Langsam füllt sich der Saal. Gold wohin das Auge reicht. Den emsigen Versuchen der Platzanweiserinnen und Platzanweiser, doch bitte keine Fotos und Videoaufnahmen zu machen, wird schon traditionell kein großes Interesse geschenkt. Die Generalprobe der Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Zubin Mehta im Goldenen Saal des Musikvereins ist restlos ausverkauft. Das mag einerseits am Comeback des Dirigenten liegen, der nach längerer Krankheit nun erstmals wieder in ›seinem‹ Zuhause auftritt, wo er vor 62 Jahren zum ersten Mal ein Orchester geleitet hat. Andererseits ist es ein zweiter Name, dessen Solodebüt mit den Wiener Philharmonikern aufhorchen lässt: Bejun Mehta, Countertenor an nahezu allen wichtigen Opernhäusern der Welt, ebenfalls Dirigent und Großcousin von Zubin.Auf dem Programm stehen drei Arien und die Symphonie No. 29 von Mozart, sowie Strawinskys Le sacre du printemps. Es ist faszinierend zu sehen, was für ein eingespieltes Team der 83-jährige Dirigent und die Wiener Philharmoniker bilden, die Mehta 1961 erstmals dirigierte und deren Ehrenmitglied er mittlerweile ist. Der über 30 Jahre jüngere Bejun Mehta gliedert sich scheinbar mühelos ein. Nach tosendem Applaus, der den Probencharakter der Generalprobe fast vergessen macht, strömt das Publikum nach draußen. Ich begebe mich in das Dirigentenzimmer, in dem Zubin und Bejun Mehta noch ein kurzes Gespräch mit dem ORF haben. Davor sammeln sich Menschentrauben. Befreundete Musikerinnen und Musiker mischen sich mit Fans und Studierenden mit Partitur unter dem Arm. Die meisten folgen den Aufforderungen eines resoluten Mitarbeiters des Musikvereins, den Bereich schnellstmöglich zu verlassen. Andere werden nach längeren Diskussionen mit einem beherzten Zugreifen vor die Tür geschoben. Die Stimmung gleicht dem Einlass eines beliebten Berliner Nachtclubs. Bejun Mehta erzählt später, dass es heute besonders viel Trubel hinter der Bühne gab. Dann öffnet sich die Tür.

VAN: Haben Sie beide zusammen schon mal ein Interview gegeben?

Zubin Mehta: Nein.

Bejun Mehta: Nein, das war heute das erste Mal. Also zuerst mit dem ORF und jetzt mit Ihnen. Wir hatten mal ein Publikumsgespräch zusammen in Israel, aber das war kein richtiges Interview.

Sprechen Sie beide nach einer Generalprobe noch über musikalische Korrekturen oder wird ab diesem Zeitpunkt alles so gelassen wie es ist?

Bejun Mehta: Ja, heute wurde das in fünf Minuten auf dem Gang geklärt. Wir sind beide Musiker, also kann man das ›short hand‹ machen. Das ist schnell vorbei und außerdem: An dieser Stelle bleibt ohnehin keine Zeit mehr, größere Dinge auszuarbeiten. Es muss irgendwie seine Bahn finden. Selbst wenn es jetzt noch ernstere Probleme gäbe – was nicht der Fall war – würde man sie nicht ansprechen, weil es besser ist, wenn das Orchester, der Dirigent und der Solist sich mit der Energie des Konzerts zusammenfinden.

Lernen Sie voneinander? Sie, Bejun Mehta, dirigieren ja auch…

Zubin Mehta: Er hat fast die ganze erste Probe dirigiert. Heute weniger…

Bejun Mehta: Naja, heute fast gar nicht. Das ist generell ein sehr schlechtes Benehmen von mir…

Zubin Mehta: Nein, das stimmt nicht. Das hat mir sehr geholfen, weil er die Stücke 500 Mal besser kennt als ich. Ich habe die drei Mozart-Arien zum ersten Mal dirigiert und er hat mir bei den Proben sehr geholfen.

Bejun Mehta: Er ist sehr freundlich, aber vor zwei Wochen musste ich genau diese Arien mit einem Orchester alleine vorbereiten, deswegen fließt das Dirigat jetzt fast von alleine. Und wir hatten so wenig Zeit…

Zubin Mehta: Und für die Wiener Philharmoniker war das heute auch neu.

Bejun Mehta: Stell dir vor: Die Arien waren für die Wiener Philharmoniker noch neu! Ich habe ein paar Bewegungen gemacht, nicht mit meinen Händen natürlich, aber Körperbewegungen – was auch nicht höflich ist – und ich musste ein paar Mal meine Hände einfach in die Taschen stecken, um mich zu zwingen, nur zu singen. Der Impuls, Singen und Dirigieren zu kombinieren, ist jetzt einfach stark in mir.


Zubin Mehta sitzt sichtlich amüsiert neben Bejun Mehta, schüttelt wohlwollend den Kopf und gibt dabei ein leises »ts ts ts ts« von sich. Er sieht ein wenig erschöpft aus. Direkt zu Beginn des Interviews hatte er angekündigt, dass er nicht lange bleiben werde, da er sich ausruhen müsse.


Sie, Bejun Mehta, haben die erste Hälfte des Programms, also die Arien und Mozarts A-Dur Symphonie, schon vor einem Jahr im Musikverein mit dem Württembergischen Kammerorchester gesungen und dirigiert…

Bejun Mehta: … ja, zusammen mit der Jupiter-Symphonie.

Zubin Mehta: Du hast die Jupiter-Symphonie dirigiert?

Bejun Mehta: Ja genau, die und die A-Dur Symphonie.

Zubin Mehta: Mit allen Wiederholungen?


Bejun Mehta zögert.


Zubin Mehta: Das musst du mal machen! Das Finale mit beiden Wiederholungen ist ein Mount Everest.

Strawinskys Sacre löste bekanntlich bei der Uraufführung 1913 in Paris einen Skandal aus. Sie haben 1981 in Tel Aviv mit dem Israel Philharmonic Orchestra als Zugabe das Vorspiel von Wagners Tristan und Isolde gespielt, wonach Sie unter Polizeischutz das Konzerthaus verlassen mussten. Was müsste man heute im Musikverein spielen, um eine ähnliche Aufregung zu erzeugen wie damals?

Zubin Mehta: (lacht) Sie wollen einen Skandal provozieren? Naja, ein Beispiel: Eines meiner ersten Konzerte hier im Musikverein war ein Schönberg-Abend mit Studenten, bei dem ich Pierrot Lunaire und die Kammersymphonie gespielt habe. Nach der Aufführung kam ein Professor zu mir, Polnauer [Josef Polnauer], ein Schönbergfreund, und der hatte eine Narbe über das ganze Gesicht. Er hatte die Uraufführung der Kammersymphonie 1913 im Brahms-Saal erlebt. Da wurde mit Flaschen und allem Möglichen geworfen… [Das als »Watschenkonzert« bekannt gewordene Konzert im Wiener Musikverein musste aufgrund von Tumulten im Publikum zwischen Vertretern der Zweiten Wiener Schule und Schönbergfreunden abgebrochen werden. Gespielt wurden u.a. Stücke von Anton Webern, Alexander Zemlinsky, Arnold Schönberg und Alban Berg. Gustav Mahlers Kindertotenlieder konnten nicht mehr zur Aufführung gebracht werden.]

Polnauer hat mir bei den Proben sehr geholfen. Nach dem Konzert stand in der Zeitung: erster Schönbergabend nach 50 Jahren. Das habe ich selber nicht gewusst. Auch Erwin Ratz, Präsident der [1955 gegründeten] Wiener Mahler-Gesellschaft, hat mich damals sehr unterstützt. 1956 hat die Mahler-Gesellschaft nur unter seinem Bett existiert, dort hatte er die Partituren. Mahler? Den kannte damals in Wien niemand. Ratz hat bei unserem Schönberg-Konzert auch den Saal bezahlt. Sonst hätte ich niemals das Geld gehabt.

Wenn man hier im Musikverein Popmusik oder außereuropäische Musik spielen würde, würde das funktionieren?

Zubin Mehta: Warum nicht? Ich habe jetzt mit dem großen Tablaspieler Zakir Hussain ein Konzert in Florenz dirigiert. Er hat ein Konzert für Tabla und Orchester geschrieben. Fantastisch. Das Orchester war einfach außer sich. Und das Publikum hat das akzeptiert, wie normal.

Zubin Mehta: Entschuldigen Sie bitte. Ich muss jetzt gehen.


Währenddessen hat er sich schon von seinem Ledersessel erhoben. Ein kurzes aber herzliches »Bravo, my dear!« in die Richtung von Bejun Mehta und weg ist er. Bejun Mehta entschuldigt sich nochmals und sagt, dass Zubin nach so einem Tag seine Ruhe brauche. Es wirkt, als würden sie aufeinander achtgeben. Direkt im Anschluss kommt der für den Rausschmiss verantwortliche Mitarbeiter des Musikvereins durch die Tür des Dirigentenzimmers. Er bringt Plakate, Grüße und Geschenktaschen: »Das ist von der wahnsinnigen Japanerin.« Bejun Mehta lächelt. Er weiß, dass die Formulierung unglücklich, aber der Aufsichtsdienst wichtig ist, ihm und Zubin Mehta ein wenig Freiraum zu verschaffen.


Holen Sie sich ab und zu Tipps von Zubin Mehta?

Bejun Mehta: Ich muss ehrlich sagen – und keiner wird das glauben – aber ich belästige Zubin überhaupt nicht mit dem, was ich als Dirigent mache. Er hat genug zu tun. Wenn ich allerdings eine Frage hätte, die nur er beantworten könnte, würde ich sie natürlich stellen. Aber bisher geht es von alleine. Außerdem bin ich mein ganzes Leben lang meinen eigenen Weg gegangen und das ist auch meine Art. Zubin wird von allen Seiten belästigt, da finde ich es ist wichtiger, auf der Familienseite zu bleiben. Wir musizieren ab und zu zusammen und das geschieht in einer konzentrierten Arbeitsatmosphäre, aber ansonsten läuft es familienmäßig und so ist es gut. Ich bin nicht darauf angewiesen, durch ihn Angebote von irgendeinem Opernhaus zu bekommen. Also können wir zusammen musizieren, ohne die Verwandtschaft zu zerstören. 

Countertenöre sind auf den großen Konzertbühnen – außer im Bereich der Alten Musik – solistisch nicht so etabliert. Sind Sie häufig der erste Countertenor, der mit einem großen Orchester zusammen musiziert?

Bejun Mehta: Hier bei den Philharmonikern bin ich der erste Countertenor überhaupt als Solist in einem konzertanten Programm, so wurde es mir zumindest gesagt – es ist also ›hear say‹. Vielleicht haben sie irgendwann einmal den Messias [von Händel] mit zwei Countertenören gemacht… In einem Jahr gebe ich einen Liederabend an der Mailander Scala, als erster Countertenor auf der Hauptbühne. Das ist natürlich eine große Ehre für mich, also wunderbar. Auf der anderen Seite zeigt es, dass Countertenöre immer noch Stufen nach oben zu erklimmen haben.

Wie wirkt sich dieses Gefühl auf der Bühne aus? Also dass man stellenweise immer noch als stimmlicher Exot wahrgenommen wird?

Bejun Mehta: Naja, ich habe es heute gemerkt: Als ich anfing zu singen, war die Qualität der Stille plötzlich eine andere. Das Publikum war eigentlich ziemlich laut – für eine Generalprobe ist das auch ok. Aber plötzlich – klick – war die Aufmerksamkeit da. Das hat natürlich ein bisschen damit zu tun, dass der Solist da war, aber auch mit dem Countertenor-Ding. Auf der einen Seite ist das natürlich schön. Aber auf der anderen Seite bin ich seit 22 Jahren im Geschäft und schon damals wurde gefragt: ›Was ist denn das? Das ist doch keine Frau, oder doch?‹, und alle fingen an, in den Programmheften zu blättern. Eigentlich müsste heute doch längst die Zeit gekommen sein, finde ich, dass alle erkennen sollten, was ein Countertenor ist. Es ist mittlerweile ein bisschen mühsam für mich, dass dieses Exoten-Ding fortbesteht; es muss doch irgendwann mal ein Ende haben. Letztlich sollte es einfach um Singen und Musizieren gehen.

Foto © Wiener Philharmoniker / Terry Linke
Foto © Wiener Philharmoniker / Terry Linke

Sie kommen wie Zubin Mehta aus einer sehr musikalischen Familie. Wie groß war der Druck, sich mit der Musik zu beschäftigen?

Bejun Mehta: [überlegt] Es gab keinen Druck… Ok, es gibt keine einfache Antwort auf die Frage. Es gab Zuhause keinen Druck als ich jung war. Es war alles ein Spiel. Dann habe ich als Sängerknabe angefangen zu singen und einige Platten gemacht als Solist, aber das war immer noch alles ein Spiel. Dann aber, als ich vor 15-20 Jahren anfing, als Countertenor ein bisschen bekannter zu werden, gab es ein bisschen Druck, weil ich das stimmliche Level meiner alten Stimme als Sängerknabe behalten wollte. Und dann das Mehta-Ding: Man will niemanden enttäuschen. Aber diesen Druck habe ich mir selbst gemacht, er kam von innen, nicht von außen. Das war in zwei Jahren erledigt. Dann gab es 15 Jahre lang gar keinen Druck, von keiner Seite. 

Aber wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich mich in dieser Woche zum ersten Mal wieder an das Gefühl von damals erinnert und so etwas wie Druck empfunden, weil ich eben mit der Familie musiziere und da kommen alle Wege zusammen. Man hat dann ein Sekündchen in der ersten Probe wo man denkt: ›Oh Gott!‹, aber das hat sich dann schnell gelegt, weil ich jetzt erfahren bin. Aber vor vier Tagen hatte ich das kurz. Vielleicht auch, weil Wien in meinem Leben eine große Rolle spielt. Meine Eltern haben einander in Wien kennen gelernt, mein Bruder hat das erste Jahr seines Lebens in Wien verbracht, ich habe meine fast 20-jährige Erfahrung mit der Wiener Oper, und Zubin ist Zubin. Daher fließen in den beiden Konzerten viele Wege zusammen. Jetzt macht es mir wieder Spaß, aber in der ersten Probe war es mir ein bisschen viel. ¶