend, der man manchmal sagen will: ›Komm sei etwas leiser, hör zu, du musst heute nicht alles auf einmal über den Haufen werfen.‹ Aber auch Ältere, die nicht gerade empfindsam mit der Nervosität zum Beispiel von neuen Solobläser umgehen.

Heikler ist aber die Situation, wenn die Qualität im Alter nachlässt, das ging dann im Orchester auch mal bis zum Gerichtsstreit um die Stelle. Da bin ich auch gespannt, wie das bei uns [im Ensemble Resonanz] wird, wenn es irgendwann mal an der Zeit wäre, über Fragen der Qualität zu reden. Bisher habe ich die Erfahrung gemacht, dass man das auch in den freien Ensembles eher vermeidet, auch wenn es angebracht wäre. Klar, da gibt es die Möglichkeit von Coachings, Klausuren, Wochenendseminaren, Psychologie, Yoga, alles schon dagewesen; aber man weicht den wirklichen existenziellen Problem ja auch gerne mal aus. Vor allem, weil man in solchen Zeiten ja immer noch auf die Bühne geht, als Einheit auftreten muss, miteinander kommunizieren, Sinfonien spielen.«

Ulrich Haider, 44, Hornist bei den Münchner Philharmonikern

»Viel mehr als das Alter bergen die unterschiedlichen Lebensphasen Konfliktpotential. In meinem Orchester ist vor allem die Familienfreundlichkeit ein großes Thema. So reisen vor allem junge Kollegen recht gerne und finden es verständlicherweise toll, wenn sie weit in der Welt rumkommen. Oft können sie dann nicht verstehen, wenn Ältere nicht so begeistert sind, wo Reisen doch zu unserem Beruf gehören. Werden diese Kollegen dann selbst Eltern, sieht die Lage ganz anders aus und sie werden die größten Kämpfer für familienfreundliche Bedingungen. Ältere Kollegen, deren Kinder aus dem Haus sind, sehen das Reisen wieder viel positiver und kommen daher mit den ganz Jungen in diesem Punkt viel weniger in Konflikt.

Vielleicht würde man denken, dass vor allem junge Kollegen innovative Ideen haben und das Orchester am liebsten umkrempeln wollen. In meiner Wahrnehmung ist das aber anders. Ich stelle fest, dass meist die jungen Kollegen am liebsten am herkömmlichen Klassikbetrieb festhalten wollen. Ihnen ist vor allem wichtig, alle großen Werke zu spielen, um dort zu beweisen, was sie können. Hat man dann mal alle großen Werke zwanzig bis achtzig Mal gespielt, kommt vielleicht der Punkt, wo man darüber nachdenkt, ob es nicht spannender und kreativer ist, das eine oder andere im Klassikbetrieb zu verändern und auch mal neue Wege auszuprobieren.

Eine interessante Frage ist vermutlich, ab wann man zu den Alten gehört. Ich für meinen Teil habe jetzt mehr als zwanzig Jahre hinter mir, aber auch noch mehr als zwanzig vor mir. Trotzdem empfinde ich, dass ich eindeutig zu den Alten gehöre. Nach so langer Zeit kennt man das Orchester, aber auch den „Betrieb“ drumherum recht gut und sieht bestimmt vieles mit anderen Augen als die „Neuen“. Vor allem weiß man als „Alter“ aber auch, wo man die Hebel ansetzen muss, um etwas zu verändern.

Die Erwartungshaltung an Neuankömmlinge hat sich meinem Empfinden nach im Gegensatz zu der Zeit, als ich ins Orchester kam, sehr gewandelt. Auffällig ist zum Beispiel, dass viele junge Kollegen wahnsinnig streng bei den Probespielen urteilen. Das war zu meiner Zeit anders. Zum Einen hat man sich als junger Kollege mit Äußerungen sehr zurückgehalten, zum Anderen wurde bei den Probespielen mehr darauf geachtet, welches Potential im jeweiligen Musiker steckt.« 

Konstanze von Gutzeit, 29, seit zwei Jahren Solocellistin beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

»Grundsätzliches Konfliktpotenzial kann aus der Situation entstehen, dass ein Orchester von einem jungen Musiker, der frisch engagiert wird, erwartet, dass er sich der Orchesterspielweise anpasst. Dieser wiederum will aber vielleicht auch Dinge anders machen oder eigene, frische Impulse einbringen, weil er Entsprechendes in der Ausbildung oder zum Beispiel bei Jugendorchestern gelernt hat.

Für die ›alten‹ Orchesterkollegen steht schwerpunktmäßig das Bewahren und die Weitergabe der Traditionen ihres Orchesters im Vordergrund und es ist für sie wichtig zu sehen, dass sich der neue Kollege in das über Jahrzehnte gewachsene Gefüge einpasst. Es wird von ihm erwartet, dass er seine Antennen ausfährt und sich der Spielweise der jeweiligen Gruppe und dem sozialen Gefüge unterordnet, gleichzeitig soll er jedoch auch persönliches und spielerisches Profil zeigen und sich als ernsthafter Musiker darstellen. Dieser Spagat wird von vielen Berufseinsteigern, gerade im Probejahr, als sehr belastend empfunden. 

Ein Problem hierbei kann sein, dass der Neuling, der technisch wahrscheinlich hervorragend ausgebildet ist – während bei den älteren Kollegen das Studium oftmals schon Jahrzehnte zurückliegt – eine spielerische Überlegenheit empfinden kann, jedoch sich seiner Defizite vielleicht gar nicht bewusst ist, da für das Orchesterleben so wichtige Faktoren wie Gruppenklang, Timing, relative Dynamik, Bewusstsein für die anderen Stimmen im Orchester et cetera im Studium nicht gelehrt werden. Eines der einfachsten Beispiele hierfür ist ein vom gesamten Streicherapparat gleichzeitig gespieltes Pizzicato: Wenn der junge Kollege dies ›ri
chtig‹ nach dem Schlag des Dirigenten spielt und dabei aber nicht mit seiner Gruppe zusammen ist, wird ihm dies als mangelhafte Musikalität und Aufmerksamkeit ausgelegt.« 

David Drop, 44, Vorspieler 2. Geige, Orchestervorstand und Sprecher des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin

»Wir werden eben alle als Solisten ausgebildet, aber irgendwann muss man – neu im Orchester – von einem Moment auf den anderen diese Individualität zurückschrauben; das ändert auch die Wahrnehmung von einem selbst. Natürlich gehören Reibereien innerhalb der einzelnen Instrumentengruppen zum Alltagsgeschäft, aber die wenigsten davon haben mit einem Generationenkonflikt zu tun. Vor 20 Jahren, als ich im Orchester angefangen habe, war das noch anders, damals gab es diesen Kampf um die Rotation im Tutti-Bereich, die heute eigentlich selbstverständlich ist.

Ich finde es immer sehr bedauerlich, wenn die Älteren sich von den Jüngeren bedroht fühlen, denn ohne die Erfahrung der Älteren ist die Technik der Jüngeren nichts wert. Der Schlüssel für beide Seiten ist einfach, offen zu bleiben. Das fällt manchen eben schwerer, anderen leichter.

Der Konkurrenzkampf ist generell härter geworden; und wenn sich jemand beim Wettbewerb um die Stelle einer 2. Geige Tutti erstmal gegen 200 Mitbewerber/innen durchsetzen muss, dann hinterlässt das eben Spuren. Diese Person hat dann ein dickeres Fell und urteilt vielleicht auch härter gegenüber gleichaltrigen Musikern. Auch die Älteren spüren diesen Leistungsdruck, zum Beispiel ist die Arbeitsbelastung rein quantitativ höher als früher. Manche gehen in Rente und könnten noch 10 Jahre spielen, andere altern halt schneller, und in den Fällen nehmen dann auch die Krankheitsfälle zu; da bildet das Orchester als Mikrokosmos nichts anderes als die gesellschaftlichen Prozesse ab. Da kommt dieses System an seine Grenzen, es fehlen aktuell Modelle, die Arbeit für ältere Musiker je nach Situation flexibler zu gestalten.«


Spielst Du in einem Orchester? Wie sind Deine Erfahrungen? Wir freuen uns auf Meinungen und Perspektiven im Kommentarbereich.

Orchestermusiker! Wir behandeln nächste Woche ein weiteres Thema, wollt ihr mit euren Erfahrungen beitragen? Eine E-Mail an info@van-verlag.com genügt, und wir nehmen euch in unseren Expedition-durch-die-Orchester-Verteiler auf.

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