Text · Datum 30.1.2019

Der Blick in die Klassikcharts an einem Nachmittag Ende Januar 2019 ist bezeichnend: Jonas Kaufmann, die Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann und Igor Levit stehen dort ganz oben, gefolgt von Sol Gabetta, Daniel Gerhaher, L‘Arpeggiata und Daniil Trifonov – mit Alben, die bei den Label-Riesen Sony, Warner und Universal erschienen sind. Sie spielen und singen überwiegend Musik von Bach, Schumann, Schubert, Rachmaninov, Chopin oder Mozart. Bekannte Werke, bekannte Gesichter.Mit ihrer gigantischen Reichweite und finanziellen Stärke haben die Majors enormen Einfluss auf das allgemein präsente Repertoire und den Erfolg bestimmter Künstler*innen. Was sie in Massen auf den Markt bringen, prägt das kollektive Musik-Gedächtnis.Spannend wird es jedoch, wenn man unter diese Oberfläche taucht – dorthin, wo Alben entstehen, die die Charts niemals erreichen werden, weil ihre Auflage schlicht zu klein ist. In Küchen, Cafés und Wohnzimmern in Köln, Berlin und Bern debattiert, tüftelt und wächst seit einigen Jahren eine neue Generation junger Klassiklabels heran, die sich von der Goliathkonkurrenz, vom Geldhaben und Geldmachen der Industrie nicht tangieren lässt. Eine Generation, die für die Kunst arbeitet, und das unter Umständen auf volles Risiko am Markt vorbei. Das ist so idealistisch, dass man sich verwundert die Augen reibt. Aber es ist wahr: Wir haben sechs von ihnen besucht.

Dies ist der erste Teil unserer Serie »Zukunftsmusik« über Visionen, Innovationen und die Frage: Die Idee ist gut – ist die Welt schon bereit?

Laut der aktuellsten Ausgabe der »Musikindustrie in Zahlen« sind 2017 4178 Klassikalben erschienen. Das sind rund elf pro Tag. Viel weniger als noch vor zehn Jahren, aber immer noch ziemlich viel, zu viel, wie manche sagen mögen. Sebastian Solte spricht von »Flut«. Sein Selfmade-Label bastille musique stellte von den 4178 Alben – zwei. Mitte Januar legt er sie in einer Berliner Salumeria auf den Tisch, zwischen Cappuccino und Tagesgericht: zwei zusammengetackerte naturfarbene Pappschachteln, deren Ober- und Unterseite jeweils mit einem weißen Aufkleber zusammengehalten werden. In serifenfreier schwarzer Schrift steht darauf der Albumtitel geschrieben: »5. Alexander Scriabin: Etrangeté. Yejin Gil« und »6. Franz Schubert: Lieder (live). Hans Christoph Begemann. Thomas Seyboldt«. Mehr nicht. Die Schlichtheit ist auffällig, hat etwas Radikales, Protestantisches: Sie zelebriert das völlige Sich-Abwenden von Knallfarben, Hochglanz, nackter Haut und Schnörkel. »Musik ist was für die Ohren«, sagt Solte. »Das Hören ist entscheidend, nicht das, was man sieht.«

Sebastian Solte
Sebastian Solte

Und so flüstert die junge Pianistin Yejin Gil auf einer dieser CDs die ersten Takte der Deux Poèmes op. 32 von Alexander Skrjabin ihrem Bechstein-Flügel so heimlich in die Tasten, als dürften nur Eingeweihte zuhören, dieser gedankenverlorenen Kantilene, die sich im Tanz mit sich selbst weltvergessen zu drehen beginnt. Gil lässt die Musik einmal tief Luft holen, bevor sie im weiteren Verlauf die gesamte Farbigkeit von Skrjabins Klavierwerk virtuos auffächert. Definitiv keine Musik, die im Hintergrund laufen kann. Vielmehr stößt diese Aufnahme die Hörer ellbogenspitz an, wenn sie doch mal unaufmerksam werden.

Mit Aufnahmen wie dieser und ihrer (Nicht-)Aufmachung will sich bastille musique der »Vermarktungs-Spirale« entziehen. Solte will Aufmerksamkeit bündeln statt zerstreuen, und ja, es sei »auch ein bisschen ein erzieherischer Aspekt dabei«. 1000 CDs umfasst bei ihm eine Auflage, von der sich der Großteil im Lager oder bei den Musikern befindet. Die Schubert-Lieder-Einspielung von Begemann und Seyboldt ist eine Ausnahme, erzählt er, sie müsse bald schon nachgepresst werden, verkaufe sich erstaunlich gut. Ein »Geschäft« im enzyklopädischen Sinne ist bastille musique wie die allermeisten anderen kleinen Klassik-Labels jedoch nicht. Für die ersten Auflagen ging Solte ins Risiko, finanzierte sie aus eigener Tasche vor. Mittlerweile fährt er die Produktionen über Mischkalkulationen, bei denen sich alle Beteiligten oder einige von ihnen einbringen: »Der Wirtschaftler würde sagen: diversifizieren. Man investiert ja.« Die Motivation dahinter ist dabei so einfach wie idealistisch: Guten, aber unbekannten Künstlern eine »Visitenkarte« zu geben, eine Aufnahme, die sie vorzeigen können. »Von solchen Leuten wie mir, schlecht bezahlten Managern, gibt es zu wenige da draußen«, sagt Solte. »Viele junge Musiker haben Ideen, wollen nicht unbedingt ins Orchester, gründen eigene Ensembles. Aber sie wissen nicht, wie man an Konzerte kommt, an Öffentlichkeit, an Publikum. Dabei ist es gerade am Anfang wirklich wichtig Aufnahmen zu machen.« Solte baute sich mit bastille musique ab 2012 eine eigene kleine Agentur auf, die genau da ansetzt: Er arbeitete mit dem Zafraan Ensemble, später mit der Opera Factory Freiburg und weiteren Künstlern. Aufnahmen herauszubringen wurde mit den Jahren immer zwingender, doch es gestaltete sich »extrem schwer, als Manager bei großen Labels anzurufen und unbekannte Künstler verkaufen zu wollen – das ist für die einfach nicht lukrativ.« Die mittelgroßen Labels, mit denen er in Kontakt trat, arbeiteten dagegen eher wie Dienstleister: »Man bekommt eine Summe genannt, die man auch bei einer fertigen Aufnahme noch draufzahlen muss, 7.000 bis 10.000 Euro. Und dann presst und vertreibt das Label das Album«, sagt Solte. »Das ist für viele Künstler eine Investition in die Karriere. Ich frage mich nur: Beide Seiten wollen kommerziell erfolgreich sein. Wenn diese Labels aber durch die Zahlung des Künstlers schon Gewinn gemacht haben, haben sie dann noch Interesse sich darum zu kümmern, dass das Album auch Erfolg hat?« Tatsächlich lagen einige Aufnahmen, die Solte später selbst herausbrachte, schon Monatelang wenn nicht bereits über ein Jahr bei anderen Labels auf dem Schreibtisch.

Die Hauptsache für ihn ist, neben der künstlerischen Qualität: dass sich im Katalog nichts doppelt. Unter den bisher erschienenen acht Releases finden sich unter anderem Gustav Mahlers 5. Sinfonie in einem Arrangement für Kammerensemble von Klaus Simon, Wolfgang Rihms Lieder nach Goethe und Schiller und Werke von Eres Holz, Johannes Boris Borowski und Stefan Keller, interpretiert vom Zafraan Ensemble. Gibt es von einem Werk schon reihenweise Aufnahmen, »braucht man einen Twist, der es besonders macht.« Bei den 2018 erschienenen Bach-Sonaten für Violine und Cembalo, die Petra Müllejans, Sabine Bauer und Marie Deller eingespielt haben, waren das der Ort und der Klang der Aufnahme: in der kleinen Köthener Schlosskapelle unter Tonmeister Jonas Niederstadt.

Jonas Niederstadt • Foto © Leif M und Benedikt Brandhofer
Jonas Niederstadt • Foto © Leif M und Benedikt Brandhofer

Niederstadt hat sich mit seinem eigenen kleinen Label Carpe Diem Records einen Namen als Klangkünstler gemacht: »Jedem der bislang veröffentlichten Projekte haftet der ›Touch des Besonderen‹ an«, urteilte der RBB in einer Rezension. In der Szene spricht man vom »Carpe-Diem-Sound«. Und es stimmt, Niederstadts Aufnahme für bastille musique hat durchaus einen besonderen Klang: luzide, pastellfarbig und intim. Bei erstaunlich wenig Hall klingt die Kontrapunktik dicht, aber trotzdem leicht und durchhörbar.

Jonas Niederstadt ist ein besonnener, ein leiser Mensch. Er trägt einen khakigrünen Rollkragenpullover und raspelkurzgeschorene Haare, bestellt sich zum Kaffee einen Karottenkuchen mit Sahne. Draußen ist es so klirrend kalt, dass die Äste der Bäume weißgefroren sind. Drinnen sprechen wir über die Aufnahme als Kunstwerk, über spanische Renaissancemusik und das aktuelle Album des amerikanischen Lautenisten und Komponisten Lee Santana, Dónde son estas serranas, das Niederstadt produziert hat. Er übernahm Carpe Diem Records 2008 von seinem Professor Thomas Görne und krempelte das Label vollständig um: das Design, den Aufnahmestil, die musikalische Ausrichtung. »Eigentlich habe ich nur den Namen übernommen«, sagt er. »Thomas Görne hat mit Carpe Diem seine Passion ausgelebt, und das mache ich auch.«

Mit den drei CDs, die 2018 erschienen sind, sei er dort angekommen, wo er immer hingewollt habe: »Musik aufzunehmen, die sich relevant anfühlt und weniger in Stilen, Konzepten und Regeln denkt. Ich wollte die Stilregeln immer weiter transzendieren und sie am Ende ganz zurücklassen.« Dónde son estas serranas ist das beste Beispiel: Das gesamte Album kreist um ein einziges spanisches Liebeslied, das in unterschiedlichen Arrangements und Neukompositionen durchdacht wird, durchdekliniert könnte man sagen – im kammermusikalischen Sprech des 16. Jahrhunderts, im elektronisch erweiterten Klang- und Stimmspiel Neuer Musik, in geradeaus getriebenen Soli zerstreuten Rocks, im traumverlorenen Schweben eines entrückten Freejazz. Und im Text. »Ich will mit meinen Aufnahmen gar nichts zeigen«, sagt Niederstadt. »Das Ganze ist wie ein Kunstprojekt. Es geht darum, wie Menschen und Musiker klingen, im ganzheitlichen Sinn.«

Die Alben finanzieren sich untereinander quer, »aber insgesamt verkaufen sich die Sachen so wenig, dass die Grundkalkulation immer bei Null beginnt.« Die Produktion müsse vorfinanziert sein, »vom Künstler, dem reichen Onkel, einem Sponsor« – oder eben durch Niederstadt selbst. Dónde son estas serranas lief über Crowdfunding. Oft kaufen die Künstler dem Label anschließend 400 bis 500 CDs von der Auflage ab, die 1000, seltener 2000 CDs umfasst. »Viele CDs liegen aber jahrelang im Lager«, sagt Niederstadt. Das Problem liegt für ihn in der Art und Weise, wie der Markt funktioniert: »Wieso sollten Leute an einem fertigen Produkt immer weiter verdienen?«, fragt er. »Ich bin einmal auf den Satz gestoßen: Ein Klempner, der dein Klo repariert, bekommt ja auch nicht jedes Mal Geld, wenn du die Spülung drückst.« Es müsse vielmehr in die Produktion investiert werden: Honorare für die Musiker, den Tonmeister und die Buchhaltung, Geld für das Studio, das Presswerk und den Vertrieb. Es sei ohnehin viel leichter, Menschen dazu zu bringen, im Vorhinein für eine Produktion Geld zu bezahlen statt im Nachhinein für ein fertiges Produkt. »Dann haben alle, die daran beteiligt waren, dran verdient. Und die CDs kann man dann verschenken.« Prinzip Crowdfunding. Prinzip Dónde son estas serranas. Prinzip Kunstwerk.

»Ein Künstler, der eines seiner Bilder verkauft, hat es dann ja auch nicht mehr im Atelier stehen.« Kaan Bulak sitzt auf einem schwarz gepolsterten Stuhl in seinem hohen Altbau-Büroraum. Das Licht ist schummrig und dunkelgelb, es wirft gezackte Schatten an die nackte rote Backsteinwand. Neben ihm tippt seine Geschäftspartnerin Lucilla Schmidinger immer wieder Worte in ein Macbook, das Apple-Zeichen leuchtet gleißend hell. Feral Note heißt das Label, das die beiden 2017 gegründet haben, auch hier, ähnlich wie bastille musique, komplett in Eigenregie, selfmade. Nur, dass Logo und Look, Webseite und Design ebenfalls selbst entworfen sind. Mit Fineliner hat Bulak den Schriftzug vor eineinhalb Jahren auf ein Papier gezeichnet und eingescannt. Feralnote.de ist edel wie das große, leere Berliner Altbaubüro: In weißer Schreibmaschinenschrift steht eine kurze Beschreibung auf schwarzem Hintergrund, Courier light, Kleinbuchstaben. Es folgen vier quadratische Kacheln, die die letzten Releases zeigen, in Schwarzweiß, dann ein Kontaktformular. 2018 © Feral Note. Die Musik, die hier erscheint, ist im weitesten Sinne elektroakustische Musik – aber weder rein klassisch, noch rein elektronisch. »Wir wollen Musik herausbringen, die einem einen Weg zeigt, von dem man nicht dachte, dass es ihn gibt«, sagt Bulak.

Lucilla Schmidinger und Kaan Bulak 
Lucilla Schmidinger und Kaan Bulak 

Als Komponist und Pianist wird er vom Fellowship-Programm bebeethoven gefördert, Lucilla Schmidinger arbeitet Vollzeit im Berliner Konzerthaus. Bisher läuft das Label auf eigene Kosten, nach Feierabend, am Wochenende, nebenher. Beinahe, erzählt Schmidinger, wären sie »mit Sebastian Solte in einem Büro gelandet«, sie lacht. Die deutsche Indie-Klassik-Labellandschaft ist dicht und quer miteinander vernetzt. Zu Konkurrenten werden sie untereinander dennoch nicht, dafür sind die einzelnen Profile zu speziell, zu unterschiedlich. Sie bedienen jedes für sich eine eigene Nische, auch im Vertriebsweg. So bringt Feral Note seine Releases zunächst ausschließlich Digital heraus und unter Umständen später auch physisch – dann aber als Schallplatte. Sebastian Solte stellt seine Produkte dagegen aus Prinzip nicht online (»Was von dem jeweiligen Erlös an die Künstler weitergereicht wird, ist viel zu wenig«), und Jonas Niederstadt, scheint es, ist es mittlerweile eigentlich egal: »Meine Sachen sind alle auf den großen Streaming-Plattformen«, sagt er. »Das hat aber reine Showcase-Funktion. Alle 40 Platten erwirtschaften auf Spotify zusammen 15 Euro im Monat.«

Dass Feral Note Alben, wenn physisch, dann auf Vinyl herausbringt, hat verschiedene Gründe: Kaan Bulak kommt aus der Elektronik-Szene, eine, in der die Platte nie tot war. Zudem sei die Haptik griffiger und schöner. Und: Vinyl als »ziemlich technikunabhängiger« Tonträger funktioniere seit langer Zeit auf die immer gleiche Weise. Schallplatten waren außerdem das einzige physische Medium, dessen Umsatz 2017 nicht fiel, sondern stieg: um 5,6 Prozent. Bulaks Album Impromptu erschien auf 64 180g-Schallplatten, jede von ihnen als handsigniertes Unikat. Nebeneinander gelegt ergeben die bedruckten Papphüllen ein Bild der Serie »Rockforms« des Künstlers Ali M. Demirel. Neuauflagen der Platten gibt es keine, die Künstler müssen für die nächste Auflage etwas vollständig Neues erschaffen. »Das ist das Konzept.« Deshalb spricht er auch lieber von »Sammlung« statt von »Katalog«. Eigentlich das totale Gegenteil des allverfügbaren Musikkonsums auf Spotify und Co.

Dirk und Tobias Fischer
Dirk und Tobias Fischer

Für die Musikindustrie in Deutschland war das Streaming jedoch die rettende Innovation. Nach dem absoluten Hoch im Jahr 1997, mit erwirtschafteten 2.308,5 Millionen Euro allein durch verkaufte CDs und weiteren rund 400 Millionen durch MCs und Platten versanken die Verkäufe in den Folgejahren in einem Loch. Erst mit der Gründung von Spotify im Jahr 2012 ging die Kurve erstmals wieder nach oben. Allein Warner machte 2018 darüber knapp eine halbe Milliarde US-Dollar mehr Umsatz als im Vorjahr 2017. Für alle kleineren Anbieter wird das Streaming damit aber quasi zum Nullsummengeschäft: »Das Geld kommt in den Pott«, erklärt Dirk Fischer, der 2015 sein Label solaire gegründet hat. Und der wird anteilig ausgezahlt: Wer viele Klicks hat, bekommt mehr Geld. Dabei sind die Dimensionen weitaus kleiner als man annehmen mag: Der Sommerhit Get lucky von Daft Punk wurde laut einer Recherche des Focus 2014 mehr als 150 Millionen Mal gestreamt, doch die Band soll dafür nur 26.000 Dollar erhalten haben. Genauso Lady Gaga: für eine Million Aufrufe von Poker Face gab es 150 Dollar.

»Als unbekannter Künstler kannst du bei Spotify noch viel heftiger scheitern als auf dem CD-Markt«, schließt Tobias Fischer, Labelpartner seines Bruders Dirk, daraus. Beide stellen sich mit ihren Produkten überzeugt gegen den Streamingtrend: »Es geht nicht ums Geld«, sagt Tobias Fischer. »Das Streaming unterbricht die Wertschöpfungskette aus toller Grafik, guten Booklettexten, der qualitativen Aufnahme – und dann landet man am Ende auf einer Seite mit furchtbarem Interface ohne diese ganzen Sachen.« Ist man auf Spotify präsent, quasi für den Hörer nur einen Klick entfernt und wird trotzdem nicht gehört, »dann ist man noch viel schlimmer irrelevant als je zuvor«. Für Dirk Fischer gibt es »für Künstler keinen Grund auf Spotify zu gehen, um etwas zu erreichen«, vor allem würde es sich für kleine Labels nicht lohnen. Ganz konsequent streamt er auch selbst nicht. »Wir machen dagegen die Erfahrung, dass es immer noch eine große Zahl von Menschen gibt, die Lust haben auf Inhalt, auf Dinge, die nicht unbedingt kommerziell sind«, sagt er. Das sind zum Beispiel die ausführlichen Booklets, die bei solaire manchmal den Umfang kleiner Bücher erreichen, und Künstler wie Sandro Ivo Bartoli, Jeffrey Roden und Ralph van Raat mit ganz durchmischtem Repertoire: Puccini, Liszt und Bach, Erik Lotichius und Nimrod Borenstein. Bisher sind bei solaire sieben solcher kommerziell eher wenig Erfolg versprechenden Alben erschienen. Die Künstler, mit denen die Fischer-Brüder arbeiten, kannten sie in den meisten Fällen vorher bereits persönlich, und hielten sie für so gut und ihren Beitrag für so wichtig, dass sie sich trotzdem mit ihnen ins Studio setzten. Die ersten beiden Veröffentlichungen stemmten sie sogar aus den privaten Rücklagen. Doch: »Wenn irgendjemand die Finanzierung so einer Aufnahme hinbekommen kann«, sagt Tobias Fischer, »dann sind es die Künstler. Ein junger Geiger in aufstrebender Karriere wird eher mal 15.000 Euro zusammen bekommen als ein Label.«

Stephan Cahen • Foto © Marco Borggreve
Stephan Cahen • Foto © Marco Borggreve

Mit zunehmendem Bekanntheitsgrad in Fallhöhe zur Größe des Labels kann das aber schwierig werden – Beispiel myrios classics. Tonmeister Stephan Cahen, der das Label 2009 gegründet hat, sitzt in Köln. Bei ihm nehmen Künstler auf, die man durchaus gut kennt, darunter das Hagen Quartett, Maximilian Hornung, Tabea Zimmermann, Julian Pregardien und Kirill Gerstein. Diese Musiker an den Produktionen finanziell zu beteiligen, sagt Cahen, könne er vergessen: »Ich will mich unabhängig machen vom Geld. Die Künstler haben bei mir großes Mitspracherecht, aber ich bin kein Auftragslabel. Entweder ich stehe dahinter, oder ich mach’s nicht.« Damit sei er schon öfter »am Bankrott vorbeigeschrappt.« Auch aktuell sehe es nicht gut aus: »Die Verkaufszahlen werden immer schlechter, und die digitalen Verkäufe kompensieren das nicht. Meine Sachen sind zwar bei Qobuz, Idagio und Apple Music zum Streaming verfügbar, aber der Umsatz ist gering.« Der einzige Ort, wo wirklich konstant CDs verkauft würden, sei das Foyer nach Konzerten. Junge Künstler, sagt er, machten das: Einen Stapel mitnehmen, sich hinstellen, signieren und verkaufen. »Meine Künstler tun das nicht.« Also greift Cahen auf verschiedene Vertriebe zurück – die wiederum Geld kosten.

Dabei begann alles so leicht: mit Aufnahmen mit Tabea Zimmermann und Alte Musik Köln, woraufhin sein Netzwerk über die Jahre wie ein Schokokuss im Vakuum wuchs und wuchs und immer mehr bekannte Künstler auf der Suche nach einem neuen Label bei ihm anklopften. Was sie sich von myrios erhofften? Größere Vertrautheit vielleicht, mehr Mitbestimmung, größere Freiheit? Ein kleines Phänomen ist myrios schon, möglicherweise ein Symptom: »Manche Künstler kennen es noch von den Major Labels, wo sie vorher waren, dass man irgendwo hingeflogen wurde und für die Aufnahme auch noch Geld bekommen hat. Die erkennen die Plattenbranche nicht wieder«, sagt Cahen. Bei ihm könnten sie sich immerhin »ein Stückweit verwirklichen«.

Graziella Contratto • Foto © Priska Ketterer
Graziella Contratto • Foto © Priska Ketterer

Noch ganz am Anfang steht derzeit ein junges Schweizer Label, das erst in diesem Monat mit einer Veröffentlichung sichtbar wird. Graziella Contratto ist Dirigentin, Musiktheoretikerin, Intendantin und leitet den Fachbereich Musik an der Hochschule der Künste Bern. Sie lehnt sich, mag man meinen, mit dem Titel ihres Labels – Schweizer Grammophon – direkt ein bisschen kess aus dem Fenster. Der Name aber soll im Grunde zwei Elemente thematisieren, auf die sich das Label fokussieren will: Musik aus der Schweiz einerseits und andererseits, wie Contratto sagt, »ein Hauch von Nostalgie mit dem Begriff des ›Grammophons‹.« Damit nämlich verbinde sie einen spezifischen Klang, »der zwischen Tradition und Rührbarkeit schwebt.« Aber sie lacht. Ein bisschen provokant sei der Labelname vielleicht schon.

Sie und ihr Mann, der Geiger und Tonmeister Frédéric Angleraux, wollen (Nachwuchs-)Musiker*innen, Ensembles und Orchestern »eine Art künstlerisches Package anbieten« und sie über den gesamten Prozess auf Augenhöhe begleiten: von der Auswahl des Repertoires und der stilistischen Deutung über die Aufnahme bis zur Veröffentlichung und zum Vertrieb – abgesehen davon, ihnen überhaupt erst einmal die Chance zu bieten, ein Album aufzunehmen. Es gehe um »künstlerisches Urvertrauen«, sagt Contratto, eines, »das keine Umwege braucht«. Auf den ersten Releases präsentieren sich die Labelgründer daher zunächst selbst als Künstler: Contratto dirigiert das MythenEnsemble in Mahlers 1. Sinfonie, und Angleraux spielt mit Raphaël Oleg Violin-Duosonaten von Honegger, Prokofieff und Ysaÿe.

Schon jetzt sei die Arbeit am Label »sehr intensiv«, sagt Contratto, aber schließlich reift auch hier ein Ideal: unbekannteres klassisches Repertoire und mehr Schweizer Komponist*innen und Interpret*innen. Zudem arbeitet Angleraux an einem besonderen Sound: »Das Klangbild soll nicht das perfekte, glatte, zusammengeschnittene Abziehbild sein, sondern eine neue Qualität haben: radikal sinnlich. So, als ob Sie beim Zuhören mitten im Ensemble sitzen würden, ganz nah am Instrument, an der Stromlinie der Komposition entlang«. So sollte auch beim Hörer CD-Qualität ankommen, sagt Contratto, auch online. »Ob Streaming aber die ideale Plattform für Klassik ist – da bin ich mir nicht sicher. Das Grammophon war ja auch ein Symbol der Wohnlichkeit …«

»Die CD wird aussterben«, sagt Sebastian Solte in der Berliner Salumeria, mit einem Tonfall als bestelle er noch freundlich Kaffee nach. Dass sich diese durchaus nicht ganz neue Prophezeiung bisher noch nicht bewahrheitet hat, ist für seine Annahme erst einmal egal. »Ich glaube trotzdem, dass Musik sich auch immer physisch verkaufen wird.« Dann befinde sich in der schlichten Papphülle eben keine silberne Scheibe, sondern ein Stick »oder ein Code, den man scannt«.

»Vielleicht eher ein Stick«, vermutet Jonas Niederstadt. Er nimmt eine seiner verpackten CDs in die Hand und dreht sie kurz zur Rückseite und wieder vor. Dann lacht er leise, nur ganz kurz. »Die sind schon schön …«, sagt er. Und fügt hinzu, nach kurzem Nachdenken: »Es geht nicht darum, ein Album zu verkaufen. Es geht darum, es zu haben.« ¶

… schreibt als freiberufliche Musikjournalistin unter anderem für die Zeit, den WDR und den SWR. Nach dem Musikstudium mit Hauptfach Orgel und dem Master in Musikjournalismus promoviert sie am Institut für Journalistik der TU Dortmund im Bereich der Feuilletonforschung.